Archive for August, 2008

Schlüsse

Sunday, 31. August 2008

smokingbigview

Heute endet mein Engagement beim Kulturblog der WAZ-Mediengruppe: Westropolis. Vor gut 17 Monaten, am 28. März 2007, habe ich dort meinen ersten Beitrag veröffentlicht, schon eine Woche später rückte ich in die kleine Gruppe der ständigen Gastautoren ein, seit September 2007 wurde meine Tätigkeit dort monatlich pauschal honoriert. Drei Beiträge pro Woche sollte ich laut Vertrag publizieren. Dies ist mein 349. und letzter Artikel für Westropolis. Neun Monate habe ich abgerechnet. Die Arbeitszeit pro Beitrag belief sich durchschnittlich auf vier Stunden. Überschlägig kam ich damit auf einen Stundenlohn von 2,50 Euro. Um des schnöden Mammons willen habe ich’s also gewiss nicht getan. Warum aber dann?

Bei meinem „Einstellungsgespräch“ am 27. März 2007 waren zwischen mir und der verantwortlichen Westropolis-Mitarbeiterin im Wesentlichen zwei Fragen zu klären. Erstens: Ob ich Vorbehalte hätte, als Blogger für einen Medienkonzern zu arbeiten? Bekanntlich gilt ja in weiten Kreisen der Blogosphäre ein solches Engagement als Verrat am libertären Geist dieses neuen Mediums. Solche Bedenken hatte ich zwar, aber ich stellte eine Gegenfrage: Würde ich bei der Wahl meiner Themen und ihrer Ausgestaltung, natürlich im Rahmen der gesetzlichen Grenzen („Keine Pornographie! Keine verfassungsfeindliche Propaganda!“), freie Hand haben? Nachdem dies bejaht wurde, ließ ich mich auf das Abenteuer Westropolis ein.

Ich habe diese Entscheidung nie bereut und bereue sie auch heute nicht. Mein anderthalbjähriger Gastauftritt bei Westropolis ermöglichte mir, Erfahrungen zu sammeln, von denen ich noch lange zehren werde. Das Kulturblog der WAZ gestattete mir großzügig, mancherlei auszuprobieren, mit Reizthemen zu experimentieren, meine teils provokanten Widersätzlichkeiten gegen den Zeitgeist öffentlich zu machen und die Grenzen der Toleranz auszuloten. Was mir dabei widerfuhr – von Kollegen, von Kommentatoren, von meinem „Arbeitgeber“ – das gäbe genug Stoff für ein lehrreiches Buch über diesen durchaus ja noch brandneuen Schauplatz des öffentlichen Diskurses.

Ein solches Buch werde ich jedoch gewiss nicht schreiben, es wäre ja schließlich ein formaler Anachronismus. Ich habe mich stattdessen darauf verlegt, am 24. März 2008 mein eigenes Weblog zu starten, in dem ich täglich genau einen Beitrag publiziere. Mein Blog wird bis heute von nahezu niemandem gelesen, aber es ist „worldwide“ präsent, nicht nur heute, sondern für alle Zukunft; oder jedenfalls so lange, wie die Webserver in aller Welt noch unter Strom stehen. „Das Web vergisst nie!“ In den Ohren der Paranoiker von Orwells Gnaden klingt dieser Satz wie eine schreckliche Drohung – in meinen aber, der ich nichts vor mir selbst und insofern erst recht nichts vor der Welt zu verbergen habe, ist er gleichsam die Garantie-Erklärung für den Triumph der Aufklärung im Posthistoire.

Das durchaus versöhnliche Fazit meiner Arbeit bei Westropolis lautet in zehn knappen Punkten: 1. Das war wohl nur ein Pilotprojekt für DerWesten, leider aber 2. ohne Pilot, mit einer 3. von Anfang an recht dilettantischen thematischen Struktur, die 4. anzupassen offenbar die Mittel fehlten, wie auch 5. ein engagiertes Management, das die Emphase und Energie aufgebracht hätte, die durchaus vorhandenen Potenziale über die Minimalvorgaben der Geschäftsführung hinauszuführen, geschweige denn 6. über deren vermutliche Bedenken, also 7. ein vorhersehbares (und auch vorhergesehenes) Scheitern, bei dem es 8. schließlich nun nur noch darauf ankommt, die Peinlichkeit in Grenzen zu halten, was 9. gewiss auch gelingen wird und das mir 10. für die Dauer meiner Teilnahme allerlei Illusionen beschert hat, die ich nicht missen möchte und deren schmerzvolle Zerstörung mich auf meinem Weg ein gutes Stück vorangebracht hat. So sage ich: Danke!

Stimmt so!

Saturday, 30. August 2008

trinkgeld

Die akribische und scharfsinnige Untersuchung unscheinbarer Einzelheiten und Kleinigkeiten unseres alltäglichen Lebens hat mich schon immer fasziniert. Das scheinbar Nebensächliche und Selbstverständliche unter der Lupe wissenschaftlicher Gründlichkeit zu betrachten, erschien mir oft interessanter als manche weit ausholende Darstellung vermeintlich großer und bedeutender Themen. Eine noch zu schreibende Kulturgeschichte des Schnullers würde mich eher in ihren Bann ziehen als Ratzingers Buch über Jesus von Nazareth.

Jetzt ist zum Preis von 7,90 € eine „Kleine Geschichte des Trinkgeldes“ erschienen, das ja bekanntlich in kleiner Münze entrichtet wird und insofern ein für die Gattung solcher hoch spezialisierten Monographien ideales Sujet liefert. (Winfried Speitkamp: Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes. Stuttgart: Reclam Verlag, 2008.) Der Buchhändler, dem ich zehn Euro für den schmalen Band auf den Zahlteller lege, wäre erstaunt und vielleicht sogar beleidigt, wenn ich die Zahlung mit einem „Stimmt so!“ kommentierte. Vielleicht würde er sich, nähme er dieses Trinkgeld an, sogar eines Verstoßes gegen den festen Ladenpreis im Buchhandel schuldig machen. Dabei ist das hier zu annoncierende Büchlein mir durchaus diesen aufgerundeten Preis wert – und den Service des Buchhändlers, es vorrätig zu haben und mir damit den zweiten Weg zur Abholung nach einer sonst nötigen Bestellung zu ersparen, würde ich ihm gern mit 2,10 € vergelten.

Wenn ich hingegen vom Essener Hauptbahnhof per Taxi nach Hause fahre und der Taxameter in der Messelstraße 7,90 € anzeigt, dann kostet es mich schon einige Überwindung, stur zu bleiben, wenn ich den Zehn-Euro-Schein gezückt habe und auf Herausgabe des Wechselgeldes bestehe. Dabei habe ich mich unterwegs darüber ärgern müssen, dass ich als Fahrgast ungefragt von den peinigenden Klangereignissen eines Radiosenders namens 102.2 Radio Essen belästigt wurde. Wäre ich nicht, wie wir alle, ein Sklave der gesellschaftlichen Konventionen, dann würde ich dem Chauffeur einen Fünf-Euro-Schein in die Hand drücken mit der trockenen Bemerkung: „Stimmt so! Der Rest ist Schmerzensgeld.“ Ich bin schon stolz, wenn es mir gelingt, auf Rückgabe von zwei Euro zu bestehen und durch das lächerliche Trinkgeld von zehn Cent meinen Unmut kundzutun.

Geld regiert die Welt – und der persönliche Umgang mit ihm sagt viel aus über das wirtschaftende Subjekt. Wie ich mit dem Geld umgehe, das ist mindestens so bezeichnend für meinen Charakter wie mein Verhältnis zu meinem eigenen Körper, zu meinen Mitmenschen, zur Sexualität oder zur Kultur. Und das Trinkgeld, das ein anarchisches Randphänomen der klassischen Ökonomie ist, wie die unrentable Spende an den mittellosen Bettler, eine Leerstelle in der sonst lückenlosen Buchführung bürgerlichen Effizienzdenkens, könnte das monetäre Prinzip unseres Wirtschaftslebens vielleicht ad absurdum führen, wenn man es in den Fußstapfen von Ratzingers biographischem Gegenstand unbefangen betrachtete.

Vielleicht sollte ich künftig, um mir die Qual der Entscheidung über die Höhe des Trinkgelds zu ersparen, grundsätzlich immer 30 Cent drauflegen, zur Erinnerung an die 30 Silberlinge des Judas Ischariot?

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Friday, 29. August 2008

crash

“Never change a running system!” Ich bin ein eifernder Fan dieser konservativen Grundhaltung, was meinen PC-Arbeitsplatz betrifft. Der Einwand meiner Söhne, dass man sich mit dieser biederen Einstellung niemals sinnvolle Innovationen nutzbar machen kann, mag ja berechtigt sein. Aber das Risiko, durch die Installation eines schnuckligen kleinen Tools mein ganzes fehlerfrei laufendes Arbeitsinstrumentarium aus dem Gleichgewicht zu bringen, ist mir einfach zu groß.

So könnte ich friedlich und ungestört vor mich hin werkeln bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wären da nicht die nervenden Update-Angebote, die mich ebenso regelmäßig wie ungefragt behelligen und mich in Versuchung führen, meine Prinzipien für einen schwachen Moment über Bord zu werfen. Neulich war es ein Java-Update, das sich bei jeder Anmeldung meines Rechners penetrant bemerkbar machte. ,Jetzt nicht!‘ So lautete Tag für Tag meine halbherzige Antwort, weil mir wohl schwante, was mir blühen könnte, wenn ich mich darauf einließe. Doch steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein – und vorgestern wurde ich schließlich schwach.

Jetzt haben wir den Schlamassel! Vermutlich unterlief mir ein kleiner Fehler, als ich das Update startete, um endlich Ruhe zu haben. Mein Internet-Security-Programm meldete sich nämlich und stellte mir ein paar höfliche Fragen: Ob ich dies und jenes wirklich zulassen wolle? Was ich darauf geantwortet habe, weiß ich leider nicht mehr so genau. Und seither ist mein Weblog plötzlich strubbelig.

Über jedem neu veröffentlichten Blog-Beitrag steht die kryptische Phrase < ![endif]–>. Mein als Word-Dokument in Times New Roman entworfener Text wird beim Kopieren in WordPress nicht mehr automatisch in die dort bisher von mir verwendete, serifenlose Schrifttype umgewandelt. Und selbst rückwirkend erscheinen die letzten fünf Beiträge plötzlich in Times und mit falscher Absatzformatierung. Zu allem Überfluss ist mein gesamtes Weblog, bis auf den Titel-Banner, via Internet-Explorer überhaupt nicht mehr darstellbar. Was tun?

