Archive for June, 2011

Heinrich Funke: Das Testament (XX)

Thursday, 30. June 2011

Da konnte der Kleine sich nun noch so sehr abmühen, seine Schatzkugel in Sicherheit zu bringen, da mochte er sie vor seinem Bauch umklammern oder hinter seinem Rücken verstecken – am Ende musste er sie offensichtlich doch preisgeben. Und zu allem Überfluss ist sie noch zerbrochen.

Ein großes Loch klafft in ihrer Schale, von dem aus sich Risse in alle Richtungen ziehen, fast wie bei einem aufgepickten Hühnerei. Was dort von innen herauskommt, ist aber nicht der Schnabel eines schlüpfenden Kükens. Vielmehr zieht eine blutrote Flüssigkeit wurmgleiche Bahnen auf der gelben Außenhaut.

Was mag das sein?

Jetzt – da endlich das ominöse Oval ganz unsere ungeteilte Aufmerksamkeit findet und sogar etwas mehr von sich preisgibt, als nur seine nach allen Seiten gleiche unversehrte Gelbheit – jetzt sind wir auch nicht klüger als zuvor. Ist hier etwas entwichen, das sich beim Verlassen seiner Behausung an den scharfen Kanten der Bruchstelle verletzt hat? Und wo ist das fliehende Kerlchen mit der Maske verblieben? Lebt es noch? Diesmal bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als der Unterschrift zu folgen:

„Das Geheimnis aushalten“. (Aber so schwer ist das auch wieder nicht. Und schließlich: Gibt es überhaupt ein Geheimnis?)

Plan einer Trendbuch-Analyse (1955-2005)

Wednesday, 29. June 2011

Vor drei Jahren wurde ich von meiner Ansprechpartnerin bei Westropolis mal gebeten, einen „Beitrag über die Literatur der 1980er Jahre“ zu schreiben. Auf meine Nachfrage, was genau damit denn gemeint sei, stellte sich heraus, dass es um die in Deutschland damals erfolgreichsten Bücher gehen sollte, und unter diesen dann möglichst um solche, die den „Geist des Jahrzehnts“ besonders gut zum Ausdruck brächten. Das dürften Romane so gut wie Sachbücher sein! Die anderen freien Autoren des Kulturblogs der WAZ-Mediengruppe sollten parallel dazu die Musik, die Kunst, den Film und die Mode der 80er in Erinnerung bringen.

Wenn ich mich nicht sehr irre, war ich dann schließlich der einzige Gastautor, der den Auftrag ernst nahm und sein Soll erfüllte; kein Wunder, denn es stellte sich bald heraus, dass die Aufgabe mit einigem Aufwand verbunden war. Dabei hatte ich noch einen berufsbedingten Startvorteil, war ich doch im fraglichen Jahrzehnt ohne Unterbrechung als Buchhändler mit allen damals aktuellen literarischen Trends hautnah in Berührung gekommen. Und dennoch erswies sich ein erstes Brainstorming noch nicht als sehr ergiebig, zumal ich bei jedem zweiten Titel, der mir spontan einfiel, nicht hundertprozentig sicher war, ob er denn nun wirklich in diesem Jahrzehnt das Licht der Welt erblickt hatte. Ich hatte also einiges zu recherchieren und musste zudem die Spiegel-Bestsellerlisten der Jahre 1981 bis 1990 durchsehen, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

Was dabei herauskam, waren zwei Folgen Literatur der Achtziger, eine über Sachbücher und eine über die Belletristik dieses Dezenniums. In diesem Falle glaube ich nicht, dass es sich lohnt, meine alten Texte für Ostropolis zu überarbeiten. Sehr wohl aber scheint mir ihr Thema noch immer reizvoll, wenngleich nicht mit der willkürlichen Limitierung auf ein Jahrzehnt. Dass jedoch der Erfolg von Büchern etwas aussagt über das Denken und Empfinden der Menschen in der Zeit, in der diese Bücher – zur Freude ihrer Verleger und der Buchhändler – jene als Leser in großer Zahl für sich gewinnen, das erscheint mir immer noch evident und einer eingehenderen Betrachtung würdig.

Wenn von Erfolgsbüchern die Rede ist, dann meint man damit entweder Bestseller oder Kultbücher. Beide Begriffe möchte ich mit jeweils guten Gründen für mein Projekt vermeiden. Die reine Auflagen- bzw. Absatzzahl erscheint mir als Maßstab für die Wirkung eines Buches fragwürdig, sagt sie doch noch nichts darüber aus, ob der reißend verkaufte Schmöker auch gelesen wurde. Bestes Beispiel ist für mich hier immer Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco, das sich als Nachfolger seines populären Meisterwerks Der Name der Rose verkaufte wie geschnittenes Brot, aber die meisten Leser maßlos enttäuschte. (Ich persönlich kenne nur zwei Menschen, die von dem 750 Seiten starken Buch mehr gelesen haben als die ersten fünfzig.) Viele Erfolgsautoren sind da ja zugleich anspruchsloser und geschickter als Eco. Wenn sie einmal ein literarisches Erfolgsrezept gefunden haben, dann kochen sie daraus Jahr für Jahr ihr immergleiches Süppchen und haben ausgesorgt. Auch diese Art Serien-Bestseller von Leuten wie Johannes Mario Simmel, Heinz G. Konsalik, Donna Leon oder Georges Simenon sagen mindestens eins über ihre Leser aus: dass sie die Wiederholung des Immergleichen, längst Vertrauten lieben. Hohe Verkaufszahlen täuschen also starke Wirkung oft nur vor. Und das imposante Wort vom Kultbuch scheint mir ebenfalls für meine Absichten ungeeignet, da irreführend. So werden nach meiner Beobachtung nicht selten Bücher genannt, deren Titel jeder kennt, bei deren Nennung auch jeder ein mehr oder weniger deutliches Bild vor Augen hat – und die doch kaum jemand wirklich gelesen hat. Der Name sagt es ja schon deutlich: Kultobjekte werden aus der Distanz verehrt, vor allzu unmittelbarer Begegnung schützt sie ein stillschweigendes Berührungsverbot. Auch eilt ihnen meist der Ruf voraus, dass sie schwer zugänglich sind. Die Wirkungsgeschichte von Kultbüchern gibt indirekt zwar auch Auskunft über den Zeitgeist, doch soll dieser Aspekt hier nicht mein Thema sein.

Mir geht es vielmehr ganz banal um gesellschaftliche Trends, die sich im meist kurzlebigen Erfolg einzelner Bücher spiegeln. Die Frage, die sich mir in jedem einzelnen Fall stellen wird, lautet deshalb zunächst: Woher rührt das Interesse für gerade dieses spezielle Thema, das im vorliegenden Buch erstmals, oder doch erstmals auf diese Weise, abgehandelt wird? Und anschließend denke ich darüber nach, welchen der bekannten Grundrichtungen langfristiger sozialer Entwicklung dieses Interesse entspringt. Vielleicht komme ich aber auch zu dem Ergebnis, dass Bücher gerade deshalb erfolgreich sind, weil sie sich den vorherrschenden Trends verweigern und einen völlig neuen Ton anschlagen, der Neugier weckt. Insofern will ich das Ergebnis meiner Untersuchung offen halten. Ich beschränke mich bei meiner Studie auf die Zeit von 1955 bis 2005 und auf Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum.

Protected: Schlammschlacht um Kate Moss

Tuesday, 28. June 2011

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Einfallslosigkeit

Monday, 27. June 2011

Es kommt vor, dass ich nicht weiß, was ich schreiben soll. Alle gewöhnlichen Mittel gegen diese Einfallslosigkeit versagen. Die Buchrücken schauen wie blöde Schafe auf mich herab, und ich schaue mutmaßlich ebenso blöd zurück. Ich denke darüber nach, was mir jüngst widerfahren ist, und gähne. Ich schaue aus dem Fenster auf die Schaufenster des seit Jahrzehnten geschlossenen Haushaltswarenladens gegenüber. Siebenschläfer. Es müsste leise nieseln, damit wenigstens das Wetter zur Leere in meinem Schädel passte. Aber höhnisch brät die Sonne die toten Fliegen auf meinem Fensterbrett gar.

Radiohören! Eben wird der 38-jährige Timm Klotzek zu seinem Wechsel von Neon und Nido zum SZ-Magazin befragt; ob ihm die Trennung schwer falle. Wörtlich sagt der Chefredakteur: „Ich glaube, der Wehmut wird erst später kommen.“ Habe ich richtig gehört? Ich habe richtig gehört. Vielleicht ist heute der Wermut zu früh gekommen. Na, das kann ja heiter werden. Aber einen eigenen Beitrag weiß ich aus diesem Lapsus nicht zu machen.

Ich könnte ja mit der Kamera vor die Tür treten und den nächstbesten Schnappschuss zum Anlass eines Textes machen, zur Kategorie Snapshot, oder Flanerie, oder Rêverie. Eine nicht gestellte Momentaufnahme, die mich vor die Aufgabe stellt herauszufinden, was der tiefere Sinn dieses Zufallsarrangements sein könnte. Die Welt ist doch so rätselhaft, so bizarr, so erklärungsbedürftig. Oder? Ich gähne schon wieder. Und außerdem kann ich gar nicht vor die Tür treten, denn ich warte auf einen Klempner, der im Keller ein leckes Rohr flicken soll.

Vielleicht sollte ich heute einfach mal wieder pausieren. Es ist doch keine Schande, wenn einem mal die Puste wegbleibt, oder? Was war das am 1. Mai – Tag der Arbeit! – bloß für ein dummer Einfall, mir beim Schreiben für mein Blog ab sofort keinen einzigen Tag Pause mehr zu gönnen? Dieser Ehrgeiz ist ja schon nahezu krankhaft!

