Archive for January, 2009

Turm

Saturday, 31. January 2009

Heute, am Monatsletzten, beende ich die Bettlektüre eines Buches, die ich am Neujahrstag begonnen habe: Uwe Tellkamps Der Turm (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008). Der Roman bringt es auf knapp tausend Seiten und ist insofern eigentlich als literarisches Betthupferl aufgrund rein orthopädischer Bedenken eher ungeeignet. Dass ich dennoch vorm Einschlafen im Tagesdurchschnitt rund dreißig Seiten „geschafft” habe, obwohl mir gelegentlich ein bleiernes Gefühl in die Arme schlich, spricht immerhin für den Unterhaltungswert dieses, um die Verlagswerbung zu zitieren, „monumentalen Panoramas der untergehenden DDR”.

Die Kritik war sich einig, dass der Bachmann-Preisträger des Jahres 2004 damit wenn nicht sein Meisterwerk, so doch sein respektables Gesellenstück abgeliefert hat. Sie hat aber nach meinem Urteil nicht deutlich genug gemacht, dass Tellkamp mit diesem opulenten Buch den Versuch gewagt hat, die ehrwürdige Tradition des bürgerlichen Familienromans à la Buddenbrooks und die seit James Joyce florierende Erzähltechnik der Montage gänzlich disparater Stilmittel zum stimmigen Bild eines untergegangenen realsozialistischen Deutschen Reichs zu legieren. (Sabine Franke zählt in ihrer Rezension für die Frankfurter Rundschau „Briefe, Träume, Rückblenden, Fakten und konventionelle Erzählpassagen” auf; dabei sind es doch noch weitaus mehr.) Und diese vom vergleichsweise hohen Rang des Romans faszinierte Kritik vergisst leider zu erwähnen, dass der ebenso fleißige wie belesene Autor sich bei diesem Spagat letztlich die Beine ausreißt.

Dass Der Turm zudem noch als ein Schlüsselroman daherkommt, nimmt mich eher gegen ihn ein – denn neben meiner täglichen Pynchon-Lektüre möchte ich zu nachtschlafender Zeit eigentlich nicht mehr den Rechner anschmeißen, um dahinterzukommen, dass sich hinter Baron Arbogast kein Geringerer als Manfred von Ardenne verbirgt, Jochen und Philipp Londoner Vater und Sohn Kuczynski zum Vorbild haben und mit dem RA Sperber des Romans nur der mittlerweile verstorbene Manfred Vogel gemeint sein kann, der im Agentenschacher des Kalten Krieges eine unvergesslich-zwielichtige Rolle spielte.

Tellkamps mit langem Atem geschriebenes magnum opus ist, bei allen Einwänden gegen seine möglicherweise anbiedernde, effekthascherische Schreibe, nur selten langatmig. Ich bin immerhin gespannt, ob dieses bemerkenswerte Talent sich noch zu einem opus summum aufschwingen wird; hoffentlich ganz anders als Thomas Mann mit seiner Joseph-Tetralogie, die im bitteren Geschehen der fernen Völkerschlacht – meine Heimatstadt Essen wurde dem Erdboden gleichgemacht – keine andere Heimstatt finden konnte als in den Geborgenheiten schimmelnder Traditionen. Während dies geschah, löffelte der geistheilige Thomas Mann zitronensaftgewürzte Austern in seiner Villa in Pacific Palisades.

Auch wir intellektuellen Überflieger – wie Goebbels sagte: die „Intelligenzbestien” – müssen uns doch nicht bis zum Jüngsten Gericht gedulden, an dem wir das Scherbengericht zusammentragen. Da warten wir stattdessen lieber auf eine Erleuchtung, die sich von Traditionen gleich welcher Art freigemacht hat – noch im Diesseits.