Am ehesten könnte mir noch mein ältester Sohn aus der Patsche helfen, doch der weilt momentan in Istanbul, um sich die im Laufe der Jahrhunderte von Abermillionen barfüßiger Muslime und Touristen durchgelatschte Steinschwelle zur Hagia Sophia anzusehen, und kehrt erst in einer guten Woche nach Berlin zurück. Was das betrifft, lautet meine nicht minder konservative Lebensregel: „Reise nie! Bleibe im Lande und nähre Dich redlich!“ Aber auf mich will ja keiner hören. Es ist zum Knöchelchenspeien!


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Sanary-sur-Mer

Thursday, 28. August 2008

siemsensanary

Nachdem Hans Siemsen über die Schweiz Anfang 1934 ins Pariser Exil geflohen war, lernte er dort im Februar 1936 den 21-jährigen Walter Dickhaut kennen und verliebte sich in ihn. Gemeinsam mit Dickhaut schrieb er 1937 Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers, die dessen Erlebnisse in der Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP zum Thema hat. Ein deutscher Verleger fand sich für das Buch nicht, was Alfred Döblin im Frühjahr 1939 in einem Artikel in der Exilzeitschrift Das neue Tagebuch (Paris) beklagte. Im Jahr darauf erschien es dann in englischer Übersetzung (Hans Siemsen: Hitler Youth. Translated by Trevor and Phyllis Blewitt. With a foreword by Rennie Smith. London: Lindsay Drummond Ltd., 1940).

Ende 1938 hielt sich Siemsen in Südfrankreich auf. Möglicherweise besuchte er zu dieser Zeit erstmals das malerische Küstenstädtchen Sanary-sur-Mer am Mittelmeer, in der Nähe von Toulon, das sich in diesen Jahren zu einem Treffpunkt vieler deutscher und österreichischer Emigranten entwickelte. Die Liste jener Literaten, die auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hier eine vorübergehende Zufluchtstätte fanden, ist lang. Eine Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge eine Reihe prominenter und (zumindest heute) weniger prominenter Namen von Dichtern und Schriftstellern, Journalisten und Verlegern.

Hans Siemsens Name fehlt auf dieser Tafel. Verbürgt ist, dass er im August 1939 mit seinem Geliebten Walter in Sanary-sur-Mer Urlaub machte und dort Besuch von Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906-1984) erhielt, der im gleichen Jahr die “American Guild for German Cultural Freedom” gründete und sich später von seinem Exil in den USA aus für die Rettung verfolgter Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aus dem besetzten Europa einsetzte. Nach seiner vorübergehenden Internierung in den Lagern von Colombes bei Paris (Ende 1939) und Chambaran bei Lyon (Mai/Juni 1940) floh der inzwischen ausgebürgerte und somit staatenlose Siemsen mit Walter Dickhaut nach Sanary-sur-Mer ins unbesetzte Frankreich. Seine Pariser Wohnung wurde von der Gestapo ausgehoben, er verlor seinen gesamten Besitz.

Am 22. Januar 1941 berichtete Hans Siemsen aus Sanary in einem Brief an seinen Freund, den Schweizer Maler und Buchkünstler Max Hunziker (1901-1976), von seiner prekären Lage: „Max, wir leben noch, der Walter und ich. Es ist fast ein Wunder – aber wir leben. Seit Anfang August [1940] leben wir sogar zusammen. Nachdem wir elf Monate getrennt gewesen waren. Ich habe ein Visa für U. S. A. Walter wird eins bekommen. Nur – wie wir hingelangen und ob wir noch können, das wissen wir nicht. Alles, aber auch alles, was wir hatten, haben wir verloren. Nicht nur Kleidung und Wäsche, sondern auch Deine lieben Bilder – und alles andere, was wir lieb hatten. Wir führen ein sonderbares Leben. Jeden Tag und jede Nacht kann sich alles zum Guten – aber auch zum Allerschlimmsten ändern. Wir haben aber vorgesorgt und können rechtzeitig Schluß machen. – Ebenso gut aber ist es möglich, daß wir nach U. S. A. kommen. Für mich lohnt es sich kaum. Aber den Walter hätt‘ ich gern drüben und in Sicherheit. Er ist noch so jung. […] Laßt einmal von Euch hören. Charles Walter, Hotel Beauport, Sanary (Var.) – das genügt. Nichts weiter! Euch allen von Herzen alles Gute! Immer! Dein alter Hans.“ (Hans Siemsen: Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 257 f.) Unter dem Pseudonym „Charles Walter“ hatte sich offenbar Walter Dickhaut in Sanary angemeldet, während Hans Siemsen vorsichtshalber namentlich gar nicht in Erscheinung treten wollte. Im Februar 1941 begaben sich die beiden Freunde von Sanary-sur-Mer aus wieder auf die Flucht. Über Marseille und Spanien erreichten sie im März mit Hilfe von Varian Fry Lissabon, von wo aus sie im Juni auf der SS Guinee New York erreichten.

Ganz in Vergessenheit geraten ist Hans Siemsen an seinem Fluchtort Sanary-sur-Mer übrigens nicht. Am dortigen Place Albert Cavet betreiben noch die hochbetagten Geschwister Louis, Marcelle und Paulette Cavet die „Villa de l’Enclos“, fünf Reihenhäuser als Pensionsbetrieb für Feriengäste in einem kleinen Park. Sie erinnern sich noch gut an den Flüchtling aus Deutschland. Eines dieser Häuser bewohnte einst der deutsch-polnische Kunsthistoriker und Maler Erich Klossowski (1875-1949), Vater des Schriftsteller Pierre Klossowski (1905-2001) und des Malers Balthasar Klossowski, gen. Balthus (1908-2001). Und in einem anderen Haus fanden Siemsen und Dickhaut für ein paar Monate Unterschlupf. An dessen Fassade ist die Gedenktafel angebracht, die das Titelbild zeigt, mit einem Foto von Hans Siemsen im Profil, das ich sonst nirgends gefunden habe.

[Für die Informationen im letzten Absatz danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Gernot Lucas (Konstanz), der mir auch freundlicherweise das Foto der Gedenktafel zur Verfügung stellte.]

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Abgeschnitten

Wednesday, 27. August 2008

arcor

Mein jüngster Sohn hat seit ein paar Tagen ein neues Handy mit allem Schnick und Schnack. Aus Gründen, die mich nicht interessierten, fahndete er seither in meinen Papieren nach irgendwelchen Zugangsdaten und IPs für unser Wireless-LAN, nach seiner schlechten Stimmung zu urteilen erfolglos. Auch dies interessierte mich nur am Rande, bis ich gestern früh feststellen musste, dass ich von meinem Rechner aus nicht mehr ins Internet kam. Und auch die drei anderen PCs in unserem Haushalt konnten nicht mehr online gehen.

Keine E-Mails, kein Google, keine Wikipedia, kein Online-Schach – ich fühlte mich von einem Augenblick auf den anderen, als hätte man mir alle vier Extremitäten amputiert, mich zugleich geblendet, taub und stumm gemacht. Solche plötzlichen Aussetzer unserer überzüchteten technischen Hilfsmittel und Werkzeuge erinnern mich immer an meine Kindheit in den 1960er-Jahren, wenn der Fernseher seinen Geist aufgab. Dann wurde fieberhaft nach der Telefonnumer eines Reparaturdienstes gesucht: „Kein Bild, kein Ton? Ich komme schon!“ Geschah dies gar kurz vorm Wochenende, dann führte ein solcher Blackout zur familiären Katastrophe. Die Stimmung sank in den Keller, alle waren äußerst gereizt, jeder dachte an seine nun verpassten Lieblingssendungen, die Vorfreude wandelte sich in Verbitterung und die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit, bis die Kiste endlich wieder lief.

Noch früher gab es gelegentlich mal Stromausfälle, die besonders wirkungsvoll waren, wenn sie uns in den dunklen Abendstunden überraschten. Für diesen Fall lag in der Besenkammer eine Taschenlampe bereit, damit man wenigstens noch den Weg zum Klo fand, ohne sich den Kopf einzuschlagen. Die möglichen Ursachen dieser Unterbrechungen der gewohnten Versorgungsleistungen waren überschaubar: ein Kabelbruch bei Straßenbauarbeiten, eine durchgebrannte Bildröhre. Und um die Behebung des Schadens musste man sich auch nicht weiter kümmern, dafür gab es fachkundige Spezialisten. Allenfalls fielen Reparaturkosten an – aber die waren meist zu verschmerzen und alle Familienmitglieder atmeten erleichtert auf, wenn das elektrische Licht wieder brannte oder man sich wieder vor der Glotze versammeln konnte.

Warum ich nicht mehr ins Internet kam, das konnte hingegen tausend Gründe haben. Hatte bei den zahlreichen Gewittern in den vergangenen Wochen das NTBA im Keller Schaden genommen? Gab es Übertragungsprobleme oder eine Störung von Seiten meines Telefonanbieters? War der W-Lan-Rooter defekt? Hatte mein Sohn Veränderungen in der Rooter-Software vorgenommen, die er jetzt nicht mehr rückgängig machen konnte? Oder hatte ich mir etwa trotz Firewall einen Trojaner eingefangen? Die Ein- bzw. Ausgrenzung der verschiedenen Möglichkeiten kostete mich einen ganzen Arbeitstag und reichlich Nervenkraft. Zudem war die Fehlersuche stark behindert, weil wir ja eben nicht mehr im Internet recherchieren konnten. So biss sich die Katze in den Schwanz.

Ein hinzugezogener Experte aus dem Freundeskreis meines zweitältesten Sohnes machte sich am späteren Abend zu schaffen, während ich nur noch apathisch in der Ecke saß und schon alle Hoffnung hatte fahren lassen. Schließlich war der Computercrack an einen Punkt gelangt, von wo aus er nicht mehr weiterkam, obwohl er meinte, alles richtig gemacht zu haben. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den Monitor und sah auf Anhieb, dass der Name meines Telefonanbieters in einer Befehlszeile falsch geschrieben war. Ein „R“ fehlte. Das war’s. Seither funktioniert unser Internet wieder. Wer den Namen falsch eingegeben hatte, war nicht mehr festzustellen. Ich habe da aber so einen Verdacht.

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Blackout

Wednesday, 27. August 2008

blackout

Aus technischen Gründen heute kein Blog.

Olympia

Monday, 25. August 2008

bolt

Endlich ist auch dieses Spektakel wieder vorbei und die Bundesliga-Berichterstattung muss nicht länger ein Schattendasein auf den letzten Seiten des Sportteils meiner Tageszeitung fristen. Es ist ja nicht so, dass mich dieser populärste Mannschaftssport in seinen nationalen Begrenzungen mehr interessieren würde als der internationale Multimega-Event im Vierjahrestakt, bei dem die ganze Palette fein- und grobmotorischer Spezialisierungen der physischen Leistungsfähigkeit jener Primatenart namens Homo sapiens, der ich unglücklicherweise angehöre, in 302 Wettkämpfen medien- und werbewirksam dargeboten wird. Aber der gewöhnliche Fußballzirkus ist mir insofern lieber als das schaltjährliche Völkersportfest, als ich dieses nicht ganz ignorieren kann, während ich gegen jenen hinlänglich abgestumpft bin.