Was sagt übrigens das Dienstpersonal zu meinen Nöten? „Gespräch meines Zimmerkellners mit dem Küchenmädchen über meine letzten Aphorismen. Er: ,Wenn man nur wüßte, wo der Mensch diese Einfälle alle hernimmt!?‘ Sie: ,Er hat doch den ganzen lieben Tag nix anderes zu tun!‘“ (aus Peter Altenberg: Fechsung; hier zit. nach Das Buch der Bücher von Peter Altenberg. Göttingen, Wallstein Verlag, 2009, Bd. 2, S. 475.) Und schon ist wieder ein Posting fertig. Etwas zerstreut ist es zugegebenermaßen geworden, aber doch drall und rund. Geh jetzt unter die Leut’; geh spielen!

Protected: Bücherdämmerung (III)

Saturday, 25. June 2011

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Memogramm der Hollandreise (Tag II)

Friday, 24. June 2011

Erstmals gegen sechs Uhr im Dienstmädchenbett aufgewacht. Dann der verabredeten Frühstückszeit um acht Uhr entgegengeschlummert. Den Sohn hält es länger in den Federn. Die Kinder machen sich auf den Schulweg, gebeutelt von einer Prüfungswoche mit vielen Klassenarbeiten hintereinanderweg, offenbar eine Spezialität des niederländischen Schulsystems. Tom fährt zum Jachthaven in Stavoren, wo seine Leihboote liegen. Zum Wochenende kommen die Boote vom Meer zurück und müssen an neue Mieter übergeben werden.

Annette zeigt uns nun Workum. Der Sohn kennt das Städtchen schon aus Kindertagen, hat er doch hier mit seinen Geschwistern und der Mutter mehrere Ferienaufenthalte erlebt und nach glaubhaftem Bekunden in bester Erinnerung behalten. Ich hingegen betrete Neuland. (Schon damals war mir die seltene Ruhe daheim an meinem Arbeitsplatz wertvoller als der bei den meisten Mitmenschen so beliebte Tapetenwechsel.) Als uns durch eine schmale Gracht ein Segler mit dem Namen Tijdgeest entgegenkommt, verschlägt ’s mir fast die Sprache. Wie das Boot so ruhig dahingleitet, kommt es mir vor wie ein Gleichnis auf die mir oft so unbegreifliche Paniklosigkeit meiner Zeitgenossen.

Nun ist uns doch noch unser Museumsbesuch vergönnt, und was für einer! Das Werk des malenden Lumpensammlers Jopie Huisman beeindruckt durch seine planvolle Entwicklung. Offenbar ist der Mann sehr überlegt an seine selbstgestellte Aufgabe herangegangen und hat seit den frühen 1960ern zunächst maltechnisch allerlei ausprobiert, bevor er schließlich nach Jahren seine persönliche Handschrift und seinen Blick auf die Dinge fand. Diese Dinge waren vor allem die verachlässigten, abgenutzen Gegenstände, die seine Mitbürger fortwarfen und die auf seinem Karren landeten. Viel Fleiß und Sorgfalt steckt in seiner Malerei und Zeichenkunst. (Imposant auch Huismans Kollektion von Gewichtskästen und Waagen, mit der er die lange Geschichte des Betrugs zu dokumentieren trachtete, denn viele Gewichte sind durch unscheinbare „Abnutzungen“ offenbar leichter, als ihr Nennwert vorgibt.)

Anschließend besichtigen wir Toms Arbeitsplatz und seine Boote, deren Namen mit C beginnen und auf A enden, wie Carolina, Caba oder Camilla. So heißt das komfortabelste Schiff dieser Reihe zufällig wie meine Enkelin. Ungeschickt wie ich bin, reiße ich in einem anderen Boot, das wir uns von innen anschauen, die Klinke einer Schlafkojentür aus der Verankerung, was mir für eine unanständig lange Zeit die Stimmung verdirbt. Dabei ist der Schaden, den ich damit angerichtet zu haben fürchte, doch viel geringfügiger und leichter behebbar, als ich mir einrede und man mich im Scherz wohl auch glauben machen will. Ich ahne den Schabernack und mime nun so lange den arglos leidenden Übeltäter, bis Tom mich aus meinem Verdruss erlöst, indem er mir offenbart, wie geringfügig der Aufwand einer Reparatur doch eigentlich sei.

Mein Sohn und ich gönnen uns schließlich einen frischen Kabeljau aus der besten Bratküche von Stavoren. Einen so köstlichen Fisch habe ich lange nicht mehr gegessen. Mein Sohn hatte beschlossen, von hier aus per Fähre übers IJsselmeer nach Enkhuizen und von dort mit der Bahn zurück nach Amsterdam zu fahren. So nehmen wir am Steg Abschied von ihm und winken, bis das Schiff außer Sicht ist. Annette packt in Workum ihre sieben Sachen und wir fahren gemeinsam mit dem Automobil in unser beider Heimatstadt. Unterwegs nutzen wir die Gelegenheit zum Austausch über Themen, die nur uns beide interessieren. Die wenigen Gesprächspausen stopfen wir mit ein paar Liedern von Hindi Zhara. Um fünf Uhr nachmittags bin ich wieder daheim.

Memogramm der Hollandreise (Tag I)

Thursday, 23. June 2011

Wecker 5:25 Uhr. Eine Tasse Kaffee, zwei Brote mit Kochschinken. Fußweg zum Rathaus Rellinghausen bei trockenem Wetter, angenehm kühl, klare Luft, Vogelgezwitscher. Mit dem Nachtexpress-Bus, den ich noch nie genutzt habe, zum Hauptbahnhof Essen, von dort mit einem weiteren Nachtexpress-Bus zum Oberhausener Hauptbahnhof. Von dort mit dem ICE über Duisburg, Arnhem, Utrecht nach Amsterdam. Ankunft pünktlich um halb zehn, wo der älteste Sohn und seine friesische Freundin Gerda mich gut gelaunt erwarten. Zum Harnabschlagen und auf einen Weckkaffee in ein rummeliges Restaurant mit überforderten Kellnern noch im Centraal-Bahnhof.

Per Straßenbahn dann in Gerdas Wohnung in der Marco Polostraat. Nach kurzem Aufenthalt zu dritt großer Spaziergang, unter andrem durch den schönen Vondelpark bis ins Museumsviertel. Nach Abwägung von Kosten und Nutzen werden aber Ausstellungsbesuche, ob im Van Gogh Museum oder im Rijksmuseum, einstimmig verworfen. Einkehr auf Bierbänken vor einer kleinen Gaststätte. (Kann man dann eigentlich von „Einkehr“ sprechen?) Aß eine sehr fruchtige Tomatensuppe mit bestem Appetit, aber glücklicherweise vor Inaugenscheinnahme der sanitären Anlagen, die mir diesen möglicherweise verdorben hätte.

Unterdessen stets angeregte Unterhaltung über disparate Gegenstände, wie sie uns die durchwanderten Stadtkulissen gerade zutrugen. Eindrücklich etwa Gerdas Schilderung vom wilden Leben und tragischen Tod des niederländischen Musikers, Küstlers und Enfant terribles Herman Brood, der sich vom Dach des Amsterdamer Hilton-Hotels herabstürzte, weil ihm seine Drogensucht übern Kopf wuchs. (Dass dieses traurige Ereignis sich zufällig an meinem bevorstehenden Geburtstag zum zehnten Mal jährt, erfahre ich gerade erst beim Nachlesen des Wikipedia-Artikels über Brood.) Auf dem Rückweg Einkauf bei Albert Heijn, einer Ladenkette, bei der die muslimischen Kassiererinnen allesamt schwarze Kopftücher trugen.

Rechtzeitig zurück in Gerdas Wohnung, um den für fünf Uhr nachmittags verabredeten Besuch Annette B.s aus Workum abzuwarten, die uns nach dorthin mit ihrem Automobil abholt. (Leider kann Gerda nicht mitkommen, weil sie am nächsten Tag beruflichen Verpflichtungen nachzukommen hat. Oder waren es Verpflichtungen im Zusammenhang mit der überaus problematischen Wohnungssuche? Es ist nahezu unmöglich, in dieser Stadt eine akzeptablie Mietwohnung zu finden, wenn man sich hierum nicht entweder schon vor vielen Jahren angemeldet hat oder doch mindestens das Einommen eines Chefarztes oder die Beziehungen eines Immobilienmaklers hat.) So gehen wir zu dritt ohne Gerda auf die Suche nach einer italienischen Gaststätte oder einer holländischen Pommesbude und finden kurz vorm Verhungern in der Jan van Galenstraat tatsächlich die kleine Pizzeria Martini mit originellem Ambiente und freundlicher Bedienung durch den Inhaber. Anschließend fahren wir über den fast dreißig Kilometer langen Afsluitdijk durchs IJsselmeer nach Workum.

Tom und die Kinder begrüßen uns. Hausbesichtigung und Tagesausklang. Zu Bett im „Dienstmädchen-Zimmer“. Fülle der Eindrücke hindert mich zunächst am Einschlafen. Lese darum noch in einem beliebig aus dem Bücherregal gegriffenen Suhrkamp-Bändchen aus dem Bestand von Annettes verstorbener Schwester Karin: Edmund Wilsons Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof. Bedrückende Schilderungen des Lebens der arbeitenden Bevölkerung im Manchester des XIX. Jahrhunderts. – Traum von einem gefluteten Keller, in dem quietschend die Ratten ertrinken.

Star-Dreck

Tuesday, 21. June 2011

Was sind die beiden beherrschenden Themen in den dominierenden (d. h. bestverkäuflichen) Massenmedien (Boulevardpresse und Privatfernsehen)? Ganz einfach: „stars and strokes“, Prominente und Katastrophen. Das ist natürlich nicht etwa so, weil die Medienmacher keine anderen Einfälle hätten, sondern weil ihre Kunden keine anderen Bedürfnisse haben als eben diese beiden: Identifikationslust und Sensationsgier. Welcher Mann möchte nicht so cool wie Humphrey Bogart, so stark wie Arnold Schwarzenegger und so smart wie Tom Cruise sein? (Da darf man schon mal darüber hinwegsehen, dass Bogie ein schwächlicher Kettenraucher war, Arni ein Befürworter der Todesstrafe ist und Tommy sich als Aushängeschild für eine obskure Sekte hergibt.) Und welche Frau möchte nicht sexy wie Marilyn Monroe sein, klug wie Jodie Foster und erfolgreich wie Angela Merkel? (Macht ja nichts, dass Norma Jeane Baker an ihrer Anziehungskraft auf Männer schließlich elend zu Grunde ging, Jodie den Reagan-Attentäter Hinckley zu seinen sechs Schüssen auf den Präsidenten inspirierte und Angie, man mag es drehen und wenden wie man will, in ihrem öffentlichen Erscheinungsbild doch eine sehr fade und langweilige Person bleibt.)