Einschwörer (II)

Friday, 30. January 2009

Meinem ersten „Einschwörer” begegnete ich, heute auf den Tag genau, vor 45 Jahren. Er hieß Henning H. und war mein Klassenkamerad und Sitznachbar auf der Albert-Schweitzer-Volksschule – so hießen die Grundschulen damals noch – in Essen-Rüttenscheid. Henning war in Sorge, dass ich eine seiner Missetaten unserem Lehrer, Herrn Brandstetter, petzen könnte. Ich beteuerte meine Loyalität und Verschwiegenheit, denn Henning war stärker als ich. „Schwör!” – so lautete sein erbarmungsloses Kommando. Ich hob Daumen, Zeige- und Mittelfinger: „Ich schwör!” – „Du musst dran lecken, sonst gilt es nicht.” So verlief meine Einweisung in den Ritus der Schwörerei, der mir ahnungslosem Tropf, von Haus aus ein atheistisches Kind, zuvor nahezu völlig fremd gewesen war. (Den Trick, beim Schwur Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand hinterm Rücken zu kreuzen, was den Schwur ungültig macht – den kannte ich damals auch noch nicht.)

Seither bin ich nicht mehr in die Verlegenheit gekommen, meine Schwurfinger mit Speichel zu benetzen. Ich entging dem Fahneneid der Bundeswehr als fußkranker, zum Dienst an der Waffe untauglicher Schwerbehinderter und dem Beamteneid durch Tätigkeiten in der freien Wirtschaft. Lediglich vorm Standesamt hatte ich ein Treuegelöbnis zu leisten, „in guten und in schlechten Tagen”, aber dazu war nicht erforderlich, die rechte Hand zu heben. Mir scheint diese Schwörerei noch immer ein sehr zweifelhaftes Brauchtum zu sein, als stünde jedes üblicherweise ohne diese Geste gegebene Wort unterm Anfangsverdacht der Lüge – und würde erst durch den Eid in den Adelsstand heiliger Wahrheit erhoben. Leckt mich!

Und jetzt, da seit ein paar Monaten die globale Hütte brennt, sehe ich mich umstellt von Einschwörern verschiedenster Provenienz, die mich – ganz ähnlich wie Henning H. auf dem Schulhof vor 45 Jahren – dazu auffordern, die Finger zum heiligen Eid zu erheben, beleckt oder unbeleckt. Unsere Kanzlerin Angela Merkel will mich auf eine harte Konjunktur-Kur einschwören, nachdem sie eine Woche zuvor ihre hessischen Parteigenossen bereits auf den Wahlkampf eingeschworen hat. Na, ich bin ja glücklicherweise kein Hesse – und auch kein Franzose, sonst hätte mich Sarkozys Einschwörerei schon im Sommer 2007 in Rage gebracht. Fairness? Dafür bin ich immer zu haben. Aber wenn ein Mann wie der britische Premierminister Gordon Brown sie von seinen Untertanen per Eid fordert, balle ich dennoch aus Solidarität die Faust in der Tasche. Und auch sein Widersacher David Cameron kann mich nicht zum kontinentalen Mit-Schwur verleiten, wenn er seine Landsleute auf harte Zeiten einschwört.

Gibt’s die Schwörerei eigentlich auch bei den Juden? Offenbar schon, wenn man den doch so schwurerprobten Schweizern glauben darf. Und neuerdings haben wir noch einen weiteren Einschwörer zu ertragen, den Hoffnungsträger unserer hoffnungslos verrotteten Spezies, der man nicht viel mehr noch zu wünschen vermag, als dass sie ihren Abgang vom Globus mit möglichst geringen Folgeschäden für dessen restliche Biosphäre bewerkstelligt: Barack Obama. Seinen Eid hat der neue Präsident der USA zwar im ersten Anlauf nicht hingekriegt, und beim zweiten Versuch war die gelbe Lincoln-Bibel leider schon auf Reisen – aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Insofern ist die Finanzkrise, die zu Produktionsrückgang, zum Beispiel in der Autoindustrie, und damit zu gedrosseltem CO2-Ausstoß führt, eigentlich doch ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Und die Billionen-Verschuldung der Staaten zur Rettung der Not leidenden Banken, die künftige Generationen zurückzahlen sollen, muss uns auch kein Kopfzerbrechen bereiten, wenn es solche Generationen gar nicht mehr gibt. Angesichts solcher Zukunftsperspektiven sind mir der Zusammenbruch des Kapitalismus und die Sorgen der Anleger jedenfalls herzlich egal – ich schwör!