Laienhafte Leibesübungen und erst recht professioneller Sport erschienen mir schon immer als krankhafte Auswüchse menschlicher Allmachtsphantasien, die es nicht hinnehmen können, hinter der körperlichen Überlegenheit eines Leoparden, Elefanten, Kängurus oder Delfins zurückstehen zu müssen. Statt sich damit zu trösten, dass Homo sapiens seine vorübergehende Überlegenheit allein der exorbitanten Größe seines Zerebrums verdankt, bleibt dieser Flickschuster der Schöpfung nicht bei seinen Leisten, sondern sucht in Disziplinen zu reüssieren, deren Beherrschung ihm nun einmal nicht in die Wiege gelegt ist. Alfred Polgar hat über diese groteske Verirrung ein glanzvolles Feuilleton geschrieben, das ich mit meinem kleinen Hirn nicht zu übertreffen vermag. (Der Sport und die Tiere; in: Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984, S. 95-98.)

Mens sana in corpore sano? Wenn das stimmt, müssen wir uns mit der Widerlegung von Stephen Hawkings astrophysikalischen Theorien nicht länger beschäftigen. Fragen wir stattdessen besser Michael Phelps oder Usain Bolt, wo die „Schwarzen Löcher“ im Kosmos herkommen. Oder gleich den Delfin oder Leoparden? Die hehre Idee des Barons de Coubertin in allen Ehren, aber war sie deshalb so erfolgreich, weil sie zu Frieden und Verständigung unter den Völkern beigetragen hat, wie er es sich vor über hundert Jahren erträumte? Oder gründet ihr dauerhafter Bestand nicht vielmehr auf einer infantilen Sehnsucht unserer Art, dem Rest der Schöpfung auch ohne trickreiche Waffen und Werkzeuge die Stirn zu bieten?

Do Ping ist nicht der Name des chinesischen Ministers für volksrepublikanische Körperentwicklung, sondern eine Falschschreibung des Wortes, das für die vorläufig letzte Beschleunigung jenes olympischen Karussells sorgt, das ohne Rekordergebnisse zum rasenden Stillstand käme. Dabei unterscheidet sich doch die Verabreichung von EPO oder Anabolika nur graduell von den klassischen Methoden körperlicher Leistungssteigerung: der gezielten Selektion, den hochgradig spezialisierten Trainingsmethoden, der technizistischen Evolution von Schwimmtrikots, Sprintschuhen und Glasfiberstäben. Die verschämte Zurückweisung neuer Möglichkeiten der Perfektionierung menschlicher Körper ist kaum mehr als ein lästiges Bremsmittel auf dem Weg zu seiner zukünftigen Vermarktung.

Und überhaupt: Was werfen sich denn die gastgebenden Chinesen mit ihren 51 Goldmedaillen so in die Brust? Das ist doch nichts im Vergleich zu den 87 Goldmedaillen, die die 27 Staaten der Europäischen Union diesmal abräumten. (Bloß Luxemburg, Malta und Zypern gingen ganz leer aus.) Und erst recht darf man als Europäer mit stolzgeschwellter Brust aus dem „Vogelnest“ von Herzog & de Meuron schreiten, wenn man die Bevölkerungszahlen der olympischen Siegermächte gegeneinander hält. Auf eine Million Europäer kamen 0,57 Medaillen, auf die gleiche Zahl US-Amerikaner 0,36 – und die Chinesen brachten es gerade mal auf lächerliche 0,07. Wer triumphiert denn hier?

Siemsens Neffe

Sunday, 24. August 2008

karlannahans

Wenn man sich längere Zeit gründlich mit dem Lebenswerk eines nahezu vergessenen Autors beschäftigt, dann will man auch alles über sein Leben wissen – und nicht zuletzt, wie er ausgesehen hat. Im Falle von Hans Siemsen (1891-1969) ist die Quellenlage zu beidem allerdings äußerst dürftig. Ein Foto aus den jüngeren Jahren dieses Flaneurs schmückt das von Dieter Sudhoff zusammengestellte Hans Siemsen Lesebuch (Köln: Nyland Stiftung, 2003), doch hat der für die Umschlaggestaltung laut Impressum zuständige Robert Ward es so zurechtgestutzt, dass nur Siemsens linke Gesichtshälfte zu sehen ist. Dieser Buchkünstler hatte den zweifelhaften Einfall, aus zwei Siemsen-Porträts ein Ausrufezeichen zu formen. Den Strich bildet das halbierte Porträtfoto – und den Punkt darunter eine (auch im Buch auf S. 139 reproduzierte) Karikatur des älteren Siemsen von Benedikt Fred Dolbin.

So hoffte ich, in der Biographie der wesentlich bekannteren älteren Schwester des Dichters, Anna Siemsen (1882-1951), fündig zu werden, die der ebenfalls namhafte Bruder Dr. August Siemsen (1884-1958) verfasst hat. Dieses schmale Buch enthält aber, wie sich leider herausstellte, keine Fotos der Geschwister Siemsen, sondern ledigleich vier Bilder auf Tafeln von Anna. Auch zur Lebensgeschichte ihres Bruders Hans gibt es, außer der knappen Schilderung einer gemeinsamen Radtour im Jahre 1910 durch Holland (S. 29), nicht viel her. (August Siemsen: Anna Siemsen. Leben und Werk. Hamburg u. Frankfurt [am Main]: Europäische Verlagsanstalt, [1951].)

So hegte ich wenig Hoffnung, dass ein weiteres Erinnerungsbuch aus der Siemsen-Familie meine Neugier würde stillen können. Der wohl einzige Sohn von August Siemsen, Pieter Siemsen (1914-2004), hat kurz vor seinem Tod auf sein wechselvolles Leben zurückgeblickt und unter dem Titel Der Lebensanfänger seine Memoiren veröffentlicht. Wie groß war meine freudige Überraschung, als ich in diesem Buch kürzlich nicht nur ein ausführliches und aufschlussreiches Kapitel über Pieter Siemsens „Onkel Hans“ fand (S. 18-22), sondern auch gleich zwei Familienfotos, auf denen Hans Siemsen mit abgebildet ist. (Pieter Siemsen: Der Lebensanfänger. Erinnerungen eines anderen Deutschen. Situationen eines politischen Lebens: Weimarer Republik – Nazi-Deutschland – Argentinien – DDR – BRD. Berlin: trafo verlag dr. wolfgang weist, 2000.)

Bisher hatte ich mir Hans Siemsen als eher kleinen, korpulenten Mann vorgestellt. Wie ich mich zu diesem inneren Bild versteigen konnte, vermag ich beim besten Willen nicht zu erklären. Nun erweist sich [s. Titelbild, aus den 1920er-Jahren], dass er vielmehr groß und schlank war, seine Mutter Anna Siemsen, geb. Lürßen (1854-1931), weit überragte und auch deutlich größer war als sein älterer Bruder Karl Siemsen (1887-1968). Und auf dem zweiten Foto sieht man, dass Hans Siemsen, zumindest Mitte der 1930er-Jahre, Zigaretten rauchte.

Zum Verständnis und zur Bewertung von Siemsens Schriften trägt die Kenntnis seiner persönlichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten zwar kaum bei, handelt es sich doch bei solchen Äußerlichkeiten um bloße Akzidenzien der geistigen Erscheinung. Und doch fehlt mir etwas, wenn ich mir kein äußerliches Bild von einem Autor machen kann. (Thomas Pynchon, der sich diesem Bedürfnis seiner Leser konsequent verweigert hat und dennoch nicht verhindern konnte, dass ein Jugendbild von ihm veröffentlicht wurde, steht vor meinem inneren Auge nun bis auf weiteres da als der Mann mit den Hasenzähnen.)

Webstalking

Saturday, 23. August 2008

silbermoewe

In der Parallelwelt des Weblogs sammelt man als „Betreiber“ allerlei Erfahrungen, gute wie ungute. Es hält sich unterm Strich die Waage, wie im wirklichen Leben. Das gelobte Land der unbeschränkten Kommunikation entpuppt sich mitunter als ein engherziges Krähwinkel privater Denunziation. Beide Sphären sind für sich schon kompliziert genug. Wenn sie sich aber vermischen, kann es ungemütlich werden.

Nachdem ich bereits unangenehme Erfahrungen mit einer Westropolis-Kommentatorin machen musste, die ihre Sympathien und Antipathien wechselte wie Automysophobiker die Unterwäsche, und die mich, ohne je ein Wort in der realen Welt mit mir gewechselt zu haben, vom gemutmaßten Status eines „sehr geschätzten“ Autors im Handumdrehen zum lüsternen Blaubart degradierte, hat es sich nun offenbar eine andere Dame, diesmal aus meinem weitläufigen persönlichen Bekanntenkreis, in den Kopf gesetzt, durch mal mehr, mal (bewusst) weniger gut getarnte Kommentare zu diesem Weblog ihre albernen Spielchen mit mir zu treiben.

Im ersten Fall bekommt man es mit Phantomen zu tun, die die virtuelle Welt vorschnell für bare Münze nehmen und mit ihren wetterwendischen Phantasien Original und Fälschung nicht mehr auseinanderhalten können. Im zweiten Fall hat man einen Stalker bzw. eine Stalkerin am Hals, die es nicht verkraften kann, dass man ihr im realen Leben den Laufpass gegeben hat. So spielt das Leben, so wirkt die Kunst.

Offenbar will das Vögelchen, das da so viel Zeit aufbringt, sein gekränktes Mütchen im Schutz der Anonymität bei diesem Hase-und-Igel-Spiel an mir zu kühlen, sich selbst etwas beweisen. Aber was? Dass es das Stärkere ist? Dass sein zerstörerisches Potenzial es allemal aufnehmen kann mit meinem kreativen, dem ich hier zum Ausdruck verhelfen möchte? Na, diese Konkurrenz ist doch schon entschieden, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Es ist immerhin bemerkenswert, zu welchen destruktiven Anstrengungen sich Menschen in der virtuellen Welt des Weblogs verleiten lassen, weil ihr wirkliches Leben bei allen realen Herausforderungen offenbar fade bleibt. Da ist der Ehepartner, da sind die Kinder, da ist eine nach eigenem Bekunden reizvolle berufliche Tätigkeit, da ist das ererbte Portefeuille, das ein komfortables Leben gestattet – und dennoch: Langeweile! Ich könnte fast Mitleid empfinden, wenn es nicht so lästig wäre.