Entscheidend fürs Image der Promis sind stets rein quantitativ messbare Werte: die Höhe der Gage, die Zahl der Fans, Einschaltquoten in der Glotze und Besucherzahlen in den Kinos, ausverkaufte Stadien und beeindruckend viele Klicks auf ihre „persönlichen“ Websites, möglichst hohe Positionen in Rankings („5 Oscars“, „über 90 Zentimeter Brustumfang“) und undurchdringliche Trauben von Fotografen vor den Entrees sündhaft teurer Hotels, Torschussstatistiken und ununterbrochene Serien von K.-o.-Siegen. Das Guinness-Buch der Rekorde ist zu einem guten Teil auch ein Almanach des Starkults unserer Tage. Eine immer ärmer werdende Menschenwelt lechzt zunehmend nach dem Weltrekord, bis in die letzten vernetzten Winkel von Hintertupfingen und der mongolischen Wüste. Und der armselige Star – verfolgt von Stalkern, Paparazzi und seinen eigenen Süchten – ist Täter und Opfer zugleich. Er zieht einen Schweif von Fans hinter sich her, der seiner Eitelkeit schmeichelt; und ist doch zugleich nur ein „Mensch wie jeder andere“: zwei Arme, zwei Beine und ein von diesem Spektakel überfordertes Hirn.

So, knapp charakterisiert, funktioniert die Maschinerie der Identifikationslust, die 99 Hundertstel von uns in ihren Bann zieht. Suche nach einem Menschen, der nicht weiß, wer Diana oder Elvis waren – dann kannst du vielleicht noch ein ursprüngliches Gespräch mit ihm führen. Wir sind alle verseucht von diesem Kult profaner Götter. Der vergängliche Ruhm dieser Götzen hat längst schon unser freies Denken paralysiert. Und nun tritt uns noch unsere unausrottbare Sensationslust in die Kniekehlen und besorgt den Rest, dass wir, täppische Affen, kaum noch eine Chance haben dürften, unseren Fortbestand aus diesem Jahrhundert ins nächste zu retten.

Was zwingt denn Millionen Fernsehzuschauer bei den alljährlichen Formel-I-Rennen vor den Bildschirm? Ich behaupte keck und frech: die Hoffnung auf einen katastrophalen Unfall. Wenn Michael Schumacher auf dem Nürburgring aus der Bahn getragen worden wäre, trotz aller Sicherungsmaßnahmen, und am Rande der Strecke zu einem Häuflein Asche verkohlt – dann, ja genau dann wären endlich die heimlichen Hoffnungen der sensationslüsternen Zuschauer erfüllt worden. Und in den folgenden Tagen wären die Einschaltquoten so hoch gewesen wie nie zuvor. Und da es doch letztlich immer ums Geld geht, wäre dieses traurige Ereignis das Optimum gewesen für den wirtschaftlichen Erfolg seiner Vermarkter. Insofern ist auch der Doping-Skandal bei der Tour de France ein Erfolg für die medialen Ausbeuter dieses Großevents. Die sportliche Konkurrenz als sauberer Vergleich ehrlicher Athleten passt doch längst nicht mehr in unsere nach persönlichen Tragödien und steilen Abstürzen gierende Welt des Starkults. Je maßloser wir unsere Stars in den Himmel der Unerreichbarkeit heben, desto tiefer wollen wir sie fallen sehen. Das ist nun einmal Gesetz in diesem schmutzigen Geschäft, in dem nur jene Vergötterung des Menschlich-Allzumenschlichen Bestand für die Ewigkeit haben kann, die noch zu Lebzeiten in den Abgrund völligen Versagens stürzt. Allein dieses Spektakel macht uns unser eigenes, schmalspuriges, blasses Alltagsleben noch einigermaßen erträglich. Und wenn dann beides gar zusammenfindet: die Gier nach der katastrophalen Sensation und die Lust an der Identifikation. Dann kocht das Star-System über und der Rubel rollt. Wie schön wäre es doch für den Moloch, wenn er solche Meldungen wie diese in die mediale Schein-Welt hinausschleudern dürfte: Kate Moss (aktueller Body-Mass-Index 16,9) erschießt ihren Ex-Geliebten Pete Doherty in der Empfangshalle des Berliner Hotels Adlon; Königin Elisabeth II. von England gibt zu, den Mord an ihrer Ex-Schwiegertochter Diana in Auftrag gegeben zu haben, weil sie diese beim inzestuösen Geschlechtsverkehr mit Enkel William im Buckingham-Palast ertappt hatte; die Pariser Zeitschrift Paris Match veröffentlicht das Faksimile eines Vertrags von Zinédine Zidane mit dem italienischen Fußball-Dachverband Federazione Italiana Giuoco Calcio (F.I.G.C.), aus dem hervorgeht, dass sein legendärer Kopfstoß gegen Marco Materazzi kurz vor Schluss des Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Berlin verabredet und mit sieben Millionen Euro honoriert wurde.

Das wollt ihr doch hören, oder? Auf Sensationsnachrichten dieses Formats müsst ihr lüstern-lechzenden Fans wohl noch ein Weilchen warten. Aber sie werden kommen – so oder so ähnlich. Wartet ’s nur ab! Und dann? Was habt ihr davon? Ich würde euch so gern verstehen. Aber ich bin wohl zu dumm dazu.

[Dieses Posting erschien zuerst am 30. August 2008 bei Westropolis unter gleichem Titel. Es erscheint hier ungekürzt und wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog nur geringfügig überarbeitet. Das Titelfoto stammt vom Revierflaneur.]

Zwiegespräche mit Schriftwerkern

Friday, 17. June 2011

Als ich vor drei Wochen mit großem Vergnügen die Schriftsteller-Interviews aus der Paris Review in der soeben erschienenen deutschen Übersetzung las, da fragte ich mich, warum es in Deutschland kein ähnlich ambitioniertes Unternehmen gab und gibt: Autoren nicht nur en passant zu befragen, wie es regelmäßig in unseren Zeitungs-Feuilletons geschieht, meist anlässlich des Erscheinens eines neuen Buches; sondern grundsätzlicher, zu ihrer Arbeitsweise, ihren Schreibtechniken, ihren innersten Anliegen, ihren Vorbildern und so weiter. Als einziges ungefähr dem amerikanischen Vorbild angenähertes deutsches Beispiel fielen mir spontan die Werkstattgespräche mit Schriftstellern ein, die Horst Bienek Anfang der 1960er-Jahre mit 15 zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftstellern geführt hat (München: Carl Hanser Verlag, 1962).

Dieses Buch war für mich eine wichtige Orienierungshilfe, als ich mir als lesehungriger 15-Jähriger einen Überblick über die damals modernen Autoren verschaffen wollte. Das Wörtchen „modern“ bezeichnete für mich die conditio sine qua non bei der Auswahl meines Lesestoffs in der Stadtbibliothek. Aus einem naiven Vorurteil heraus lehnte ich alle ältere Literatur ab. Ich war überzeugt, dass mir nur lebende Autoren etwas über die gegenwärtige Welt würden sagen können, am besten noch junge lebende Autoren. Warum sollte für Bücher nicht gelten, was doch auch für alle anderen Industrieprodukte galt? (Dass nämlich nur das jeweils Neueste, Modernste für den Zeitgenossen das Beste und Brauchbarste sein konnte.)

Es überforderte mich allerdings, Romane von allen 15 Autoren zu lesen, die Bienek interviewt hatte. Darum nahm ich einige in die engere Wahl, die mir den Gesprächen nach zu urteilen am meisten zusagten. Wenn ich mich recht erinnere, gefielen mir Alfred Andersch und Martin Walser besonders gut, während mir Robert Neumann, Hermann Kesten und Friedrich Sieburg vorkamen, als gehörten sie eigentlich schon nicht mehr in die Gegenwart. Zu unmodern! Ich kann nicht einmal verhehlen, dass ich mich auch von den Porträtfotos beeinflussen ließ, die dem Band beigegeben sind. In diesem Alter ist es wohl verzeihlich, dass man noch sehr auf Äußerlichkeiten achtet. Von Walser lieh ich ein Buch aus – um es schon nach ein paar Seiten wieder aus der Hand zu legen. Was war das denn? Als ich auch im zweiten Anlauf überhaupt nicht mit diesem sonderbaren Büchlein zurechtkam, entdeckte ich, dass ich irrtümlich Prosatexte eines Robert Walser gegriffen hatte, der ja schon längst tot war! Angewidert brachte ich das Bändchen aus der Bibliothek Suhrkamp zurück und entlieh stattdessen Ehen in Philippsburg vom „richtigen“ Walser, ohne indes damit wesentlich mehr anfangen zu können.

Heute nahm ich Bieneks Buch, das ich mir vor ein paar Jahren antiquarisch beschafft hatte, wieder einmal zur Hand. Und was erfahren wir gleich zu Beginn des Vorworts über den „Anlaß“, der den Herausgeber zu seinem Vorhaben angeregt hatte? „Vor Jahren las ich in der amerikanischen Zeitschrift Paris Review ein Interview mit William Faulkner; ein junger Autor, Jean Stein, hatte den amerikanischen Romancier besucht und mit ihm über ,Werkstattprobleme‘ eines Schriftstellers gesprochen. Die Antworten Faulkners haben mir ein tieferes Verstehen seiner Yoknapatawpha-Welt ermöglicht, sie waren für mich ein Schlüssel, eine Art authentischen Kommentars zur Struktur seiner Romane: Ich erfuhr mehr daraus als aus allen Essays über ihn.“ (Bienek, a. a. O., S. 7.)