Todsünde

Thursday, 29. January 2009

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die katholischen Messen in lateinischer Sprache zelebriert. Die Gemeinde plapperte ein unverständliches Kauderwelsch nach, ritualisierte Formeln einer längst ausgestorbenen Sprache, die ihr wie die Zaubersprüche animistischer Religionen vorgekommen sein mögen – und sie vielleicht gerade deshalb beeindruckten. Dann sprang Martin Luthers für seine Zeit revolutionärer Gedanke, dass das gemeine Volk verstehen solle, was es zu glauben genötigt werde, wenngleich mit mehr als vierhundert Jahren Verspätung, von Wittenberg nach Rom über. Das von Papst Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil leitete eine Liturgiereform ein, die unter seinem Nachfolger Paul VI. zum Abschluss kam und die Einführung der Volkssprachen in den katholischen Gottesdienst ausdrücklich billigte.

Gegen diesen Bruch mit altehrwürdigen Traditionen begehrte der französische Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991) auf, der die Ansicht vertrat, Paul VI. habe mit seinen „katastrophalen Neuerungen” der katholischen Kirche mehr Schaden zugefügt als die Französische Revolution. Er verweigerte dem Stellvertreter Christi auf Erden im Vatikan seinen Gehorsam, wurde von Paul VI. suspendiert und schließlich gar von Johannes Paul II. exkommuniziert, nachdem er gegen die ausdrückliche Weisung des polnischen Papstes am 30. Juni 1988 an vier seiner treuen Jünger – Bernard Tissier de Mallerais, Alfonso de Galarreta, Bernard Fellay und Richard Williamson – die Bischofsweihe vollzogen hatte.

Gut zwanzig Jahre später hat nun die Verständlichmachung der katholischen Glaubensinhalte Früchte getragen, die dem aktuellen Nachfolger auf dem Stuhl Petri, dem jetzt amtierenden Papst Benedikt XVI., vulgo Joseph Alois Ratzinger, nicht gefallen wollen. Ihm laufen in seinem Heimatland Deutschland und auch anderswo die Schäfchen von der Weide, weshalb er vor zwei Jahren zunächst die nach altem Römischen Ritus übliche „Tridentinische Messe” wieder erlaubte – und zudem vor ein paar Tagen die Exkommunikation der vier von Lefebvre geweihten Bischöfe aufhob. Dabei ist ihm allerdings ein kleiner Schönheitsfehler unterlaufen, denn einer dieser Herren, Richard Williamson, erwies sich bei näherer Betrachtung als „persona non grata”, gar als Obergangster vor jedem christlichen und weltlichen Richterstuhl: als Holocaust-Leugner und verbohrter Antisemit. (Was dieser offenbar völlig durchgeknallte Bischof sonst noch von sich gegeben hat, harrt noch der Entdeckung durch die hoffentlich um Aufklärung bemühten laizistischen Medien einer freien Welt. So vertrat Williamson etwa 2001 die Ansicht, dass Mädchen und Frauen nicht an Universitäten studieren sollten, und reihte sich in die paranoide Gemeinschaft jener Verschwörungstheoretiker ein, die ernsthaft glauben, 9/11 sei von der amerikanischen Regierung unter George W. Bush initiiert worden.)

Die Flurschäden, die der jetzt amtierende Papst alle paar Monate anrichtet, sind beträchtlich. Die Aussöhnung der Christen mit dem Judentum, so heißt es allenthalben, sei um hundert Jahre zurückgeworfen, die fleißigen Bemühungen seiner Vorgänger um eine Verständigung zwischen diesen beiden Weltreligionen habe Benedikt XVI. mit seiner unbedachten Rehabilitation eines offenkundig Verrückten zunichte gemacht.