Baggesen

Friday, 22. August 2008

baggesens

Exzentriker, die zu Lebzeiten im Mittelpunkt des Interesses stehen, geraten anschließend umso schneller in Vergessenheit, während Exzentriker, von denen zeitlebens kaum jemand Notiz nahm, posthum zu Weltstars werden können. Die Vertreter der zweiten Kategorie, ich nenne nur Pars pro Toto Vincent van Gogh, kennt heute jedes Kind, wohingegen der einst weltberühmte dänische Artist und Jongleur Carl Emil Baggesen (geb. ~1863 Odense, gest. 21. Mai 1931 Thurö) nahezu spurlos aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, das sich fatalerweise inzwischen fast ausschließlich auf Google und Wikipedia beschränkt.

Auf Baggesen war ich durch zwei Feuilletons von Alfred Polgar und Hans Siemsen aus dem Jahr 1927 aufmerksam geworden. Das Internet gibt zu ihm so gut wie nichts her, aber wenn man die Fachleute fragt, bekommt man schon noch so einiges raus. Bevor er in den 1890er-Jahren seine Nummern mit dem stürzenden Tellerstapel und dem klebrigen Fliegenpapier ersann, trat Baggesen erfolgreich als Kontorsionist auf. So war er 1885 sechs Monate lang im sog. „Wellblech-Circus“ A. Krembser am Friedrich-Karl-Ufer in Berlin als „anatomisches Weltwunder“ zu sehen.

Solche „Schlangenmenschen“, die dank einer angeborenen oder durch hartes Training erworbenen extremen Gelenkigkeit ihre Körper zu ungewöhnlichen Figuren verbiegen können, waren schon damals sehr zahlreich im Schaustellergewerbe vertreten, die Konkurrenz war hart, selbst wenn, wie bei Carl Baggesen, noch die perfekte Beherrschung der Jonglage hinzukam. Erst durch eine außergewöhnliche Choreographie bzw. Dramaturgie, die außer durch die verblüffende Extremgymnastik auch noch als ästhetische oder humoristische Attraktion bestehen konnte, war Weltruhm zu erringen, was The Baggesens („1 Dame, 1 Herr“) unzweifelhaft mit ihrem „Laughing Hit“ sehr bald gelang. Zahllose internationale Engagements künden von ihren Erfolgen: Chicago 1895, London und Berlin 1898, Paris, Amsterdam, Hamburg, München, Nürnberg, Brüssel, Wien und Paris 1899, Berlin und Leipzig 1900, Frankfurt am Main, Breslau, Berlin, Kopenhagen 1901 – so beginnt die lange Liste der Auftritte und endet erst 1927, vier Jahre vor Baggesens Tod. Die stattliche, in würdevoller Haltung jonglierende Dame, die ihm auf der Bühne assistierte, war seine Ehefrau Sophia, die sich als Artistin Saphira nannte (geb. 1864, gest. 15. [?] Dezember 1943).

In seinen Erinnerungen schreibt der Berliner Varieté- und Zirkusagent Robert Wilschke über das berühmte Paar: „Einen Extralorbeer […] winden wir […] den Baggesens. Wer hat noch nicht über Baggesens gelacht? Ihre Szene spielte in der Küche, sie hantierten mit Tellern und Bergen von Geschirr, die immer in Gefahr waren, ihnen aus den Händen zu gleiten und dann auch in Trümmer stürzten. Wenn Baggesen in seinem alten, viel zu weiten Frack mit dem Berg von Tellern über die Bühne hatschte, wenn sich der Berg der Teller neigte und Baggesen durch Verrenkungen seines Körpers das Gleichgewicht wieder herzustellen suchte, dann ging schreiendes Lachen durchs Haus. Es schrien die Hausfrauen, die aus ihrem eigenen Etat wußten, was Teller kosten, es schrien die Kinder, es lachten die Männer aus vollem Halse – man kann wohl sagen, daß Baggesens die Nummer waren, über die in allen Häusern der Kontinente das schreiendste Lachen ausbrach. Die Tragikomödie zerbrechenden Geschirrs war etwas, was jeder irgendwie einmal an sich selbst erlebt hatte, darin lag das Geheimnis des Erfolges dieser Nummer. Dazu kam noch die heitere Episode mit dem Fliegenpapier. Hatte Baggesen wieder seine Teller in Unordnung gebracht, dann kam das Unheil des Fliegenpapiers, das sich an seine Finger klebte. Strich er’s von der einen Hand ab, klebte es schon wieder an der anderen. Hatte er die Hände davon befreit, klebte es am Rock oder an den Hosen oder am Gesicht, und schließlich war das Fliegenpapier schuld, daß die ganze Küche in Trümmer ging … Baggesens Nummer hatte der Zufall erfunden. Ursprünglich war er Kautschukmann. Als er einmal in einem Artistenrestaurant speiste, war er Zeuge, wie einem durchs Lokal gehenden Kellner ein ganzer Stapel von Tellern von den Armen rutschte. Der Anblick brachte Baggesen auf die Idee, eine Nummer daraus zu bauen. So entstand ein Welterfolg.“ (Robert Wilschke: Im Lichte des Scheinwerfers. Berlin: Kranich Verlag, 1941, S. 144 f.; daraus auch das Titelbild, Taf. XX.)

Eine Filmaufnahme der legendären Nummer, die vermutlich im Laufe der Jahre Millionen Menschen „zu Thränen der schrankenlosesten Heiterkeit“ rührte, wie es in einem Bericht von 1899 heißt, scheint leider nicht erhalten zu sein. So sind wir, wenn wir uns ein Bild von der komischen Wirkung der Baggesens machen wollen, auf einige wenige Schilderungen in den Werbetexten und Feuilletons jener Zeit angewiesen – und auf die Kraft unserer Phantasie.

[Für wertvolle Hinweise zu diesem Beitrag danke ich dem Sammler Martin Dahm (Düsseldorf) und Hermann Sagemüller vom Jongleurarchiv in Nördlingen-Baldingen; sowie Brigitte Aust vom Essener Markt- und Schaustellermuseum und Johnny Markschiess-van Trix (Berlin) für die Vermittlung.]

Märchen (I)

Thursday, 21. August 2008

mustafabush

In der Nacht auf den 28. Juli 2008 ereignete sich in einem Luxusapartment auf den Palm Islands in Dubai ein grausamer Mord. Die 30-jährige libanesische Popsängerin Suzan Tamim wurde durch zahlreiche Messerstiche getötet und anschließend verstümmelt. Der Täter entkam zunächst nach Ägypten, wurde dort aber bald gefasst, weil er am Tatort ein eindeutiges Beweisstück zurückgelassen hatte. In der kurzen Zeit, die er noch zu leben hatte, gestand Mohsen al-Sukkari der Polizei, dass er Suzan Tamim im Auftrag eines schwerreichen ägyptischen Geschäftsmannes umgebracht habe. Am 10. August wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden.

Heute rangierte der Artikel Tod einer Pop-Prinzessin von Ulrike Putz (Beirut) bei Spiegel online kurzfristig auf Platz 1 der „Most Wanted“-Artikel. Die Autorin beschäftigt sich darin eingehend mit der Frage, wer der ominöse Geschäftsmann war: „Anfangs sprachen die Teilnehmer der großen Talkshows im ägyptischen Fernsehen den Namen noch ganz offen aus. Etablierte Zeitungen wie der englischsprachige Daily Star erzählten die Gerüchte nach: Der mutmaßliche Mörder sei ein Bodyguard des Besitzers zahlreicher Luxus-Hotels gewesen. Es dauerte nicht lange, dann schritt Ägyptens oberster Staatsanwalt ein und verpasste der Presse einen Maulkorb: Keine Berichte über eine mögliche Verbindung des Mordopfers zu dem Unternehmer, der im ägyptischen Oberhaus sitzt. Trotzdem brodelte die Gerüchteküche – und die Kairoer Börse verzeichnete für seine Firma, die Hotels und Ressorts vermarktet, dramatische Kurseinbrüche. Der Kursverfall gehe eindeutig auf die ,anhaltende Berichterstattung über den Vorstandsvorsitzenden‘ zurück, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Händler an der Kairoer Börse.“ Nachdem sich Suzan Tamim von ihrem zweiten Ehemann, dem Popmusik-Produzenten Adel Matuk, im Streit getrennt hatte, floh sie zunächst nach Kairo, wo sie dem ägyptischen Immobilien-Mogul begegnet sein soll, der sie anschließend unter seine Fittiche genommen habe. Doch vor etwa acht Monaten sei auch dieses Verhältnis in die Brüche gegangen. Daraufhin flüchtete sich Tamim nach Dubai, wo sie zuletzt bis zu ihrem gewaltsamen Tod wieder erfolgreich als Sängerin in Clubs auftrat.

Nachdem der Spiegel sich selbstgefällig einerseits über die „Klatschreporter der arabischen Welt“ ausgelassen hat, von denen seine Korrespondentin Ulrike Putz doch den größten Teil ihrer „Informationen“ bezieht; und nachdem der Spiegel andererseits die Zensur in Ägypten anprangert, die es möglich macht, den scheinbar guten Namen eines der mächtigsten Männer des Landes aus der Sache und aus den Medien herauszuhalten, obwohl es  gute Gründe gibt, seine Beziehungen zu dem Mordopfer öffentlich zu hinterfragen – erwartet man nun doch vom Spiegel, wir sind hier schließlich nicht in Ägypten, dass er seinen Lesern den Namen dieses Mannes verrät. Das tut er aber nicht. Und da drängt sich die Frage auf, warum der Spiegel sich in diesem Punkt eine solche, gelinde gesagt: befremdliche Zurückhaltung auferlegt, zumal es relativ einfach ist, dieses kleine Rätsel zu lösen. Man findet den Namen dieses „Egyptian businessman“ z. B. in einem Artikel der gulfnews vom 12. August und auch in dem englischsprachigen Wikipedia-Artikel über Suzan Tamim. Er lautet Hesham Talaat Mustafa.

Mit diesen 19 Buchstaben kann der interessierte Leser nun weiter googeln und findet dann sehr bald einen aufschlussreichen Artikel von Barry Rubin in Heartland über die Muslimbruderschaft, in dem es über deren Aktivitäten in Ägypten heißt: “To carry out their operations, the Brotherhood groups are reasonably well funded. Their money seems to come from four major sources. First, rich adherents to the movements give donations. This is especially true of Egyptians who emigrated to Saudi Arabia or Kuwait and became rich there. One of the main Islamist Egyptian businessmen is Hisham Talaat Mustafa who is partner of the Saudi billionaire Prince al-Waleed ibn Tata’al al-Saud Saud.” [Hervorhebung von mir.]