Ich habe das Faulkner-Interview soeben gelesen. Es hat mich in meinem Vorurteil bestärkt, dass Faulkner kein Autor ist, der mich interessieren könnte. Schon die Unverrückbarkeit seiner Standpunkte stößt mich ab, seine maskuline Selbstsicherheit. Dazu passt, dass er voreilig schlussfolgert und sich zu Gegenständen äußert, von denen er offenbar nicht die geringste Ahnung hat. Jean Stein bittet ihn, sich zur Zukunft des Romans zu äußern. “I imagine as long as people will continue to read novels, people will continue to write them, or vice versa; unless of course the pictorial magazines and comic strips finally atrophy man’s capacity to read, and literature really is on its way back to the picture writing in the Neanderthal cave.” (Paris Review No. 12 / Spring 1956.) – Wo ein Bedarf ist, finden sich Leute, die sich dafür bezahlen lassen, ihn zu decken? Das geht noch hin. Aber dass sich, „vice versa“, auch immer Leute finden, die ein Produkt abnehmen, bloß weil es in die Welt gesetzt wird, ist schlicht Blödsinn! Und mit seiner kulturpessimistischen Unkerei, dass die zeitgenössische Menschheit zum Neanderthaler regrediert, wenn sie ihre Kinder Comics lesen lässt, kommt mir Mr. Faulkner vor wie ein bornierter Spießer aus den miefigen 1950er-Jahren.

Heinrich Funke: Das Testament (XVIII)

Thursday, 16. June 2011

Wir werden Zeugen eines Angriffs auf unser Maskenmännchen. Wie aus dem Nichts erhebt sich eine gewaltige Faust, die sich um einen noch gewaltigeren Hammerstiel schließt, an dessen Ende ein noch gewaltigerer runder Kopf ohne Finne droht. Diese Art Hammer nennt man wohl auch Fäustel. Der Treffer mit einem solchen Mordwerkzeug muss jedenfalls verheerend für den Getroffenen sein, selbst wenn er ein ausgewachsenes Mannsbild wäre, von unserem mickrigen Zwerg ganz zu schweigen.

Der Angriff dürfte das Männlein überrascht haben, denn allzu hilflos wirkt seine Abwehrgeste. Es hält die Händchen nicht einmal schützend vor sein maskiertes Gesichtlein, spreizt vielmehr die Ärmchen ganz nutzlos, als wollte es den Hammer zur freudigen Begrüßung empfangen. Zugleich scheint es nach hinten zu fallen.

Wie so plötzlich der gelbe Ball, den der Kleine doch zuletzt vor seinem Bauche getragen hatte, nun urplötzlich hinter seinem Rücken verschwinden konnte, bleibt rätselhaft. Immerhin scheint in diesem Arrangement die Kugel bessere Aussichten als ihr Besitzer zu haben, mit heiler Haut davonzukommen.

Die Frage drängt sich auf: Warum tut der große Unbekannte das? Was veranlasst diesen anonymen Hammerschwinger zu solch brachialer Strafaktion? Hat sich der Kleine etwas zuschulden kommen lassen, dass er solch grausame Bestrafung verdient? Bedenken wir die Vorgeschichte, so mag es scheinen, als habe er die goldene Kugel gestohlen und werde nun, auf frischer Tat ertappt, am Vollzug seines Diebstahls gehindert. Bevor er seine Beute endgültig in Sicherheit bringen kann, wird er erledigt.

Wie dem auch sei: Die Bildunterschrift denunziert das gewalttätige Strafgericht, mit dem wir hier konfrontiert werden, als Ausdruck von Schwäche. Auf das schlimme Kapitalverbrechen schweren Diebstahls folgt ein noch schlimmeres Kapitalverbrechen: Mord. Die Eskalation gehorcht einem Automatismus. Und automatisches Handeln ist schwach.

Immerhin

Wednesday, 15. June 2011

Der Blick ins genau zehn Jahre alte Flourit-Kapitel des Zufall förderte keine neuen Erkenntnisse, sondern bloß ein paar Erinnerungen zutage. Man schreibt das erste Jahr des noch unschuldigen neuen Jahrtausends. Ich erscheine mir im Rückblick wie eine gefangene Motte, die zwischen verschiedenen gefährlichen Flammen hin- und herflattert. Es war noch nicht lange her, dass ich mein Souterrain zugunsten meines Ältesten aufgegeben hatte und in die obere Wohnung gezogen war. Dort schlief und schrieb ich eine Zeit lang im hinteren, zur Terrasse gelegenen Zimmer. Meine Brotarbeit empfand ich fast nur noch als lästige Routine, bei der die einzige Herausforderung darin bestand, eine möglichst heitere Miene zum faden Spiel zu machen. Und über diesem Szenario, das vielleicht tatsächlich bei allem Wohlstand eine Hölle war, lag Tag für Tag der dichte Nebel einer schweren Betäubung. Ich war wohl eine jener bemitleidenswerten Existenzen, von denen man spöttisch sagt, es gehe ihnen zu gut.

Immerhin hatte ich meine Freude an Wortspielen, Witzen und Rätseln noch nicht ganz eingebüßt. Und mein makaberer Humor lag immer auf der Lauer nach einem Bonmot, mit dem ich schlichtere Gemüter aus der Fassung bringen konnte. Um nicht zu versauern redete ich mir ein, dass ich nebenher meine hochtrabenden Projekte vorantrieb. Was war es doch gleich damals noch für eines? Richtig! Vor zehn Jahren wollte ich meine ganz persönliche Bibliothek der Weltliteratur zusammenstellen, bestehend aus tausend Bänden aller Zeiten und Länder, Dichtung so gut wie Philosophie und Wissenschaften umfassend. Und jedes dieser Werke wollte ich überaus gründlich lesen, um im Anschluss einen brillianten Essay zu schreiben, in dem seine Vorzüge, seine Einzigartigkeit und sein Wert für die Zukunft ausgemessen würden.

Vor zehn Jahren hatte ich gerade Theodor W. Adornos Gedankenbuch Minima Moralia aus der Hand gelegt und begann mit der Lektüre von Joseph Roths Roman Radetzkymarsch. Und was wurde daraus? Natürlich nichts Gescheites! Warum sollte auch gerade ich der Mann sein, dem zu jedem der großen Bücher der Weltliteratur etwas einfiele, worauf noch kein anderer gekommen war? Wenn ich mir die zahllosen Projekte vor Augen führe, die ich im Laufe von Jahrzehnten entworfen, eine Weile verfolgt und dann wieder verworfen habe, dann erscheine ich mir wie jemand, der sich selbst unablässig den großen Weltenrichter vorgespielt hat und dabei doch nur ein alberner Hanswurst war, Opfer einer größenwahnsinnigen Selbsttäuschung. Andererseits war ich immerhin nie ganz untätig. Die Pläneschmiederei hielt mich auf Trab. Ich schrieb unentwegt, ich las ein Buch nach dem anderen. Geschadet hat mir das kaum.

Zum Schluss dieses 166. Kapitels schrieb ich, wieder einmal voller Hoffnung auf eine Besserung meines Zustands: „Immerhin habe ich meinen blauen Ohrensessel nun so gestellt, dass ich den Blick frei habe in den Garten; daneben den Schachtisch, den ich allerdings bei nächster Gelegenheit einmal gründlich restaurieren muss. Zu sorgen ist nun vor allem noch für eine optimale Beleuchtung (von oben, von der Konstruktion des Hochbetts herab). Neben den Bleistiften und Karteikärtchen zum Exzerpieren von Zitaten und Gedanken sollen ein Stövchen mit Teekanne, eine Teetasse und eine große Kerze auf dem Schachtischchen Platz finden. – So gerüstet müsste ich das Lesen zu einem Hochgenuss kultivieren können, zum ersehnten Zielpunkt meines Alltags, zur eigentlichen Freude meines Daseins […].“ (Zufall, S. 2656.)

Diese eingeschränkte, trotzige kleine Hoffnung, die ich mit dem Adverb immerhin zum Ausdruck bringe, muss mir wohl reichen: für die Bewertung meiner Vergangenheit ebenso wie für die Einschätzung meiner Zukunftsaussichten. Immerhin lebe ich noch.

Inhaltsverzeichnis zum Zufall

Tuesday, 14. June 2011

Träfe mich der Schlag und mir wäre, den Blick gen Himmel gerichtet, noch ein letzter heller Gedanke vergönnt, so dürfte er die Genugtuung zum Gegenstand haben, auf ein überreiches, geglücktes Leben zurückschauen zu können. Denn das war’s schon längst – und so erlebe ich heute jeden Tag als unverdiente Dreingabe.

Den sprichwörtlichen Baum hab ich bereits als Vorschulkind gepflanzt: eine Birke. Der Wunsch ein Haus zu bauen, dieser Selbstbetrug ewig beständiger Sesshaftigkeit, beschlich mich nie. Kinder sind da, für jeden Finger der Linken eins; und Werke für meine Rechte schon erst recht. Mein Hauptwerk, der Zufall, überraschte mich mit dem unerwarteten Geschenk, sich von mir vollenden zu lassen. Nun schwebt es als blauer Strich dicht unter der Decke meines Arbeitszimmers und wartet auf den neugierigen Nachlassverwalter, der das Monstrum nichtsahnend herab auf den Boden der Tatsachen holt [s. Titelbild]. Seit mir dieser Stein vom Herzen gefallen ist, fabriziere und fabuliere ich munter weiter drauf los.

Gelegentlich juckte es mir in den Fingern, einen Blick in eine dieser 32 blauen Schachteln mit ihren jeweils 160 einseitig beschriebenen Blättern zu werfen. Aber bei einem solchen Eindringen völlig willkürlich vorzugehen, das schien mir doch so, als wollte ich den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Ich vermisste das Inhaltsverzeichnis, denn dann hätte ich mir planvoll Zutritt verschaffen können.

Nun fiel mir dieses Verzeichnis jüngst beim Aufräumen unverhofft in die Hände. Es verzeichnet für jedes der 16-seitigen Kapitel den Titel, die Zahl seiner Absätze, die Nummern der Abbildungen und Fußnoten und schließlich – sehr wichtig! – das Datum des Beginns und das der Beendigung seiner Niederschrift. (Der Zufall entstand vom 23. März 1994 bis zum 18. Dezember 2005.)