Als hätte die Menschheit nicht andere Sorgen! Noch immer klebt ihr der Dreck am Schuh, in den sie vor Jahrtausenden getreten ist, da sie es noch nicht besser wissen konnte: dass nämlich kein jenseitiger Gott ist und keine ebenso finstere wie heiße Hölle droht als allein die auf Erden, in unserem zeitlich begrenzten Diesseits. – „Der Atheismus beruht auf der Erklärung der Menschenrechte. Die Staaten, die sich seither zu diesem offiziellen [?] Atheismus bekennen, befinden sich in einem Zustand dauernder Todsünde.” Diese Sätze stammen wohlgemerkt nicht von dem aktuell zum Stein des Anstoßes gewordenen Bischof Williamson, wohnhaft im argentinischen La Reja, sondern aus einer der letzten Predigten seines Lehrmeisters, des Erzbischofs Lefebvre, gehalten am 1. November 1990 in Ecône im Schweizer Kanton Wallis. (Ist es bloß ein dummer Zufall, dass Lefebvre die argentinische Militärjunta, wie übrigens auch das faschistische Regime in Chile unter Augusto Pinochet, als vorbildliche Regierung gepriesen hat?) – Ich bekenne mich zu den Menschenrechten – und nehme dafür den „Zustand dauernder Todsünde” gern in Kauf.

[Titelbild: Por una navaja von Francisco de Goya, aus seinen Desastres de la Guerra (1810-1814).]

Schrittwechsel

Wednesday, 28. January 2009

Hans Siemsen, der in seinem Reisebericht aus dem Sowjetstaat mit mildem Spott anmerkt, dass der Taylorismus und die Ford’sche Fließbandproduktion, nach dem allbeherrschenden Prinzip „Tempotempo!”, im Kommunismus keineswegs abgeschafft sind, sondern durch die gnadenlosen Vorgaben des ersten Fünf-Jahres-Planes eher noch eine Verschärfung erfahren haben, relativiert diese Diagnose an anderer Stelle durch seine Beobachtung, dass jeder russische Industriearbeiter in einer deutschen Fabrik unweigerlich auffallen würde: „Vor allem durch Langsamkeit.” (Rußland – ja und nein. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931, S. 164.) Gegen das Phlegma der russischen Volksseele kehrt offenbar selbst Stalins „harter Besen” vergebens.

Und in den klimatisch milderen Regionen, am Asowschen und Schwarzen Meer, registriert er gar mit erkennbarem Wohlbehagen eine „Kultur der Langsamkeit”, die ihn fast an mediterrane Lässigkeit erinnert: „Vom Balkon des Hotels [in Rostow am Don] sehen wir hinunter auf die Straße. Es ist Ende September [1930]. Ein schöner, warmer Abend, wie in Berlin ein Sommerabend. In Moskau hatten wir schon gefroren. In Moskau habe ich nie einen Menschen ,spazieren gehen‘ sehen, alle waren immer so ernsthaft eilig. In Rostow ,flaniert‘ man. Liebespaare flirten langsam die Schaufenster entlang. Es gibt Läden mit Wein und Obst und schrecklichen Nippsachen. Die ganze Straße ist voll von Menschen, die, da es Abend ist, spazieren gehen. – Die ausländischen Journalisten auf dem Balkon sind ganz erstaunt. Sie kommen aus Moskau. Sie haben sowas noch gar nicht gesehen in Rußland. ,Das ist ja wie in Paris!‘, sagt einer zum andern. Der weiß es besser. ,Wie in Marseille!‘ sagt er. Und ein Dritter weiß es am besten: ,Ein Arbeiterviertel in Paris oder Marseille.‘ Aber alle sind sich darin einig, daß Rostow ganz was anderes ist als Moskau, hübscher, leichter, nicht so ernsthaft und streng. Verwegene sprechen von ,Eleganz‘. ,Sehen sie bloß! Da geht einer mit einem weißen Leinenanzug und einer knallbunten Krawatte.‘” (Ebd., S. 190.)

Müsste uns nicht längst schon die traurige Erkenntnis dämmern, dass die drei großen Ideale der Französischen Revolution – „Liberté, égalité, fraternité” – von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie die naturgegebenen klimatischen Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht in Rechnung stellten? Sind nicht alle hehren Versöhnungswünsche, von Christus bis zum jüngsten Shootingstar eines trotzigen Optimismus, Barack Obama, allein schon deshalb ins Leere gesprochen, weil es etwa in Sibirien unerträglich kalt und in weiten Teilen Afrikas unerträglich heiß ist? Die Staatsgrenzen, machen wir uns nichts vor, sind doch bei aller vorgeblichen Globalisierung vor allem Abwehrzäune der klimatisch bessergestellten Bevölkerungen, die ihr natürliches Privileg nicht mit den hungernden, frierenden und dürstenden Artgenossen teilen wollen.

