Findling (II)

platz2

Mein Bekenntnis zum Leben in dieser Unstadt namens „Revier“ gilt unverbrüchlich, trotz aller Anfeindungen selbst von Teilen meiner Nachkommenschaft, die mir verübeln, ihnen solch einen vermeintlich gesichts- und geschichtslosen Siedlungsraum zur Kulisse ihrer Kindheit und frühen Jugend aufgenötigt zu haben. Ich selbst fand es immer eher zweckdienlich, aus der Lokalität meiner Herkunft gerade keinen Stolz ableiten zu können. Die Städte, die hier zu einem großen Klumpatsch auf die hügelige Wald- und Wiesenlandschaft geschüttet wurden, gehen ineinander über und haben insofern nicht einmal eine Grenze. Wenn ich mit meinen Eltern Mitte der 1960er-Jahre aus dem Urlaub von der holländischen Nordseeküste heimkehrend in dieses Revier unter den grauen Himmel von Marxloh und Sterkrade abtauchte, dann wusste ich nie genau, ob ich nun noch in Oberhausen oder schon in Mülheim war.

So knüpfte sich mein Heimatgefühl immer schon einzig an den unmittelbaren Umkreis meiner jeweiligen Wohnstätten, Arbeitsplätze und Einkaufsgelegenheiten. Ich denke, man könnte mich in jede beliebige Stadt der Welt versetzen, ich würde es nirgends anders halten und mich nach einer Gewöhnungszeit von etwa einem halben Jahr dort heimisch fühlen. Und wozu soll denn übrigens auch sonst eine Stadtlandschaft gut sein, wenn nicht zur möglichst bequemen, möglichst unauffälligen Bereitstellung der fundamentalen Lebensgrundlagen? So wie ich im Traum nicht daran denke, meinen Schlafplatz in einem Museumssaal einzurichten, so wenig verlangt es mich danach, inmitten von Sehenswürdigkeiten beheimatet zu sein, die ohne Unterbrechung von einer Meute knipsender und juchzender Touristen heimgesucht werden. Venedig kann sehr kalt sein? Venedig markiert vielmehr schon lange den absoluten Minuspunkt sozialer Thermik.

Der Wartberg-Verlag in Gudensberg-Gleichen hat zwei erfolgreiche Buchreihen aufgelegt, die dem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen, sich im gleichförmigen Strom der Zeit und im konturlosen Einerlei ihrer lokalen Herkunft doch in einer individuellen Besonderheit wiedererkennen zu können. Auf dass ich mich in meinem zufällig vor bald 54 Jahren begonnenen irdischen Dasein nicht ganz so einsam fühle, bietet mir der Wartberg-Verlag den Band Wir vom Jahrgang 1956 – Kindheit und Jugend an. Und damit ich weiß, dass ich als Kind und Jugendlicher in meiner Heimatstadt nicht ganz so einsam war, wie ich mich zeitweise fühlte, gibt es aus dem gleichen Verlag das Büchlein Aufgewachsen in Essen in den 60er und 70er Jahren. In diesen beiden reich illustrierten Bänden wird mir zum Gesamtpreis von 25,80 € das lauwarme Gefühl einer Gemeinschaftlichkeit angetragen, die sich allerdings bei näherer Einlassung eher als Wechselbad erweist. Vielleicht rührt diese Ambivalenz ja aber auch bloß daher, dass ich eben kein „waschechter Essener“ bin wie Walter Wandtke, der Journalist und Autor letztbesagten Büchleins, der laut Klappentext seit 20 Jahren das Essener Stadtgeschehen beobachtet und mich mitnehmen will „auf eine authentische Reise durch die Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre“ in meiner Vaterstadt.

Wenn die persönliche Ursprungsstätte schon so gar nichts an außergewöhnlichen Besonderheiten aufzuweisen hat, dann müssen eben wohlfeile Wiedererkennungswerte über den Frust hinwegtrösten, aus einer Gegend zu stammen, die im internationalen Vergleich eher als No-Name-Produkt durchs Raster anspruchsvollerer Provenienzwettbewerbe fällt. „Essen – Die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt!“ So verspricht es uns Essenern der Wartberg-Verlag auf der Rückseite seines „Aufgewachsen-in-Essen“-Buchs. Aber der gleiche Slogan steht mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auch auf den übrigen Büchern der Reihe: „Aachen, Aschaffenburg, Bamberg, Bielefeld, Bochum, Bonn, Braunschweig, Bremen, Celle, Chemnitz, Darmstadt, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Freiburg, Fürth, Gelsenkirchen, Gera, Gießen, Göttingen, Halle, Hamburg, Hamm, Hannover, Heilbronn, Ingolstadt, Jena, Kaiserslautern, Karl-Marx-Stadt, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Köln, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Ludwigshafen, Lüneburg, Mainz, Mannheim, München, Münster, Neuss, Nürnberg, Ost-Berlin, Paderborn, Pforzheim, Regensburg, Rostock, Schwerin, Solingen, Ulm, Velbert, West-Berlin, Wiesbaden, Wolfenbüttel, Wuppertal und Würzburg – die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt.“

Mit gleichem Recht könnte man etwa auch sagen: Nichts ist gleichförmiger als die vermeintliche Differenz! Oder noch allgemeiner: Nichts ist trivialer als des Menschen sterbliches Streben nach Originalität.

[Titelbild: © Stadtbildstelle Essen, hier als Ausschnitt gescannt von dem besprochenen Band © Wartberg-Verlag.]