Nun könnte ich also einen Rückblick exakt aus der Distanz eines Dezenniums wagen, wenn ich denn wollte. Am 15. Juni 2001 begann ich mit der Niederschrift des 166. Kapitels, Fluorit (S. 2641-2656). Es enthält die Absätze 4470 bis 4503, eine Abbildung und eine Fußnote. Beendet habe ich es am 30. Juni. Ob ich mich auf dieses Abenteuer einlasse, werde ich erst morgen entscheiden. Möglicherweise bin ich entsetzt? Vielleicht habe ich mich seit Jahren über die Qualität dieses vermeintlichen Haupt- und Meisterwerks getäuscht?

Meine kleinen Idiosynkrasien (II)

Monday, 13. June 2011

[6] Hunde, die wie die Karikaturen ihrer Halter aussehen, sich wie diese bewegen, benehmen und sogar ganz ähnlich bellen wie die jeweiligen Frauchen bzw. Herrchen sprechen. (Dies kommt sehr häufig vor, ist vielleicht sogar die Regel, was man bemerken wird, sobald man sich erst mal angewöhnt hat, darauf zu achten. Dann aber wird man diesen Vergleichszwang nach meiner Erfahrung nicht mehr los.)

[7] Unentschiedene Witterungen, sowohl in klimatischen als auch in sozialen Zusammenhängen. Eine Gewitterneigung, die ums Verrecken nicht zum Donnerwetter führen will; ein Konflikt, der in der Luft liegt, aber nicht zur Sprache kommt.

[8] Die Frage „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?“ (Besonders nervend als Einleitung zu einer Frage, die sich als völlig banal und jedenfalls harmlos entpuppt, schlimmstenfalls noch mit dem Zusatz: „Aber Sie nehmen es mir auch ganz bestimmt nicht übel?“)

[9] Hundegebell. Je länger anhaltend, desto.

[10] Eklige Postwurfsendungen zu Reklamezwecken. (In letzter Zeit beonders unerträglich knatschbunte Werbung von Vorbeibringpizzerias mit schlechten Fotos von Pizza con Cozze [s. Titelbild].)

Meine kleinen Idiosynkrasien (I)

Sunday, 12. June 2011

[1] Etwas unterm Schuh, das noch zu leben scheint. Quietscht es nicht gar? Ich trete fest auf, nun quietscht es noch lauter. (Allerlei Bilder von schwer verletzten Küken drängen sich mir auf.)

[2] Kirchenglocken in der Großstadt, die glaubwürdig so klingen, als würden sie noch von Hand geläutet. Von schwieligen, schrundigen Händen.

[3] Handgemachte Kitschartikel mit okzidentaler Symbolik (Nikoläuslein, Osterhäschen u. dgl.), gefertigt in Fernost mit maschineller Gefühllosigkeit.

[4] Touristische Hobbyfotografien von schneebedeckten Bergen, azurblauen Seen; von äsenden Rehkitzlein auf sonnenbeschienenen Lichtungen, imposanten Konzernzentralen und pittoresken Elendsvierteln; von einander zuprostenden Reisebekanntschaften, urigen Straßenmusikanten und anderem fröhlichen Gesindel – kurz: Beweisfotos der fatalen Gemütsverzerrungen ihrer Hersteller.

[5] Blüten-, Schmetterlings- u. ä. Naturmuster auf Klopapier [s. Titelbild].

Zu fünf Aphorismen von Karl Kraus

Saturday, 11. June 2011

„Ich höre Geräusche, die andere nicht hören, die mir die Musik der Sphären stören, die andere auch nicht hören.“ (A 1250) – So oder ähnlich empfinde auch ich meine einsame Extravaganz. Gehe ich in Gesellschaft wo andere lachen, graust es mich. Wenn ich dort von meinen Ängsten erzähle, ernte ich Gelächter. Ich fliehe in den Wald, wo mir alle paar Meter austauschbare Menschen begegnen, die sich per Handy mit ihren fernen Nächsten austauschen. Noch wenn ich einsam in meiner Stube grüble, bebrüte ich die Erinnerung an diese Karikaturen der Geselligkeit und Naturverbundenheit. Wo diese alles zu sein bemüht sind, sind sie nichts; während ich nichts hermachen möchte, kommt mich alles an.

„Wenn ich mir die Haare schneiden lasse, so bin ich besorgt, daß der Friseur mir einen Gedanken durchschneide.“ (A 1975) – Es sind aber nicht bloß die Friseure, die durch ihr Geklapper und Geschnatter Zusammenhänge vernichten, verzweigte Gedankengebäude zu Kleingedrucktem zerlegen und Tabula rasa mit Denksystemen machen, als wären sie bloß Wasserdampf überm Herd. Die Alltäglichkeit der Alltäglichen tötet alles Erhabene wirksamer denn jeder Bildersturm.

„Die deutsche Bildung sollte nicht geleugnet werden. Nur muß man auch wissen, daß die kein Inhalt ist, sondern ein Schmückedeinheim.“ (A 500) – Das war einmal. Auch heute schmückt der Mann von Welt sein Heim, aber nicht mehr mit hohler Bildung, sondern mit prallen Abzeichen seiner Zeitgemäßheit, zu Deutsch: Design.

„Sexuelle Aufklärung ist jenes Verfahren, wodurch es der Jugend aus hygienischen Gründen versagt wird, ihre Neugierde selbst zu befriedigen.“ (A 1730) – Neugierde gilt immer noch als staatsgefährdend, aber die totale Aufklärung hat mittlerweile alle reizvollen Geheimnisse so vollständig eliminiert, dass die jugendlichen Abenteurer nicht den geringsten Anlass mehr finden, sich in Gefahr zu bringen.

„In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache.“ (A 1390) – Das verstünde ich wohl nur, wenn es in einer anderen Sprache gesagt worden wäre.

[Karl Kraus zu Ehren, dessen Todestag sich morgen zum 75sten Mal jährt.]

Die vergebliche Flucht

Friday, 10. June 2011

Über Auschwitz habe ich viel gelesen; vermutlich mehr, als einem Menschen verträglich ist, wenn er sich einen unbefangenen Blick auf seine Mitmenschen erhalten will. Was in der Vergangenheit geschah, ist ja niemals vorbei. Und was Menschen einander einmal angetan haben, das kann sich jederzeit wiederholen, ganz gleich, mit welchen Nie-wieder-Mantras wir uns unterdessen in den Schlaf wiegen mögen. Die einmal ausgemessenen Dimensionen des Schrecklichen kann keine Macht der Welt wieder zurechtstutzen auf ein erträglicheres Maß. „Bewältigen“ kann man das Geschehene nicht, ebensowenig den Tätern verzeihen; schon gar nicht, wenn man zu den Opfern gehörte wie Rudolf Vrba, dessen zuerst 1963 in englischer Sprache erschienene Erinnerungen I Cannot Forgive der Verlag Schöffling & Co. im vorigen Jahr in einer kommentierten Neuübersetzung herausgegeben hat.

Dieses Buch gesellt sich zu den Berichten beredter Augenzeugen wie Imre Kertész (15 Jahre alt bei der Ankunft in Auschwitz), Primo Levi (24), Wieslaw Kielar, Tadeusz Borowski oder Shlomo Venezia (alle 20), die jeder auf eigene Weise versucht haben, das Grauen dieses Un-Ortes in veröffentlichten Erinnerungen begreifbar zu machen. Der gebürtige Slowake Rudolf Vrba (eig. Walter Rosenberg) kam als 17-Jähriger über das Vernichtungslager Maidanek nach Auschwitz und überlebte dort in verschiedenen Teilen des Lagers und in unterschiedlichen Positionen nahezu zwei Jahre, bevor ihm als einem der ganz wenigen Menschen überhaupt am 10. April 1944 mit seinem Mithäftling Alfréd Wetzler die Flucht gelang.

Die meisten konkreten Details seiner Erzählung waren mir aus den vielen Berichten und Beschreibungen des größten Menschenvernichtungslagers der Geschichte bekannt. Dennoch hat mich die Lektüre dieses Buches noch einmal auf eine Weise berührt und verstört, wie ich es nicht erwartet hätte und auch nicht leicht erklären kann. Gewiss trägt hierzu bei, dass Vrba seine Leidens- und Kampfgeschichte so lebendig und in allen grauenhaften Einzelheiten so nachfühlbar erzählt, dass man ihm nur atemlos folgen kann. Obwohl man weiß, dass es für ihn gut ausgehen wird, zittert man doch mit ihm bei den Vorbereitungen seines Ausbruchs und fühlt intensiv die ständige Bedrohung, der er sich damit aussetzt. Aber dies allein kann es nicht gewesen sein, was das Buch für mich von ähnlichen Zeugnissen unterscheidet. Es klingt vielleicht makaber, wenn ich es so sage, aber ich weiß keinen passenderen Ausdruck. Der Liebe zum Detail ist es vermutlich zu verdanken, wenn ich als Leser meine Zuflucht nicht in einem panoramatischen Blick aufs Ganze dieses Höllenschlunds nehmen konnte. Die Sinnlichkeit, mit der Vrba konkrete Dinge Gestalt annehmen lässt, macht es uns unmöglich, Distanz zu den Ereignissen zu beziehen, die sich dort zutrugen. [Das Titelbild zeigt eine Armbinde für Oberkapos in den Lagern. Auch ein solch konkreter Gegenstand vermag mich ähnlich zu berühren, wenn ich mir vorstelle, wie weibliche Häftlinge eingesetzt wurden, diese Binden in der Näherei anzufertigen. Vermutlich hing ihr Leben davon ab, dass dies mit tadelloser Sorgfalt geschah.]