Als komplizierende Faktoren kommen noch hinzu die ungleiche, gänzlich „ungerechte” Verteilung der Bodenschätze, die unabsehbaren Folgen des Klimawandels und das nach wie vor exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung. Schlechte Aussichten für Homo sapiens.

Flanieren wir Happy Few doch ganz gelassen dem Untergang entgegen! Eile ist nicht geboten. Wir kommen schon noch früh genug ans Ziel.

Wintergarten

Tuesday, 27. January 2009

Die große Zeit des Varietés wird Ende dieses Monats wohl endgültig zu Grabe getragen, wenn im „neuen” Wintergarten in der Potsdamer Straße in Berlin der letzte Vorhang fällt. Schaut man zurück, so war die Renaissance der Varieté-Theater seit den 1980er-Jahren wohl nicht viel mehr als das letzte Aufflackern eines in der ersten Jahrhunderthälfte so überaus erfolgreichen Unterhaltungsangebots in den Großstädten der westlichen Welt. Nostalgie und das atemberaubende Erlebnis unmittelbarer Erfahrung artistischer Glanzleistungen allein erweisen sich spätestens angesichts der aktuellen Weltfinanzkrise für das zahlende Publikum der bürgerlichen Mittelschicht als zu schwache Motive, sich für einen Abend im Varieté aus dem Fernsehsessel hochzuschwingen.

Um 1900 gab es in der Reichshauptstadt Berlin nahezu 80 Varieté-Theater, unter denen der Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße seit 1889, neben dem benachbarten Apollo-Theater, als „erste Adresse” galt. Solche Vergnügungsstätten eröffneten zunächst den Zirkuskünstlern – Clowns, Jongleuren, Zauberern, Pantomimen, Dresseuren und Trapezartisten – die willkommene Gelegenheit, in der kalten Jahreszeit zu überwintern. Bald bot sich diesen Reisenden in Sachen Amüsement hier aber zudem die Chance, sich vor einem anspruchsvolleren Publikum als die jeweils Besten ihres Genres bekannt zu machen und damit den Sprung aus dem Sägemehl der Zeltarena aufs noblere, blitzblank polierte Parkett einer weltstädtischen Bühne zu schaffen. So gelten die Clowns Charlie Rivel und Grock, der Wunderjongleur Enrico Rastelli [s. Titelbild] und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, die alle auch im Wintergarten auftraten, selbst heute noch als bekannte Meister ihres Fachs, während ungezählte weniger virtuose Zirkuskünstler jener Zeit längst vergessen sind.

Es ist wohl eine tragische Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet im Berliner Wintergarten am 1. November 1895 eine brandneue Volksbelustigung ihre Premiere feierte, die diesem und allen ähnlichen Etablissements, rückblickend betrachtet,  den Todesstoß versetzen sollte. An jenem denkwürdigen Tag führten die Brüder Max und Emil Skladanowsky dort als „Schlussnummer” zum konventionellen Varieté-Programm mit ihrem „Bioscop”, erstmals in Deutschland und mit großem Erfolg, acht Kurzfilme vor. Die Berliner Filmpioniere blieben in der Konkurrenz zu den Pariser Gebrüdern Lumière und deren „Cinématographe” schon bald auf der Strecke, wohl auch deshalb, weil sich im Deutschen Reich kein gut betuchter Förderer für ihre zukunftsweisende Erfindung fand.

Und jetzt haben wir den Salat. Nachdem im „alten” Wintergarten am 21. Juni 1944 – Stauffenberg, der neue Kinoheld unserer Tage, bereitete gerade sein gescheitertes Attentat vor – das letzte Varieté-Programm über die Bühne gegangen war und bald darauf „Bomber Harris” diesen Kulturtempel in Schutt und Asche gelegt hatte, war es eine Großtat ambitionierter Freunde der Kleinkunst wie André Heller und Bernhard Paul, dass der Wintergarten 1992 an neuer Stelle seine Wiederauferstehung erleben durfte.