Die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft ist eine der einflussreichsten islamisch-fundamentalistischen Bewegungen im Nahen Osten. Alle militant islamistischen Gruppierungen der Gegenwart, von der Hamas über die al-Dschama’a al-islamiyya bis hin zu al-Qaida sind ursprünglich aus der Bruderschaft hervorgegangen bzw. haben sich von ihr abgespalten. Wirklich interessant könnte es für einen investigativen Journalisten der freien Welt sein, die Gunst des Zufalls zu nutzen, dass ein trotteliger Auftragsmörder ein „eindeutiges Indiz“ am Tatort zurückließ, um an diesem Fall mehr zu enthüllen als das traurige Schicksal einer Pop-Prinzessin. Beim Spiegel aber werden offenbar nur noch Klatschreporter beschäftigt, zu dumm oder zu feige, um sich mit der rauen Wirklichkeit zu befassen. Und denen als Schlusssatz kein besserer einfällt als dieser: „Es ist ein Märchen.“

Summertime ’69

Wednesday, 20. August 2008

woodstockhavens

Ende Juli, Anfang August machte unsere kleine Familie zum letzten Mal Urlaub in Noordwijk aan Zee. Bevor wir mit unserem weißen Ford Taunus in Richtung Holland aufbrachen, erlebten wir noch am 21. Juli um vier Uhr in der Frühe wie 500 Millionen Menschen in aller Welt vorm Fernseher die erste Mondlandung: “That’s one small step for a man, one giant leap for mankind!” Zehn Tage vorher hatte ich meinen 13. Geburtstag gefeiert, nun freute ich mich auf Sonne, Strand und Meer.

Wie üblich wohnten wir im Hotel Op De Hoogte, ganz in der Nähe der Tennisanlage und nicht allzu weit vom Strand entfernt. Ich erinnere mich, dass mein Vater, es muss am Vormittag des 10. August gewesen sein, wohl zum ersten und einzigen Mal eine Bild-Zeitung kaufte, weil die WAZ überall ausverkauft war. In riesigen Lettern wurde ein schrecklicher, fünffacher Mord in Kalifornien bekannt gegeben. Das prominenteste Opfer war die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate. Der Hausbesitzer, ihr Ehemann Roman Polanski, hielt sich zur Tatzeit in Europa auf.

Bei unserer Heimkehr nach Essen wenige Tage später fühlte sich mein Vater unwohl. Er konnte nach Ablauf seines Urlaubs nicht an seinen Arbeitsplatz bei der Ruhrgas zurückkehren und musste sich zum ersten Mal in seinem Leben von unserem Hausarzt krank schreiben lassen. Im Februar dieses Jahres hatte er bei bester Gesundheit seinen 43. Geburtstag gefeiert, im Jahr zuvor hatte er, kurz bevor dies infolge der „Trimm-dich!“-Kampagne in den frühen 1970er-Jahren zum Massentrend wurde, auf der Schillerwiese sein Goldenes Sportabzeichen „gemacht“ und sich vorher einem allgemeinen Gesundheits-Check unterzogen, der keinerlei körperliche Beeinträchtigungen ergeben hatte. Nun lag er im Bett und schlief.

Am 15. August eröffnete Richie Havens mit Motherless Child nahe der Kleinstadt Bethel im amerikanischen Bundesstaat New York jenes legendäre Open-Air-Festival, das unter dem Namen „Woodstock“ als Höhepunkt der Hippie-Bewegung in den USA in die Geschichte eingegangen ist. Seinen Refrain („Freedom“) wird niemand vergessen, der damals jung war und sein Herz seither nicht verkauft hat. Als Jimi Hendrix am frühen Morgen des 18. August mit Hey Joe das Festival ausklingen ließ, lag mein Vater schon im Krankenhaus und wartete auf eine Notoperation.

Da war aber nichts mehr zu machen. Am Mittwoch, dem 20. August, ging ich mit meinem Cousin Jörg ins Kino. In seiner Nachmittagsvorführung zeigte das Filmstudio im Glückaufhaus Ken Annakins Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten (1965). Ich schüttete mich aus vor Lachen und kam in bester Laune heim. Meine Mutter brachte es nicht übers Herz, mir am gleichen Tag noch die traurige Nachricht zu überbringen, die mich am nächsten Morgen dann wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ich hatte keinen Vater mehr.

[In memoriam Hans Heinz Heßling, gen. „Hanno“, geb. am 1. Februar 1926, gest. am 20. August 1969.]

Spiel (I)

Tuesday, 19. August 2008

hahnenkampfbusch

Partie in der „Schacharena“, rdtd80 – Revierflaneur (18.08.08, 13:56 bis 14:12 Uhr): 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-c4. Das ist die Italienische Partie, auch bekannt als Giuoco Piano. Sie wurde bereits im 15. Jahrhundert in der Göttinger Handschrift (Philos 85) erwähnt und zählt damit zu den ältesten dokumentierten Schacheröffnungen überhaupt. Die üblichen Erwiderungen sind 3. … Lf8-c5, 3. … Sg8-f6 oder gelegentlich noch die Ungarische Verteidigung mit 3. … Lf8-e7 (ECO-Code C50-C59).

Wie man erfahrungsgemäß dann weiterspielt, das wissen die starken Spieler in dieser Arena besser als ich. Ich habe nie den Fleiß aufgebracht, das kleine Einmaleins der Schacheröffnung zu pauken, vom großen ganz zu schweigen. Darum versuche ich vorzugsweise mein Glück mit Varianten, die man weder hier noch dort findet und wähle in dieser Situation öfter mal die gewiss längst widerlegten Züge 3. … Sg8-h6 oder wie in diesem Fall 3. … Dd8-f6, mit denen ich durchaus schon Erfolg hatte. Nachteilig ist, dass die Dame in dieser Position schnell in Gefahr geraten kann, dass das Feld f6 für den Sg8 verstellt ist und dass Weiß seine Dominanz im Zentrum weiter ausbauen kann. Der einzige für mich entscheidende Vorteil besteht darin, dass Weiß schon in dieser frühen Phase gezwungen ist, die vertrauten Pfade der Eröffnungsroutine zu verlassen, was viele Spieler mit ELO-Werten unter 1500 offenbar irritiert. (Ich selbst trat diesmal mit einem ELO von 1434 an, mein Gegner hatte 1475 ELO-Punkte.) Danach folgten 4. Sb1-c3 Sg8-e7 5. Sc3-b5.

Das sieht bedrohlich aus, denn nach 6. Sb5-c7 † droht der Verlust des Ta8. Der Bauer c7 muss also verteidigt werden, was nur durch den König möglich ist, mit Preisgabe der Rochade: 5. … Ke8-d8 6. Sb5-c3 Sc6-b4. Dies schien mir nötig, um der Dame einen Fluchtweg auf der 6er-Reihe zu eröffnen und 7. Sc3-d5 zu verhindern. 7. a2-a3 Df6-c6 8. Lc4xf7. Auch nach 7. Lc4-b5 hätte ich den Sb4 nicht mehr retten können. So aber kann ich immerhin mit einem Entwicklungszug dem Lf7 den Rückweg versperren: 8. … d7-d5 9. a3xb4. 9. … d5-d4. 10. Sf3xe5. Weiß hat einen Bauern und einen Springer kassiert und steht scheinbar deutlich auf Gewinn.

Aber jetzt findet die bedrohte Dame ein Feld, auf dem sie sich pudelwohl fühlt: 10. … Dc6-f6 – und im Handumdrehen sieht die Welt für Schwarz viel freundlicher aus. Drei weiße Figuren (Sc3, Se5 und Lf7) sind gleichzeitig angegriffen, nur der Läufer ist (noch) gedeckt. Weiß gerät unter Druck und greift mit der Dame ins Spielgeschehen ein: 11. Dd1-h5. Doch auch so ist der Se5 nicht mehr zu retten: 11. … g7-g6 12. Lf7xg6 h7xg6 13. Dh5-f3 Df6xe5 14. Sc3-a4. Nicht noch den zweiten Springer verlieren, sagt sich Weiß. Aber zur Ruhe kommt er auf a4 noch nicht: 14. … b7-b5 15. Sa4-c5 Se7-c6.

Weiß ist offenbar durch die überraschende Wendung des schon gewonnen geglaubten Spiels aus dem Gleichgewicht gebracht und meint, nun dringend etwas für die eigene Sicherheit tun zu müssen – ein verhängnisvoller Fehler: 16. 0-0. Vielleicht will der Gegner mich unbewusst auch damit ärgern, dass er mich jetzt daran erinnert, mir schon mit seinem 5. Zug die Rochade verbaut zu haben. Doch jetzt folgt 16. … De5xh2 matt. (Besser gewesen wäre z. B. 16. Sc5-d3 oder 16. d2-d3.) – Ein blinder Hahn findet auch mal ein Korn. Und seine Chancen steigen, wenn er sich vom zentralen Futtertrog des sehenden Geflügels fortbegibt. Wie lautet doch noch gleich mein Motto? Kleine Schritte weg von der Mitte.

[Titelbild von Wilhelm Busch aus Der Hahnenkampf. Zuerst erschienen in: Münchener Bilderbogen (1862).]

Romane lesen?

Monday, 18. August 2008

romanflut

Der große Alfred Polgar hat einmal in einem seiner unnachahmlich konzisen Bravourstücke nur vermeintlich kleinmeisterlicher Kurzprosa bekannt: Ich kann keine Romane lesen (zuerst erschienen in Der Tag, Wien, 4. April 1926; hier zit. nach: Kleine Schriften. Bd. 4: Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984, S. 259-263). Und seine knappe Erklärung dieses persönlichen Unvermögens ist, gerade für einen Romanvielleser wie mich, tatsächlich bezwingend.

Eingangs führt Polgar uns erbarmungslos vor Augen, dass es auf der Welt „entschieden zu eng“ ist. Wohlgemerkt: Das konstatierte er bereits vor gut acht Dezennien; um wieviel mehr gilt es heute? „Es gibt sehr viele Menschen auf dem Planeten Erde – alle, natürlich, sollen gesund sein und leben bis hundert! – in China allein hausen eine halbe Milliarde, und das so dreieckige wie dreckige Zimmer im XVIII. Bezirk, wo mein Schuster Potzner mit Familie wohnt, beherbergt sechs Personen.“ Ganz aktuell, was die Zahlen und Fakten betrifft, ist Polgars Text zwar nicht mehr, wie man hieran schon sieht. Denn heute hausen in China bereits 1,321 Mrd. Menschen, weit mehr als doppelt so viele, trotz der dort seit 1980 konsequent verfolgten Ein-Kind-Politik. Was die Folgen aus Polgars längst veralteten Voraussetzungen angeht, ist er aber nur umso aktueller. (Nebenbei – und bei Polgar offenbart sich ja nicht selten die Hauptsache in einem solchen „Nebenbei“ – erklärt er uns, warum er „furchtbare Angst“ vor dem Kommunismus hat. Auch da sind wir mittlerweile einen Schritt weiter. Wir wissen, ohne durch diese Erkenntnis glücklicher geworden zu sein, dass Polgars Angst begründet war.)