Ein Rätsel, das das Buch aufgibt, ist das absolut außergewöhnliche, nahezu unmögliche Schicksal seines Autors. Auschwitz zu überleben war schon eine schier unlösbare Aufgabe. Eine gelungene Flucht hingegen war so selten, dass die Frage sich aufdrängt, wodurch der Glückliche, dem sie gelang, hierzu prädestiniert war. Rudolf Vrba stellt sich selbst diese Frage immer wieder – und findet darauf mehrere Antworten. Alles andere wäre vermutlich auch unseriös, denn eine einzelne Erklärung reicht nicht aus, um so viel Glück glaubhaft zu machen. Der junge Mann hatte tatsächlich unglaublich viel Dusel, indem er etwa zahllose lebensgefährliche Situationen mit knapper Not hinter sich brachte, oder indem er immer wieder zufällig an die richtigen Leute geriet, die ihm weiterhelfen konnten und wollten, statt ihn zu verraten. Zugleich hatte er aber auch einen unbeugsamen Optimismus und Überlebenswillen. Er ließ sich von Rückschlägen nicht entmutigen und verfolgte sein Ziel mit größter Beharrlichkeit. Für sein Alter war er erstaunlich besonnen, ein hervorragender Beobachter und guter Menschenkenner. Zudem sprach er mehrere Sprachen und konnte sich damit bei Mitgefangenen nützlich machen, die ihm so Dank schuldeten und ihn im Gegenzug unterstützten. Vielleicht war aber der entscheidende Kraftspender zur Verwirklichung seines Vorhabens Vrbas Motiv. Es ging ihm nämlich nicht darum, durch die Flucht sein eigenes Leben zu retten. Wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, dann hätte er sich besser darauf verlegt, ein weiteres Jahr im Schutz der Unauffälligkeit, die er sich antrainiert hatte, im Lager zu überdauern. Die realistische Hoffnung, dass Hitler den Krieg verlieren könnte und die Konzentrationslager von seinen Gegnern irgendwann befreit würden, teilte er mit den politisch organisierten Häftlingen, die besser über das Kriegsgeschehen draußen informiert waren, als ihren allmählich nervös werdenden Bewachern recht sein konnten. Der Fluchtversuch hingegen war ein hochriskantes Vabanquespiel! Darauf ließen sich Vrba und Wetzler nur deshalb ein, weil sie die Weltöffentlichkeit über Auschwitz informieren wollten und hofften, zugleich hunderttausende ungarischer Juden, deren Vernichtung als nächstes auf Himmlers und Eichmanns Programm stand, zum Aufstand gegen ihre bevorstehende Deportation anzustacheln. Dass dies nicht gelang und insofern die Flucht der beiden gemessen an ihrer Absicht vergeblich war, ist die bittere Pointe des Buches. So wie Vrba nicht von Vergebung sprechen kann, ist es vielleicht auch nicht angebracht, es einen Trost zu nennen, dass wir seiner Flucht immerhin dieses außergewöhnliche Buch verdanken. Dankbar sein dürfen wir dem Schicksal hierfür aber immerhin.

Und auch dem Verlag gebührt Dank, dass er dem Buch viel editorische Sorgfalt hat angedeihen lassen. Augenzeugenberichte aus Konzentrationslagern werden ja nicht nur von Holocaust-Leugnern einer besonders kritischen Prüfung unterzogen, was ihre Faktentreue und Objektivität angeht. Auch politisch neutrale Historiker müssen Zeugenberichte von Opfern auf ihre Glaubwürdigkeit hin gründlich prüfen, denn seelische Traumatisierung kann das Gedächtnis auch ohne bewusste Absicht in die Irre führen. So korrigieren Fußnoten der Herausgeber manche Zahlenangaben oder Daten des Autors, ohne dass daraus gegen ihn der Vorwurf ableitbar wäre, er hätte bewusst übertrieben oder Ereignisse verfälscht. Auch die Abbildungen bereichern den Band. Besonders hat mich gefreut, Rudolf Vrba auf Fotos der 1960er-Jahre und danach als einen fröhlichen, selbstbewussten Ehemann und Familienvater zu sehen, dem selbst die Hölle von Auschwitz nicht den Lebensmut hat rauben können.

[Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. A. d. Engl. v. Sigrid Ruschmeier u. Brigitte Walitzek. M. e. Vorw. v. Beate Klarsfeld. Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Dagi Knellessen u. Werner Renz. Mit zahlr. Abb. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, 2000. – ISBN 978-3-89561-416-3 – 28,00 €.]

Heinrich Funke: Das Testament (XVII)

Thursday, 09. June 2011

Nun hat sich also das pummlige Maskenmännchen durch den schmalen Spalt geschoben. Fällt es? Oder ist der Spalt ein Riss im Boden, und wir sehen auf es hinab?

Ganz unmöglich – oder immerhin doch unerklärlich – scheint, wie die große gelbe Kugel ihren Weg durch den Spalt gefunden haben soll. Aber wir wissen ja nicht, was sich zwischen den Bildern zugetragen hat. Vielleicht hat sich ja der Spalt wie bei einer Schiebetür verbreitert.

Es kann uns im Grunde gleichgültig sein. Jedenfalls ist das Maskenmännlein mit dem grimmigen Antlitz jetzt draußen, an der Oberfläche. Seinen Schatz trägt es vor sich her wie die Hochschwangere ihren Bauch. Allerdings schaut es nicht so besorgt oder beseelt drein, wie werdende Mütter es zu tun pflegen, sondern eher kummervoll. Es trägt seine Last nicht mit Stolz und nicht in froher Erwartung, sondern wie der Dieb auf der Flucht vor den Häschern, die ihm schon dicht auf den Fersen folgen mögen.

Wen mag der Pummlige bestohlen haben? Was verbirgt sich in dem sonnengelben Ball? Wo will er damit hin? Wir wissen es nicht. Da wir es nicht wissen können, ist unser Nichtwissen nicht unsere Schuld. Der Künstler zeigt nicht genug, um uns auf solche Fragen eindeutige Antworten zu ermöglichen. Unser Nichtwissen in diesem Falle ist jedenfalls schuldlos.

Schuldhaftes Nichtwissen“ wäre ein solches, bei dem der Ignorante die Erweiterung seines Wissens aus reiner Faulheit verpasst; oder vielleicht auch aus Angst vor der Wahrheit.

Zukünftige Aureole im Rückblick

Wednesday, 08. June 2011

Heute geht es mir dreckig. Krampfartige Schmerzen im Unterbauch, vorwiegend rechts. Blinddarm? Ein heißes Bad bringt vorübergehend Linderung. Der Schmerz kehrt aber bald zurück, und mit doppelter Wucht.

Ich werde in die Notfallambulanz des nächsten Krankenhauses fahren müssen. Dort wird mich ein Dr. (RUS) mit den Worten empfangen, da käme ich ja gerade noch rechtzeitig. Er habe nämlich schon so gut wie Feierabend. Hingelegt, Bein gestreckt, hier gedrückt, da gezogen: „Der Blinddarm ist es nicht!“

Er wird mir dann Novaminsulfon gegen die Schmerzen und weitere Tropfen gegen Motilitäts-Störungen im Magen-Darm-Bereich aufschreiben. Beim Gehen werde ich nach meiner scharzen Tasche greifen, die ich in aller Eile mit dem Nötigsten vollgestopft hatte. Irritiert und amüsiert wird er mich fragen, was ich denn da mit seiner Tasche wolle. Und es wird sich herausstellen, dass wir tatsächlich ganz gleiche Taschen besitzen, von Gardini. Ob ich die vielleicht in der Türkei gekauft habe, will er wissen.

Liegt es nun an der schmerzverschärften Wahrnehmung? Oder begegnen mir in solch inwendig außergewöhnlichen Verfassungen immer die extremsten Abstrusitäten? Die Apotheke mit Nachtdienst, zu der wir den Taxifahrer dirigieren werden, wird jedenfalls eher an eine Zwingburg als an eine Versorgungseinrichtung erinnern. Die Apothekerin wird eine halbe Ewigkeit benötigen, bis sie endlich mit den beiden Medikamenten anrückt. Und sie wird anschließend große Mühe haben, die Tüte mit den Packungen durch die engen Sprossen des Gitters zu quetschen, das sie vorm AIDS-Biss zähnefletschender Rauschgiftsüchtiger bewahren soll.

Tags drauf, also übermorgen, wird es mir nicht wesentlich besser gehen. Immerhin werde ich mich in mein Bücherlager schleppen, um eine Bestellung – Jules Vernes Geheimnisvolle Insel in der Übersetzung von Lothar Baier – ausliefern zu können. Wieder zurück in meinem Arbeitszimmer werde ich feststellen müssen, dass sich in der Mitte meines Gesichtsfelds dauerhaft eine hell leuchtende kreisförmige Erscheinung festgesetzt hat, die bei geschlossenen Augen so aussieht wie im Titelbild skizziert. Ich werde in Panik geraten und mit meinem Hausarzt tefelfonieren, der mir raten wird, einen Augenarzt aufzusuchen. Noch während des Gesprächs wird die Furcht einflößende Aureole sich verflüchtigen. Besonders bemerkenswert werde ich im Nachhinein finden, dass sie, wie in meiner Skizze angedeutet, nicht ganz regelmäßig gewesen sein wird.

Jugendfreundschaft

Tuesday, 07. June 2011

Schon die üblichen Klassentreffen zu runden Abi-Jubiläen habe ich immer gemieden, weil ich die Mehrzahl der Knaben, mit denen ich die Schulbank drückte, nicht wiedersehen möchte. Also bestand für mich auch nie Veranlassung dazu, auf Internet-Plattformen wie StayFriends & Co. nach gründlich vergessenen Jahrgangsgefährten vom Essener Helmholtz-Gymnasium zu fahnden.