Damit ist nun in wenigen Tagen auch wieder Schluss. Achtundsechzig feste Arbeitsplätze bleiben auf der Strecke, von der Platzanweiserin bis zum Impresario. Ein großer Name, der Wintergarten, geht damit wohl endgültig unter. Und Baggesen, der in diesem Etablissement seine größten Triumphe feierte, ein langsamer Leisetreter unter den blitzschnellen Jongleuren seiner Zunft? Der ist ohnehin schon längst vergessen.

Eschenwelt

Monday, 26. January 2009

Die besagte Esche hinterm Haus ist längst nicht mehr schneebestäubt, der Himmel wieder blau – und die Sonne lässt das winterfeste Gewächs im Vordergrund und das Nadelgehölz ringsum grün aufleuchten.

Die Esche, „meine” Esche, steht aber nackt da und wird noch für viele Wochen so sein. Wie überstehen die entlaubten Bäume dieser Art bloß die kalte Jahreszeit? Wenn sie es mir verraten könnten, hätte ich wohl einiges von ihnen zu lernen.

Aber auch als stummes Monument der Winterschläfrigkeit ist Yggdrasils täglicher Anblick für mich mehr als ein unlösbares Rätsel. Umso mehr, als es, das Bäumchen, nun seine Hoffnung auf einen neuen Blattaustrieb richten kann.

Sind Bäume männlich oder weiblich? Ich bin überzeugt, dass „der Baum” ein grammatischer Missgriff der deutschen Sprache ist. Selbstredend müsste es „die Bäumin” heißen, oder gar „die Baum”. Der Kaktus, ja, das mag hingehen.

Bei den spezielleren Namen der einzelnen Baumarten ist die Sprache klüger: die Pappel, die Birke, die Tanne, die Buche, die Fichte, die Zeder, die Eiche, die Kastanie, die Linde, die Ulme, die Eibe, die Erle, die Kiefer – und eben auch die Esche. (Lediglich der Ahorn tanzt aus der Reihe, als bemerkenswerter Sonderfall.)

Kannitverstan

Sunday, 25. January 2009

Den getreuen, zuverlässig bruchsicheren Hebel anzusetzen hieße heute, / unzeitgemäße Verachtung zu zeigen: welch animalische Gebärde, / ein wildes Zucken um die unvermessenen Mundwinkel spielen zu lassen, / kaum bedenkenswert. Unverstanden.

Drum hülle ich mich lieber in sonntägliches Schweigen. / Einstweilen, vom blaugebläuten Himmel geleckt. / Bin ich denn noch ganz bei Trost? / Grins du nur in den fettfleckigen Spiegel, du Ausgeburt / fremdstämmiger Selbstkritik. Gehe in dich und verkümmre.

Kein Weg, so holzig er auch sei, / führt aus diesem Gestrüpp in die Ewigkeit. / Schade.

Wohin immer du zurückblickst, nirgends und überall / leuchtet eine verheißungsvolle Finsternis. / Stattdessen: Mickymäuse, die Purzelbäume schlagen. Tarzans Lianen. / Die speziellen Ausformungen mehr oder weniger geglückter / Wirbeltiere.

Ist doch wirklich ein Elend: dass / gerade wir, die Krone der Schöpfung / deren traurigen, ausrottbaren Rest aus verständnislosen Augen anglotzen, / auf den ölschluckenden Schnellstraßen / im Steakhaus / hinter den sprachlosen Fibeln der Verdammnis.

Dingwelt (VIII)

Saturday, 24. January 2009

„Unkaputtbar” – mit diesem Neologismus bewarb Coca-Cola in Deutschland 1990 die Einführung der PET-Pfandflaschen. Zwar hat es das neue Adjektiv noch nicht in den Duden geschafft, aber im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich‘s längst durchgesetzt, was über hunderttausend Belegstellen bei Google bezeugen. Ein Konsum- bzw. Gebrauchsartikel, der angeblich nicht kaputtgehen kann, scheint also damit in neuerer Zeit wieder einen hohen Kaufanreiz zu bieten. Das ist nur zu verständlich, denn bis dahin hatten sich in der kapitalistischen Warenproduktion dem ganz entgegengesetzte „Werte” durchgesetzt, die nun zunehmend in Verruf gerieten. Es herrschte zuvor eine Ex-und-hopp-Mentalität. Wenngleich möglichst billige, jedoch entsprechend kurzlebige Erzeugnisse fanden reißenden Absatz. Die Ergebnisse soliden Handwerks fristeten neben den Wegwerfprodukten der Massenproduktion nur noch ein Nischendasein für Besserverdienende.