Und so fährt der Meister fort: „Doch das führt ab von Weg und Ziel dieser Betrachtung. Eigentlich wollte ich sagen, daß der Mensch, obwohl er oft, ich zum Beispiel, wirklich gar nichts dafür kann, erschütternd viele Menschen kennt. Indem du lebst, setzt sich Bekanntschaft an wie Zahnstein, und die Laden deines Bewußtseins füllen sich mit Sachen der Nebenmenschen wie die deines Tisches mit Briefmüll. Man sollte jene ausräumen können gleich diesen. Aber das Leben rieselt jeglichen Tag, und auf nein und nein hat es dich ganz versandet und verschüttet. In tausend Schicksale bist du durch Neugier, Gefühl, Nötigung hineingeknüpft, tausend Atem wehen Hauch und Sturm in deine Segel, immer schreckhafter wird die unentrinnbare Vision von Figuren, Gesichtern, Stimmen, die deine Szene hintergründig abschließt.“ (Ebd., S. 260 f.) Dies alles ist mir nur allzu vertraut. Und nun stellt Polgar die ketzerische, bohrende, unabweisliche Frage: „Und da soll man Romane lesen?“

Ja, warum eigentlich? Hat man denn noch nicht mehr als genug Ablenkung vom Eigentlichen des Eigenen durch das quirlige Tohuwabohu der frei- und unfreiwilligen Sozialkontakte, wie der moderne Begriff für diese alte, strapaziöse Unübersichtlichkeit lautet? „Bei dieser Übervölkerung des Bewußtseins,“ so Polgar weiter, „noch Leute hineinzulassen, die gar nicht sind oder waren? Dem bis zum Niederbrechen in Anspruch genommenen Interesse für das Leben, seine Figuren und Schicksale, auch noch konstruiertes Leben, erfundene Figuren, zusammengelogene Schicksale aufladen? Wie, bei dieser schrecklichen Antlitze-Inflation, die das Dasein ohnehin mit sich bringt, soll ich noch Antlitze aus der Phantasie-Münze des Romanschreibers in meinen geistigen Umlauf setzen? Zubauen statt abbauen?“ (Ebd., S. 261)

Alfred Polgar hat Recht – aber cum grano salis. Ganz möchte ich auf die Gegenwelt der Romanfiktion nicht verzichten. Allerdings bin ich sehr wählerisch geworden. Vom unüberschaubaren Personal der aberhundert Romane, dem ich in meinem langen Leserleben Zutritt zu meinem Bewusstsein gewährte, sind nur sehr wenige Antlitze noch deutlich erkennbar. Neben diesen allerdings verblasst manche Fratze, die mir im wirklichen Leben in den Weg trat. Und gelegentlich baue ich diesseits ab, um für die jenseitigen Figuren und Schicksale eines Romans Raum zu schaffen. Und außerdem, lieber Bruder Alfred: Sind nicht auch die Schicksale vieler realer Nebenmenschen zusammengelogen? Unwirklicher und bedeutungsloser als eine wahre Erfindung? Eine Real-Münze zwar, für die ich mir aber dennoch nichts kaufen kann?

Demokratie

Saturday, 09. August 2008

zensur

Ich hätte „die Möglichkeiten diese[s] demokratischen Kommunikationsmodells nicht zu nutzen gewußt“, meint per E-Mail meine Ansprechpartnerin bei Westropolis, indem sie mir mitteilt, dass mein zum 31. August auslaufender Vertrag mit der WAZ NewMedia GmbH & Co. KG nicht verlängert wird. Warum? Weil „wir uns bezüglich Ihres konfrontativen Kommentarstils nicht verständigen konnten“ und „aufgrund der Entwicklung der letzten Wochen“.

Da fällt mir ja ein Stein vom Herzen! Komischerweise erinnert mich die Begründung für diesen Rausschmiss an das Parteiausschlussverfahren gegen Wolfgang Clement. Aber nur ganz von Ferne, nämlich weil in diesem Zusammenhang neulich ein Satz des früheren SPD-Politikers Heinrich Albertz zitiert wurde: „In einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, wird man sich daran gewöhnen müssen, dass manche den Mund auftun, wenn sie es für richtig halten, und auch Zeitpunkt und Ort ihrer Äußerungen selbst bestimmen.“

Nun konnten sich die Verantwortlichen bei Westropolis offenbar nicht daran gewöhnen, dass einer ihrer Gastautoren immer mal wieder, auch als Kommentator zu fremden Beiträgen, seinen Mund auftat und offen seine unbequeme Meinung sagte, dabei auch die Konfrontation mit anderen Gastautoren und Kommenatoren nicht scheute, insofern die Möglichkeiten dieses demokratischen Kommunikationsmodells nicht bloß nutzte, sondern voll ausschöpfte.

Im Unterschied zu Wolfgang Clement habe ich mich allerdings zu keiner Parteiraison verpflichtet, als ich am 7. August 2007 meinen Honorarvertrag mit der WAZ NewMedia GmbH & Co. KG unterschrieb. Verpflichtet fühlte ich mich ausschließlich meinen eigenen Ansprüchen an journalistische Qualitätsstandards, meinen politischen und ästhetischen Überzeugungen und meinen vertraglich vereinbarten Aufgaben. Dieses Selbstverständnis befremdete offenbar nicht nur die an allerlei Loyalitätsversprechen gebundenen Journalisten der WAZ-Mediengruppe, die hier neben ihrer schweißtreibenden Tätigkeit für die Printmedien noch als Blogger zwangsverpflichtet wurden, sondern auch manchen Leser und Kommentator, der es nicht gewohnt war, für seinen öffentlich gemachten Blödsinn öffentlich Spott zu ernten.

Dass ich schon recht bald, und keineswegs erst in den letzten Wochen, die Grenzen der Möglichkeiten dieses „demokratischen Kommunikationsmodells“ erfuhr, hat mich zwar stutzig gemacht, aber leider nicht zu einem raschen Abschluss dieses Experiments bewegt. Mitte Oktober vorigen Jahres veröffentlichte ich einen kritischen Beitrag über eine Kollegin aus der Galerie der Gastautoren und handelte mir damit einen scharfen Verweis meiner Ansprechpartnerin ein. Dass ich nicht bereits damals das Handtuch warf, sondern meinen Beitrag löschte, ist die einzige Inkonsequenz, die ich mir im Rückblick auf dieses lehrreiche Intermezzo vorzuwerfen habe.

[© Titelbild: Ausschnitt aus dem Schutzumschlag von Simone Barck / Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2008.]

Protected: Stirnkuss

Thursday, 07. August 2008

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Elchtest

Wednesday, 06. August 2008

traxler

Neulich machte meine Ex-Kollegin, die Kleinschreiberin Else Buschheuer, in ihrem Hypochondrie-Blog (als „fundstück des tages“ unterm 30. Juli 2008) auf einen acht Jahre alten You-Tube-Clip aufmerksam, in dem sie sich mit dem Ex-Großkritiker Marcel Reich-Ranicki in der SFB-Kulturtalkshow Alex über die Frage zauselt, von wem denn nun eigentlich jener bekannte Reim stammt: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“

Der ehemalige Elch verfiel in den altbekannten Fehler und plädierte energisch für Robert Gernhardt. Die damals, lang ist’s her, als aktueller Shooting Star der gesamtdeutschen Literaturszene gefeierte Autorin von Ruf! Mich! An! wusste es besser und beharrte auf Bernstein. Davon wollte Reich-Ranicki nichts wissen, bis ihm dämmerte, dass vielleicht doch etwas dran sein könnte an dieser Zuschreibung des Zweizeilers. Er hatte, wie er offen bekannte, bei diesem Namen an den US-amerikanischen Komponisten, Dirigenten und Pianisten russisch-jüdischer Abstammung Leonard Bernstein gedacht. So zeugt gute Komik ihre ungewollten Kinder.

Nach glaubwürdigem Bekenntnis des Autors der legendären zwei Zeilen, der mit bürgerlichem Namen Fritz Weigle heißt und sich Mitte der 1960er-Jahre als ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift Pardon unter dem Pseudonym F. W. Bernstein bemerkbar machte, entstand das Elchgedicht in einer Winternacht in einem Volkswagen auf der Fahrt von Paris nach Colmar, als Ergebnis eines poetischen Brainstormings, an dem neben ihm noch die mittlerweile verstorbenen Pardon-Kollegen Robert Gernhardt und F. K. Waechter beteiligt waren.

Die Geburt des unsterblichen Reims erfolgte auf schneeglatter Straße mühevoll in vielen kleinen Schritten. Zuletzt dichtete Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche / wären gerne selber welche.“ (Man beachte den kleinen, aber feinen Unterschied zum bis heute tradierten „Klassiker“!) Darauf erwiderte Gernhardt eine Sekunde später: „Die größten Kritiker der Molche / waren früher eben solche.“ Somit ist das so überaus erfolgreiche Mini-Gedicht doch eigentlich eine Koproduktion von Gernhardt und Bernstein. Und insofern hatten Reich-Ranicki und Buschheuer beide Recht.

Aber nur Recht im Unrecht. (Wie könnte mehr auch rauskommen im Nonsens-Format einer gesamtdeutschen Kulturtalkshow, zwischen solchen inkompatiblen Gesprächspartnern, die nichts gemein haben als ihre Gier nach Prominenz?) Denn das alleinige Urheberrecht auf die ja viel bessere, treffendere, zu Unrecht vergessene Fassung des Gedichts gebührt allein Fritz Weigle alias F. W. Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche / wären gerne selber welche.“

[Titelbild: signierte und datierte Illustration von Hans Traxler; aus dem Besitz des Autors.]

Versprechen

Tuesday, 05. August 2008

platzdeserinnerns

Die heroischen Denkmale früherer Jahrhunderte sind nach zwei totalen Kriegen im letzten mindestens in Europa wohl endgültig aus der Mode. Die Bismarcktürme stehen zwar noch immer unschön in der Landschaft herum; und auch Kaiser Wilhelm II., den keiner mehr wiederhaben will, reitet stumm und starr hoch zu Ross vor mancher Kirche und auf manchem Platz, ohne vom Fleck zu kommen. Doch finden an diesen steinernen oder bronzenen Relikten nur noch die Tauben Gefallen.