Anders verhält es sich mit den wenigen Freunden, die mich in meiner unglücklichen Schulzeit positiv beeindruckt und mich – was noch seltener der Fall war – ein wenig verstanden haben. Einer von ihnen war Dieter Schnack, drei Klassen über mir, Gründer und Chefredakteur der Schülerzeitung Holtzwurm. Bis dahin hatte es an diesem Jungengymnasium nur eine „Schulzeitung“ gegeben, in der kritische Beiträge zum Schulalltag keinen Platz hatten. Nun ließ Direktor Hugo Vollmerhaus gleich die erste Ausgabe des großformatigen Heftes – es erschien 1970 oder 1971 – beschlagnahmen. Der Grund? Eine Karikatur, die die Frage aufwarf, ob wohl ein Mitglied des Kollegiums neuerdings ein Halbperücke trüge. Die Bildunterschrift lautete: “Toupet or not toupet, that’s the question?” Die Antwort war zwar ohnehin längst allgemein bekannt, nachdem der Englisch- und Sportlehrer mit dem Haarersatz beim Kopfsprung vom Zehnmeterbrett einmal seine Bedeckung eingebüßt hatte. Aber zum Thema machen durften es die Schüler nicht, das erfüllte eindeutig den Tatbestand der Beleidigung und Untergrabung der Autorität. Mein bester Freund und ich waren die jüngsten Redaktionsmitglieder der ersten Stunde. Ich steuerte einen Beitrag zum Thema „mens sana in corpere sano“ bei, bestehend aus einer langen Liste von Genies, die alles andere als gesund gewesen waren, weder körperlich noch geistig – und etliche Rauschgiftsüchtige waren auch darunter. (Ich bediente mich dafür großzügig aus einem Essay von Gottfried Benn über Genie und Wahnsinn, aber das merkte einer.) Von Dieters Beiträgen erinnere ich mich noch an einen, indem er sein Befremden zum Ausdruck brachte, dass seine Altersgenossen in der Tanzschule zu dem Anti-Vietnamkriegs-Song Purple Haze von Jimi-Hendrix „ausgelassen herumhopsten“. Diese Ernsthaftigkeit imponierte mir damals sehr.

Nachdem ich die Schule vorzeitig verlassen hatte, verlor ich Dieter Schnack für viele Jahre aus den Augen. Er machte Abitur, studierte Pädagogik bis zum Diplom, schrieb zusammen mit Rainer Neutzling das erfolgreiche Buch Kleine Helden in Not (1990). Ich war unterdessen Buchhändler geworden und leitete die Rüttenscheider Filiale von G. D. Baedeker in Essen. 1993 wurde mir vom Rowohlt-Verlagsvertreter eine Autorenlesung mit Schnack und Neutzling aus ihrem neuen Buch Die Prinzenrolle angeboten. So kam es am 22. Oktober jenes Jahres zu einem Wiedersehen nach gut zwei Jahrzehnten. Wie es so geht, wenn man einen älteren Freund in der Erinnerung idealisiert, konnte dieses Treffen nur enttäuschen. Dieter hatte kaum noch eine Erinnerung an mich, und meine Erinnerungen an ihn schienen ihm nicht zu gefallen. Er glaubte gar, ich müsste ihn mit jemandem verwechseln, denn meine Erzählungen passten so gar nicht auf ihn. In sein Buch schrieb er mir die belanglose Widmung: „Mit den besten Wünschen für Dich und die Deinen!“

Nachdem nun weitere 18 Jahre ins Land gegangen sind, fiel mir unlängst ein drittes Buch in die Hände, dass er wieder gemeinsam mit Rainer Neutzling verfasst hatte: „Der Alte kann mich mal gern haben!“ Es erschien 1997 als rororo-Taschenbuch. Ich wollte wissen, ob inzwischen die Liste seiner Veröffntlichungen noch länger geworden sei, und gab seinen Namen in den Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek ein. Dort findet man neben den bibliographischen Angaben auch einen knappen „Steckbrief“ zu jedem Autor: „Schnack, Dieter | auch Schnack-Jürgens, Dieter | Diplom-Pädagoge und Journalist | 1953-2000.“ Dass Schnack verheiratet war, wusste ich. Aber dass er nicht mehr lebt, weiß ich erst seit eben. Gerade mal 47 Jahre alt ist er also geworden. Sein Ko-Autor erwähnt in irgendeinem Vortrag, den man auch im Internet findet, dass Dieter Schnack nach langem Kampf an Krebs gestorben ist.

Die Prinzenrolle ist ein außergewöhnlich offenes und ehrliches Buch über die männliche Sexualität, gerade auch des männlichen Kindes. Natürlich beschränkt es sich lokal auf die mitteleuropäische Zivilisationssphäre und temporär auf die Lebenszeit meiner Generation, wobei die Generation unserer Eltern und die unserer Kinder natürlich mit in den Blick genommen wird. Im Rückblick auf die eigene Erziehung suchen die Autoren nach Erklärung, im Hinblick auf die Erziehung unserer Kinder nach Möglichkeiten der Befreiung. Insofern ist Die Prinzenrolle eine späte und reife Frucht jener sexuellen Revolution, die mit Volkmar Sigusch, Gunther Schmidt, Ernest Bornemann und dem jüngst tragisch verunglückten Günther Amendt mit den 68ern ihren Anfang nahm. Es bleibt im Bestand meiner via „Antiquariat Revierflaneur“ ständig schrumpfenden Bibliothek.

[Titelbild: Dieter Schnack, Rainer Neutzling und der Revierflaneur (v. l.) am 22. Oktober 1993 in der Stadtbibliothek Essen.]

Und heute: das Wetter!

Sunday, 05. June 2011

Fast in jedem 23sten meiner bisherigen Artikel dieses Weblogs kommt das Wetter vor. Und das sind bloß die Präsenzen expressis verbis. Wenn ich noch die Postings zählen wollte, bei denen meine Stimmung indirekt durch das Wetter eingetrübt wurde, dann käme ich vielleicht gar auf fünfzig Prozent!

Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich bin keineswegs wetterfühlig. Zwar habe ich gelegentlich vor aufziehenden Gewittern gegen Migräneattacken zu kämpfen, aber die können ebensogut durch den Geruch von faulen Kartoffeln, Schlagermusik, Karnevalsjecken, erzwungenes Beisammensein mit langweiligen Menschen und noch tausenderlei andere Umstände mehr verursacht werden.

Was mich je nach Tagesform belustigt oder in Rage versetzt, das ist keineswegs das unschuldige Wetter selbst. Das arme Wetter kann ja schließlich nichts dafür, dass es so ist wie es gerade nun mal ist. Vielmehr ist ’s das öffentliche Gerede meiner Mitmenschen über das Wetter, dass mich zuverlässig jedesmal aus dem Gleichgewicht bringt, wenn ich zum unfreiwilligen Ohrenzeuge dieser Jammerarien werde. Insofern ahne ich schon, was in den kommenden Tagen auf mich zukommt.

Ende Mai waren die Warnungen der Meterologen nicht mehr zu überhören: Deutschland sei nach einem relativ harten Winter und einem außergewöhnlich trockenen Frühjahr einer echten Dürregefahr ausgesetzt, die nicht nur der Landwirtschaft schwerste Schäden zufügen, sondern sogar das Wasser zum Kühlen der Kernkraftwerke knapp werden lassen könnte.

Nun könnten wir seit ein paar Tagen eigentlich aufatmen, denn für die kommende Woche werden für weite Teile Deutschlands Gewitter mit ergiebigen Niederschlägen vorausgesagt, die hoffentlich für die ausgedörrten Böden mehr bringen werden als den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. Ich weiß aber jetzt schon, dass gleichzeitig mit den ersten Regentropfen, die vom Himmel fallen, das große Lamentieren unter den Schirmen wieder anheben wird, was das den für ein Sommer sei? Dieses Wetter könne einen ja geradezu schwermütig werden lassen. Jetzt sei es mal ein paar Tage sonnig gewesen – und nun das! Was sich der Petrus wohl dabei wieder gedacht habe? (Diese Ignoranz gilt mir als weitere Bestätigung für meine alte Überzeugung, dass die tagesaktuelle Informationsflut aus Medien wie Radio oder Fernsehen keineswegs geeignet ist, bei den Empfängern eine halbwegs vernünftige, reflektierte Einstellung zu den schlichtesten Zusammenhängen ihres alltäglichen Lebens zu fördern. Durch die tägliche Dauerflutung des Bewusstseins mit Fakten, Fakten, Fakten geht jedes Denken in Zusammmenhängen und über den Tag hinaus den Bach runter.)

[Regenzeichnung: Revierflaneur.]

Bilddeutung (II)

Saturday, 04. June 2011

Das könnte tatsächlich die Rückseite des Tores aus dem vorigen Bild sein; die Innenseite des geheimnisvollen Gebäudes. Leider wird mir kein Blick hinein in den Raum oder eher Saal gewährt, sondern ein Blick in die Gegenrichtung, auf den Eingang, durch dessen glaslose Fensterschlitze das grelle Tageslicht hineindringt und mich beinahe blendet.

Ein großer schlanker junger Mann hat die Tür in der Mitte einen Spalt weit geöffnet. Noch hält er wohl die Klinke in der Hand. Er steht auf der Schwelle und späht hinein.

Auch hier sind wieder Fässer zu sehen, verschiedener Größe, nebeneinander und aufeinandergestapelt. Links lehnt ein großes Brett oder eine schmale Kiste an der Wand, wenn es dort eine Wand gibt. Woran lehnt das Ding aber sonst? Das bleibt ein Rätsel, aber ein vermutlich unbedeutendes, an dessen Auflösung niemandem gelegen sein kann. Auf einigen Fässern stehen Flaschen unterschiedlicher Größe und Form. Sie mögen leer sein oder verschiedene Flüssigkeiten enthalten, das geht uns nichts an. Immerhin mag das kleinste Fläschchen ein konzentriertes Gift enthalten. Na, und? Niemand zwingt den Mann, davon zu trinken. Dumm ist er nicht, er würde daran schnuppern, bevor er einen Schluck nähme. Dann käme ihm der stechende Geruch, den es doch wohl ausströmte, gewiss verdächtig vor, und er würde es beiseitestellen oder gar an die rückwärtige Wand schleudern, knapp über meinen Kopf hinweg, wo es zerschellte. Aber mich schert das Fläschchen erst recht nicht, ob es nun Gift enthält oder nicht, ob es an seinen Platz zurückgestellt wird oder in meine Richtung geschleudert. Ja, nicht einmal das kann mich erschrecken. Es ist ja nur ein Bild, oder?