Wenn heute Denkmäler in den öffentlichen Raum gestellt werden, von der öffentlichen Hand und privaten Sponsoren finanziert, dann ist ihr Thema längst nicht mehr die Heldenverehrung und ihr Motiv kaum die Verkündung einer glorreichen Zukunft. Vielmehr sind’s heute meist Mahnmale, die die wenig glorreichen Folgen solch verblendeter Verehrung in Erinnerung rufen sollen. Und die Künstler, die solche Werke schaffen, arbeiten nicht länger mit Hammer und Meißel, diesen brutalen Werkzeugen eines kreativen Archaikums, in staubigen Ateliers, wie zu Arno Brekers Zeiten. Schlechte Aussichten also für Steinmetzen und Bildhauer aller Art, zumal es auch mit der Sepulkralkultur erkennbar bergab geht. Die anonyme Bestattung in einem namenlosen Gräberfeld erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Dieses Renommiergehabe noch über den Tod hinaus war ja auch wirklich zu albern und keines aufgeklärten Geistes würdig.

Vielleicht ist das, in groben Zügen, der geistesgeschichtliche Hintergrund, vor dem man sich einem neuen „Denkmal“ des Konzeptkünstlers Jochen Gerz nähern sollte, das seit 2007 an der evangelischen Christuskirche in Bochum entsteht, auf dem Platz des europäischen Versprechens. In der 1931 angelegten „Helden-Gedenkhalle“ im Turm dieser Kirche liest der Besucher die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Bochumer. Daneben sind in einer zweiten Liste die 28 damaligen „Feindstaaten Deutschlands“ aufgezählt, als sollte in wacher Erinnerung gehalten werden, an wem der Opfertod der Erstgenannten in einem Zweiten Weltkrieg zu rächen sei. (Ganz ging dieses Konzept bekanntlich nicht auf, denn die früheren Feindstaaten Italien und Japan wurden 1940 durch den Dreimächtepakt die wichtigsten Bündnispartner des Dritten Reiches.)

Von diesen Gegebenheiten an historischem Ort inspiriert, lädt Gerz nun „die Bewohner der Stadt [Bochum], des Ruhrgebiets und die Bürger Europas“ dazu ein, „Autoren eines neuen Platzes zu werden. Alle Teilnehmer tragen ihren Namen bei, und jeder Name steht, eingeschrieben in den Platz, für ein Versprechen. […] Das Versprechen gibt jeder nur sich selbst. Es ist geheim und frei. So entsteht ein unsichtbares Manifest aus vielen Stimmen und Kulturen – das neue Europa. Der Platz des europäischen Versprechens entsteht im Auftrag der Stadt Bochum als Beitrag zur Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Er soll am 31. Dezember 2010, dem letzten Tag des Kulturhauptstadtjahres, der Öffentlichkeit übergeben werden.“

Ich habe mich vor ein paar Wochen mal probehalber an diesem Projekt beteiligt und meinen Namen gestiftet. Heute entdeckte ich ihn dann endlich im unregelmäßig aktualisierten PDF der Versprechens-Homepage (Ausschnitt s. Titelbild). Was ich Europa versprochen habe, verrate ich natürlich nicht, denn Diskretion ist Ehrensache und gehört ja offenbar zum Konzept. Hätten die Teilnehmer sich offen und ehrlich, Wort für Wort zu ihren Versprechen bekennen müssen, wären wohl kaum (bis heute) 6065 Namen zusammengekommen. Versprechen, die man ausschließlich sich selbst gibt, sind wunderbar unverbindlich. Kein Mensch merkt zudem, wenn ich mich bar jedes Versprechens in die Liste eintrage, allein von dem eitlen Wunsch getrieben, meinen Namen auf einem öffentlichen Platz verewigt zu sehen. Und außerdem kommt so nicht raus, dass ich mich beim Aussprechen meines Versprechens im stillen Kämmerlein peinlicherweise versprochen habe. Seither frage ich mich allerdings, ob Jochen Gerz die Doppeldeutigkeit von „versprechen“ intendiert hat. Was wäre eine taugliche Alternative zu diesem ambivalenten Wort gewesen? Gelöbnis! Doch das geht aus oben genannten Gründen ja heute gar nicht mehr.

Findling (I)

Monday, 04. August 2008

platz

Beim Stochern in der Weltbühne, auf Siemsens Fährte, stolperte ich heute zufällig über eine kleine Gerichtsreportage zum Mordfall Helmut Daube in Gladbeck, der seinerzeit im ganzen Deutschen Reich für Aufsehen sorgte. Ihr Autor leitet den justizkritischen Text mit einem Kurzporträt des Ruhrgebiets ein, den es sich noch heute zu lesen lohnt:

Der Tatort „Gladbeck ist ein kleiner Bezirk in jener riesenhaften Aneinanderreihung von Fabrikorten, die von Dortmund und Hagen über die Provinzgrenze hinweg bis nach Crefeld und Düsseldorf reicht. Mit der elektrischen Straßenbahn kann man das ganze Gebiet durchqueren, aber doch ist es keine Großstadt. Vor sechzig, siebzig Jahren wurden aus kleinen westfälischen und rheinischen Bauerndörfern plötzlich Industriestädte. Fremdes Proletariat wanderte in Massen zu, und die Städte wuchsen zusammen. Eine Einheit sind sie nicht geworden, es sind Kleinstädte in Mammutformat. Kleinstädtisch aber bleiben auch die geistigen und kulturellen Bedürfnisse. Die Zahl der in künstlerischen, wissenschaftlichen, buchhändlerischen Betrieben beschäftigten Personen im ganzen Industriegebiet liegt weit unter dem für Deutschland berechneten prozentualen Durchschnitt. Eine Großstadt kann man nicht mechanisch schaffen; die einzelnen Orte im Industriegebiet haben doch stets ihr eignes Geschäfts- und Industriezentrum behalten, um das sich dann Wohnbezirke gliedern.“ (Wolf Zucker: Gladbeck; in: Die Weltbühne, 24. Jahrgang, Nr. 45 v. 6. November 1928, S. 719.)

Das ist doch gut erkannt, klar gesagt – und stimmt im Kern auch heute noch, wenngleich sich das Industrie- mittlerweile zum Dienstleistungsgebiet gewandelt hat. Schon an der Aufgabe, eine identitätsstiftende Dachmarke für die gesamte Region zu finden, beißen sich renommierte Marketingagenturen regelmäßig die Zähne aus. Die Kirchturmspolitik der vielen Städte und Landkreise treibt immer wieder seltsame Blüten und verhindert jene Bündelung der Kräfte, die das Revier wenn schon nicht voranbringen, so doch seinen spürbaren Niedergang bremsen könnte.

Angesichts der Herausforderung, sich in zwei Jahren als Europas Kulturhauptstadt präsentieren zu sollen, droht das Ruhrgebiet gleich doppelt zu scheitern: Es vermag als Kleinstadt-Konglomerat, das es nach wie vor ist, kein großstädtisches Flair zu entfalten – und es weiß den kulturellen Ansprüchen dieses Mega-Events nur durch künstliche Implantate internationaler Highlights zu begegnen. Es fehlt eben nach wie vor an kultureller Substanz und einem selbstbewussten Identitätsgefühl der Bürger an der Ruhr.

Wer als junger, ehrgeiziger Kulturschaffender aus dem Ruhrgebiet vorankommen will, der sieht zu, dass er Land gewinnt. Das war schon immer so und wird auch nach dem Jahr 2010 so bleiben. Eine inspirierende Großstadtatmosphäre, ein unverwechselbarer urbaner Charakter und ein markantes bauliches Antlitz, solche Wohn-, Freizeit- und Lebensqualitäten lassen sich nicht mit noch so vielen Museen, Konzerthäusern und Universitäten aus dem Boden stampfen. Das Schlüsselwort in der 80 Jahre alten Diagnose von Wolf Zucker ist „plötzlich“. In der belebten Natur wächst so kein gesundes Organ, sondern nur ein Krebsgeschwür. – Warum um alles in der Welt ich dann noch hier bin? Sehr einfach: aus einem leidenschaftlichen Interesse für „Sozial-Onkologie“.

[Fortsetzung: Findling (II).]

Geschmacksache

Monday, 04. August 2008

owenslong

„Olympische Spiele, das bedeutet: Wochen eines schönen, frohen Festes, bedeutet für die Fremden, die daran teilnehmen: eine wunderbare Reise […] in ein interessantes Land, umfassende Gastfreundschaft dortselbst, Empfang bei Hohen und Höchsten, Jubel und Ehrungen ohne Zahl, großartige Kämpfe mit den Besten auf gleichem sportlichen Gebiet und vielleicht herrlichen Sieg, Möglichkeit, dem Vaterland Ruhm zu erwerben und den eigenen Namen mit der Goldschrift des Triumphes ins Buch der Weltpopularität einzutragen.“

Wen wundert’s, dass Athleten aller olympischen Disziplinen alles daran setzen, um an diesem glanzvollsten aller sportlichen Wettkämpfe teilnehmen zu dürfen? Alfred Polgar jedenfalls, den ich hier zitiere, hatte wenig Verständnis für die Erwartung kindlicher Phantasten, „es könnte Kulturmenschen geben, die sich an solchem Fest nicht beteiligen werden, wegen des kleinen Schönheitsfehlers, daß es in einem Reich stattfindet, dessen Herren kaltblütig und systematisch ein paarmal hunderttausend schuldloser Mitbürger zur Verzweiflung und zum Selbstmord treiben.“ (Alfred Polgar: Zuviel verlangt; hier zit. nach Schriften, Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1982, S. 135 f.)

Schon vor 72 Jahren wussten die Gastgeber, was sie der Jugend der Welt und ihrer naiven Zuversicht schuldig waren. Kurzfristig wurden antisemitische Parolen an den Berliner Hauswänden übermalt und sogar die Judenverfolgung vorübergehend eingestellt. Das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer durfte in Berlin für die Dauer der Spiele nicht öffentlich am Kiosk ausliegen. Konnte man einem solchen Regime tatsächlich weiter Rassismus vorwerfen, wo doch sogar ein Neger namens Jesse Owens an den Start gehen und gleich vier Goldmedaillen gewinnen durfte? Der erinnerte sich noch Jahrzehnte später voller Dankbarkeit an die Gastfreundschaft: „Als ich am Kanzler vorbeikam, stand er auf, winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich denke, die Journalisten zeigten schlechten Geschmack, als sie den Mann der Stunde in Deutschland kritisierten.“ (Das Bild zeigt ihn beim Fachsimpeln mit seinem arischen Konkurrenten Lutz Long.)