Der Mann trägt einen dunklen Anzug. An seinem erschreckend schlanken Hals zeichnet sich ein feiner weißer Hemdkragen ab. Ich möchte sagen: ,Aber kommen Sie doch herein, Herr Baron! Nur keine Scheu! Treten Sie näher!‘ Ich höre geradezu meine leicht meckernde, leicht drohende Stimme.

Der Herr zögert. Er scheint etwas zu fürchten. Vielleicht ist es nur, dass er nicht sicher ist, ob er mit seinem Eindringen eine Indiskretion begehen würde. Vielleicht ist es seine Vornehmheit, die ihm eigentlich verbietet, fremde Räume uneingeladen zu betreten. Aber warum hat er dann die Tür überhaupt geöffnet? Vielleicht war es Neugier. Neugier gilt ja längst nicht immer als lauteres Motiv für eine Handlung. Wer ungebeten ein fremdes Geheimnis lüftet, muss damit rechnen, dass sich ihm etwas offenbart, wovon er lieber keine Kenntnis erhalten hätte. Leider können wir den Gesichtsausdruck des Mannes nicht entschlüsseln. Das Bild ist zu unscharf, zudem liegt sein Antlitz im Halbschatten.

Bilddeutung (I)

Friday, 03. June 2011

Vielleicht hat mich die Interpretation von Heinrichs Testament auf den Geschmack gebracht? Neuerdings kann ich jedenfalls oft der Versuchung nicht widerstehen, mir einen vielleicht spinnerten, vielleicht bezwingenden Reim auf Bilder zu machen, die mir hier und da zu Gesicht kommen. Es handelt sich dabei um ganz unterschiedliche Bilder, Fotos so gut wie Gemaltes, Kunstwerke neben Trivialem. Ich sage mittlerweile schon zu mir selbst: ,Das ist wieder eins!‘ (Nämlich ein Bild, das sich wünscht, von mir gedeutet zu werden.) Also fange ich heute einfach mal damit an.

Dieses Tor hat offenbar seine besten Zeiten schon gesehen. Die zum größeren Teil zerdepperten Scheiben lassen vermuten, dass der Raum dahinter nicht mehr zur Lagerung von Dingen genutzt wird, die keine Feuchtigkeit vertragen. Um welche Art Raum mag es sich handeln? Vielleicht um eine Scheune? Eine Lagerhalle? Vielleicht um einen Stall?

Am rechten Bildrand erkennt man gerade noch, dass es dort wohl ein genau gleich großes Tor gibt. Bilde ich es mir nur ein, dass wir uns hier einem landwirtschaftlich genutzten Gebäude gegenübersehen? Schließlich könnte es ja auch eine industrielle Lager- oder Produktionshalle sein. Oder doch immerhin um eine handwerkliche Arbeitsstätte, etwa eine Schmiede oder Küferei? Vor dem rechten Torflügel liegt immerhin etwas, das aussieht wie ein Fass. Was es enthält, kann ich nicht einmal erraten, denn ich weiß nicht, welche Art Fass das ist. Und links daneben scheint ein weiteres Fass zu stehen, auf dem ich noch ein weiteres Fässchen gewahre. Das könnte aber auch ein Eimer sein. Jedenfalls ist das Gemäuer alt. Heute würde man Eingangstore kaum mehr mit einem solchen Rundbogen bauen. Ich bin kein Fachmann für Architekturgeschichte, aber doch ziemlich sicher, dass dieses Bauwerk mindestens hundert Jahre alt ist.

Waagerecht läuft ein schwarzer Strich durchs Bild. Da er sich über das Mauerwerk ebenso erstreckt wie über das Holz des Tores, handelt es sich vermutlich um einen Strich auf dem Foto, nicht in der Wirklichkeit. Oder doch? Vielleicht ist ja dort in einigem Abstand zum Hintergrund ein schwarzes Seil gespannt. Aber warum? Außerdem gibt es zahlreiche, feinere vertikale Striche, in unregelmäßigen Abständen und von verschiedener Länge und Stärke. Es könnte sich also um ein Foto aus einem Film handeln. Das wäre doch was! Kintopp auf dem Bauernhof.

Den Anblick des Gemäuers mit dem ramponierte Zugang zu einem ungewissen Innenraum empfinde ich als unangenehm. Ich wüsste gern und doch wieder nicht, was sich hinter diesem Tor verbirgt. Ich weiß nicht, ob ich das Tor öffen würde, wenn es mir im wirklichen Leben und nicht bloß auf einem Bild begegnete. Vielleicht würde ich sogar der Versuchung widerstehen, wenigstens einmal einen kurzen Blick durch einen der zerborstenen Fensterschlitze zu werfen. Offenbar möchte ich mir nicht vorstellen, welcher Anblick sich mir hinter diesem Tor böte.

Heinrich Funke: Das Testament (XVI)

Thursday, 02. June 2011

Offenbar erschließt sich die Bedeutung der sieben Blätter XIV bis XX aus Heinrich Funkes Testament wenn überhaupt dann erst aus ihrem Zusammenhang. Schon die große gelbe Kugel in den letzten sechs dieser Bilder legt ja nahe, dass sie zusammengehören. Ich beschränke mich darum hier einmal auf Fragen, in der Hoffnung, dass sich die Antworten schließlich aus der Gesamtschau der Serie ergeben werden.

„Die Welt wird euch hassen“ – das lässt sich je nach Tonfall als nüchterne Ankündigung, prophetische Vorhersage oder flammende Warnung, ja gar als Drohung lesen. Wie ist es gemeint? Und wer ist der Verkünder dieser Information oder Botschaft? Und wer ist mit „die Wel“ gemeint? Vermutlich die Menschheit. Aber warum heißt es dann nicht: „Die Menschen“ oder „Alle anderen Menschen“ oder „Die Mehrheit der Menschen werden Euch hassen“?

Andererseits sind die Adressaten der Botschaft ebenso fragwürdig. Offenbar sind sie zugleich das Ziel dieses künftigen Hasses. Aber um welche Gruppe von Personen handelt es sich dabei? Und durch welche Eigenschaft oder Verhaltensweise ziehen sie sich den Hass zu, von dem hier gesprochen wird?

Schließlich stellt sich noch die Frage, wie sich dieser Hass äußern wird, welche Konsequenzen er für die Gehassten hat und wie sie sich zu ihm verhalten können, doch das führt vielleicht schon zu weit über dieses Bild und seine Aussage hinaus.

Eine letzte Frage muss aber noch hinzukommen – und sollte vielleicht prinzipiell bei allen Bildern des gesamten Werkes noch deutlicher in den Vordergrund gestellt werden: Was ist die Intention der Fragen, Aussagen, Behauptungen unter den Bildern?

Nistgewohnheiten von Stadtvögeln

Wednesday, 01. June 2011

Die schmalen Streifen Restnatur, die sich in der Großstadt gegen die Totalherrschaft menschlicher Artefakte so gerade noch behaupten können, verbergen mitunter unerwartete Geheimnisse, Rätsel und Gefahren.

So beobachtete ich heute einen dunklen Vogel mittlerer Größe, der mit einem Sträußlein dünner Zweige im Schnabel in einem Buschwerk verschwand, das über einen Zaun am Rande eines Fußwegs herabquillt. Diesen Ort suche ich nahezu täglich auf, wenn ich mit unserer Hündin Gassi gehe.

Leider bin ich ornithologisch zu wenig bewandert, um mit Gewissheit sagen zu können, um welche Art Vogel es sich handelte. Er hatte etwa die Größe einer Schwarzdrossel, allerdings keinen gelben Schnabel, auch war sein Gefieder nicht tiefschwarz, sondern eher dunkelgraubraun. Und zudem schien er mir etwas schlanker, als Drosseln gewöhnlich sind. Immerhin begriff ich auf den ersten Blick, dass dieser Vogel mit seinem Nestbau beschäftigt war. Und da er aus dem Gebüsch nicht wieder auftauchte, folgerte ich, dass das Nest sich offenbar dort verbarg.

Mein nächster Gedanke war, dass dem zu erwartenden Nachwuchs des Vogels vielleicht Gefahr drohen könnte, wenn sich der Zaunbesitzer einfallen ließe, demnächst besagtes Gebüsch zu stutzen. Sollte ich den Mann, den ich vom Sehen kenne und der mich entfernt an Pettersson erinnert, warnen? Dann fragte ich mich, wie lange eigentlich ein solcher Vogel für den Bau seines Nestes benötigt, wie lange er brütet und wie lange es schließlich dauert, bis die Brut ihr Nest verlässt? Insgesamt drei Wochen? Oder eher drei Monate? Ich stellte wieder einmal fest, dass ich in solchen Dingen nicht die Spur einer Ahnung habe. Warum auch? Für mich hing ja tatsächlich in meinem bisherigen Leben nichts davon ab. Jetzt aber stand im schlimmsten Fall das Leben einiger gerade erst geborener Vögel auf dem Spiel!

Also sah ich bei Wikipedia nach, mangels zuverlässiger Klassifizierung unter Schwarzdrossel. (Dass dieser Vogel mit der Amsel identisch ist, war mir auch noch nicht klar.) Was ich dort über Neststandort und Nestbau dieser Vögel erfuhr, fand ich ausgesprochen interessant, so die Vorliebe für runde Buchstaben und die Abneigung gegen die Farbe Rot. Jetzt weiß ich, dass das Weibchen zwei bis fünf Tage für den Nestbau benötigt, ein bis drei Tage vergehen bis zur Eiablage. Die einzelnen Eier, vier bis fünf an der Zahl, werden im Abstand von 24 Stunden gelegt. Die Brutdauer liegt zwischen 10 und 19 Tagen, im Mittel bei 13 Tagen. Die Nestlinge sind etwa 13 bis 15 Tage nach dem Schlüpfen in der Lage, das Nest zu verlassen. Angenommen, „mein“ Vogel hätte gerade heute erst mit dem Nestbau begonnen, dann müsste ich sicherheitshalber dafür Sorgen, dass diese hängende Hecke sieben Wochen lang nicht beschnitten wird, also frühestens am 20. Juli. Ich werde mit Pettersson reden müssen.