Die Hoffnungen des Internationalen Olympischen Komitees werden sich auch diesmal erfüllen. Die Spiele in Peking werden nicht zum Eklat. Das Land der Mitte zeigt sich von seiner freundlichsten Seite, selbst die katastrophale Luftverschmutzung konnte immerhin so weit reduziert werden, dass den Marathonläufern kein Erstickungstod droht. Und sogar die Vollstreckung der Todesstrafe, in China für 68 verschiedene Delikte wie selbst Diebstahl und Steuerhinterziehung an der Tagesordnung, wird für die Dauer des Events ausgesetzt.

Aber gleich nach dem 24. August 2008, wenn das olympische Feuer erloschen ist, heißt es dann wieder: “The butchery must go on!”

Entschleunigung

Saturday, 02. August 2008

lichtspuren

Selbstbewusster Anachronismus ist das Allheilmittel des frohgemuten Pessimisten gegen die Wunden, die ihm die immer auf Beschleunigung gestellte Kommunikationsturbine unserer Tage mit Klingen Marke Gillette ins wehe Fleisch schlägt.

Ich Ahnungsloser habe für ein Weilchen geglaubt, als Trittbrettfahrer eines Medienkonzerns von der Gunst jener Stunde profitieren zu können, als dessen Chefsesselwärmern der Arsch auf Grundeis ging und sie befürchteten, dass ihnen ihre Leser und Abonnenten vom neuen Medium Weblog weggebaggert würden. Ich habe mich von der Illusion verführen lassen – ungeachtet aller Stupidität der Blätter, durch deren alltägliche Veröffentlichung besagter Konzern, leider nicht nur er, die Wälder dieser Welt auf dem denkbar kürzesten Weg in die blaue Tonne befördert –, meinen bescheidenen Beitrag leisten zu können zu einem künftigen, ressourcenorientierten und zudem demokratischeren Kommunikationsmodell.

Tempi passati! Nach anderthalb Jahren als Gastautor bei Westropolis bin ich schlauer. Die fruchtbaren Erfahrungen, die ich in der Zeit meiner anfänglich blauäugigen Hospitanz gesammelt habe – ich ziehe untertänigst meinen Zylinder – kompensieren allemal das karge Honorar, das währenddessen aus der prallen Kasse des Reviermonopolisten und Meinungsmachers auf mein darbendes Konto floss.

Nun gilt es, auf die Bremse zu treten und Schritt für Schritt, ich habe ja schließlich die nötige Muße für eine gediegene Reflexion des lehrreichen Intermezzos, die Höhen und Tiefen dieser Erfahrung Revue passieren zu lassen – zumal ich der Flüchtigkeit und Vergesslichkeit des neuen Mediums ein Schnippchen geschlagen und alles Geschehene sorgfältig dokumentiert habe. (Auf die Cache-Funktion von Google habe ich mich nur einmal, ein entscheidendes Mal zu viel verlassen.)

Und was das Schönste ist: Ich habe zu diesem Recycling vorbeigehuschter Abfälle des Medienspektakels alle Zeit der Welt. Der Undercover-Agent ist über die grüne Grenze entwichen und hat seine Tagebücher, nahezu lückenlos geführt, mit sich genommen. Ob es jemanden interessiert, interessiert ihn immerhin am Rand; denn am Rande hausen jene, denen die Mitte längst schon fremd geworden ist. Und auf diese Marginalisierten kommt es vielleicht irgendwann, vielleicht schon bald in Zeiten der Beschleunigung einmal an.

Vorlesenachlese

Saturday, 02. August 2008

polgarsoiree

Das war’s also wieder einmal, der Polgar-Abend liegt hinter mir. Immerhin ertrugen die 18 Gäste ohne zu murren eine gleiche Zahl von Texten, drei Stunden reine Vorlesezeit. Keiner brach vorzeitig auf. Die Erheiterung war gelegentlich überbordend, wie man wohl sagt. An einigen Stellen, an denen ich Lacher erwartet hatte, kamen sie nicht – weil Polgars Humor oft so fein ist, so listenreich versteckt in seinen mit harter Punze ziselierten Sprachkunstwerklein, dass er beim notwendig flüchtigeren Zuhören, im Unterschied zum gemächlicheren Selbstlesen, dann und wann bei aller Liebe und Mühe des Vorlesers unbemerkt auf der Strecke bleiben muss.

Der Meister selbst war skeptisch, ob seine Prosa zum Vortrag tauglich sei. In einem Bericht über sein Debut als Vorleser eigener Texte zitiert er eine kleine „Stegreifrede“, die er zu diesem Anlass gehalten hat: „Ich lese heute zum erstenmal öffentlich, lege vor Ihnen meine Jungfernschaft als Vorleser ab. Obwohl mir die gute Mutter alles gesagt hat, was da bevorsteht und daß es ganz ohne Schmerzen nicht abgehe, bin ich doch ein wenig unsicher. Erstens, weil ich nicht weiß, ob, was ich schreibe, überhaupt zum Vorlesen taugt – das Beste liegt in der Luft zwischen den Zeilen, und wenn es nicht gelingt, diese Luft mitschwingen zu machen, bekommen Sie gewissermaßen nur die schlechtere Hälfte des Textes zu hören – und zweitens, weil ich nicht weiß, ob ich für mein Geschriebenes der richtige Sprecher bin, ob ich ihm als Vorleser vielleicht eher schade als helfe oder am Ende keines von beiden, und dann die komische Figur eines Reiters mache, der neben seinem Pferdchen herläuft.“ (Alfred Polgar: Vorleser; zuerst in Berliner Tageblatt v. 26. April 1928; hier zit. nach Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1984, S. 380.)

Diese Bedenken musste ich als Routinier beim Vorlesen nicht haben – eher schon Sorge tragen, dass mir mein Gaul unterwegs durchgehen würde, den ich in wochenlanger Arbeit für diesen weiten Ausritt präpariert hatte: gehätschelt, gefüttert, gestriegelt und gesattelt. Wenn das gelegentlich auf abschüssigem Gelände doch einmal geschah, dann gelang mir immerhin, bei aller Bescheidenheit sei’s gesagt, ihn mit ein paar sanften Ermahnungen wieder auf den goldenen Mittelweg zurückzubringen.

Nachher, wie üblich, fiel mir all das ein, was ich zu Polgar, seinen Lebens- und Schaffensumständen, seiner tragischen Verkanntheit und einsamen Größe noch hätte sagen müssen. Bis vier Uhr in der Frühe wälzte ich mich in den Federn und suchte vergeblich nach Entschuldigungen für diese unentschuldbaren Unterlassungssünden – während meine Gäste derweil längst, hoffentlich beseligt, in Morpheus’ Armen ruhten.

Schließlich schlief ich dann doch irgendwann ein. Das geschah vermutlich, als mir jener aus dem Pausengeplaudere der Zuhörer aufgeschnappte Kommentar durch den Sinn ging, dieser Polgar sei wohl in seiner Zeit gewesen, was etwa ein Dieter Nuhr für heute ist. Polgar beschließt seinen erwähnten Aufsatz mit den Worten: „Es wäre mir peinlich, wenn Sie von diesem Abend sagten: ,Heute war ich zweimal bei einer Vorlesung des P.: zum ersten- und zum letztenmal.‘“ Auch mir wäre dies peinlich – aber nur dann, wenn ich Talent zum „Fremdschämen“ hätte.

[Photographie: David Porsch.]

Aus der Mitte (I)

Friday, 01. August 2008

stein

Die junge Mutter, vierzig plus, muss für ein halbes Stündchen Ruhe haben. Sie erwartet den Anruf ihres Scheidungsanwalts. Drum hat sie das knallrote Plastikeimerchen fürs Töchterchen, vier minus, mit Wasser gefüllt und auf die Umfassung des Sandkastens gestellt: „Naaa-ooo-miii! Kuuu-chen-baaa-cken!“ Ein zartes Stimmchen aus dem Wäldchen hinterm Gärtchen hinterm Häuschen signalisiert kindliche Anerkenntnis des kindgerechten Beschäftigungsangebots: „Geiiiil!“

Kurz drauf spielt das Handy der treu sorgenden Mutter die ersten fünfzehn Töne der Ode An die Freude aus Beethovens „Neunter“ vor. Bevor aber Karoline Dorffmann-von Hochstengel mit dem rechten Daumen den Knopf zur Entgegennahme des Anrufs drückt, halbiert sie mit dem linken Daumen auf der Fernbedienung den Dezibelwert einer Kurzreportage über den holländischen Friseur, der aus dem homöopathischen Guru Dragan Dabić gestern wieder den psychopathischen Psychiater und Massenschlächter Radovan Karadžić gemacht hat.

„Dorffmann?“ – „Frau Dorffmann-von Hochstengel, ich grüße Sie an diesem schönen Sommertage. Dr. Wagner am Apparat. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?“

Unterdessen ist Naomi mit kleinen, aber zielsicheren Schritten aus dem Wäldchen durchs Gärtchen zum Sandkasten gestapft, ein fröhliches Liedchen aus der Kindertagesstätte auf den Lippen, die jetzt leider Sommerpause hat. Das blondzopfige Mädchen hat aus dem Unterholz einen großen weißen Kieselstein mitgeschleppt, so schwer, dass die Kleine ihn kaum tragen kann. Den lässt sie jetzt vergnügt in das rote Plastikeimerchen plumpsen. Wie das spritzt! Dann stellt sie sich, den Henkel des Eimers mit beiden Händen fest umklammernd, mit gespreizten Beinen in die Mitte des Sandkastens und lässt das schwere Gefäß unter sich pendeln wie ein olympischer Hammerwerfer die Kugel am Seil. Obwohl Naomi die physikalischen Gesetze der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte niemals erklärt wurden, die auf einen in Rotation um einen gedachten Mittelpunkt versetzten Körper wirken, erfährt sie das Wunder, dass der Kiesel nicht aus dem um sie kreisenden Eimerchen fällt und selbst das Wasser darin haftet wie angeklebt.

Nach sechs oder sieben solcher staunenswerten Rotationen draußen im Gärtchen ist Dr. Wagners Telefonstimme drinnen im Salon gerade bei der schlechten Nachricht angelangt. Er kommt aber nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Frau Dorffmann-von Hochstengel gar wird sie niemals erfahren. Der letzte Satz, den sie vor dem ohrenbetäubenden Knall hört, kommt aus dem Fernseher und lautet: „Der Bart ist ab!“ Und Herr von Hochstengel, ihr ansonsten fröhlicher Witwer, wird sechs Wochen später mit Bedauern zur Kenntnis nehmen müssen, dass die 24 Quadratmeter große Panoramascheibe seines Häuschens am Waldrand gegen Schäden dieser Art nicht versichert war.

[Fortsetzung: Aus der Mitte (II).]