Als wir vor vier Jahren wieder mal umzogen, leisteten wir uns einen neuen Staubsauger. In unserer aktuellen Mietwohnung liegt, noch vom Vormieter, eine dunkelblaue „Auslegeware”, Loriot lässt grüßen. Unsere Hündin Lola ist blond. Mindestens zweimal pro Jahr kommt sie in die Mauser, das sieht man auf dem blauen Teppich dann sehr. Folglich entschieden wir uns für einen Sauger, dem wir zutrauen, diesem wiederkehrenden Problem mit speziellen Düsen begegnen zu können. Unsere Wahl fiel auf den AEG Electrolux Twinclean, einen Bodenstaubsauger, der ohne die unsäglichen Tüten auskommt, also auf ein Stiefkind der genialen Erfindung von Sir James Dyson. Diesen Staub- und Haarfresser ließen wir uns damals rund 350 Euro kosten. Was tut man nicht alles für seinen Hund!

Bis vor ein paar Tagen leistete uns der Sauger gute Dienste, wenngleich er immer mal wieder kurzfristig streikte. Eine rote Warnleuchte blinkte dann auf, Twinclean war außer Atem gekommen und bat um eine Verschnaufpause. Auch die rotierenden Bürsten blockierten gelegentlich, wenn sich allzu viele blonde Hundehaare in ihnen verfangen hatten. Aber mit solchen Arbeitsunterbrechungen lernt man als geprüfter Hausmann zu leben. Zwischenzeitlich las ich dann in Peter Moslers Die vielen Dinge machen arm.

Als wirklich praktisch erwies sich auch, dass wir unser staubsaugendes „Haustier” an der langen Leine führen konnten. Dafür sorgte ein Kabelaufroller. Nach dem Druck auf eine besondere Taste schnurrte die viele Meter lange Schnur zurück in seinen dicken Bauch. Bis vor ein paar Tagen. Dann versagte dieser devote Service plötzlich und ohne erkennbaren Grund seine satt schnackende Gefälligkeit. – Ulla schraubte das dienstbare Gerät auf und kämpfte sich tapfer bis zum Auslöser seiner hoffentlich nur vorübergehenden Betriebsstörung vor. Der zauberhafte Rückwickelmechanismus wurde von einer gespannten Metallfeder [s. Titelbild] bewirkt, die sich – warum auch immer – verheddert hatte. Der tief im Plastikbauch unseres Saugers versteckte Aufroller erwies sich beim besten Willen als absolut irreparabel. Reklamationsfristen sind nach vier Jahren selbstverständlich längst abgelaufen. Wenn ich nun an dieser Stelle von einer böswillig beabsichtigten „Sollbruchstelle” des Herstellers sprechen würde, zöge er mich vielleicht vor den Kadi, wegen geschäftsschädigender übler Nachrede.

Nun tröste ich mich erstens mit dem kreativen Einfall, dass vielleicht der defekte Kabelrückspul-Mechanismus des Saugers durch einen externen Kabelaufwickler ersetzt werden kann. Zweitens rede ich mir ein, dass dieser ganz außergewöhnliche Unglücksfall keinerlei Rückschlüsse auf die Fertigungsqualität moderner Industrieprodukte zulässt: Honi soit qui mal y pense! Drittens unterstelle ich meiner Frau, dass sie durch unsachgemäße Handhabung unseres sonst doch bisher so treuen Staubsaugers dessen Versagen selbst ausgelöst hat. Und viertens frage ich mich, warum denn bloß der brave Staub, Niederschlag einer unbekümmerten Endzeitlichkeit, sub specie aeternitatis in dermaßen schlechtem Ansehen steht.

Non-believers

Friday, 23. January 2009

Da hat nun also der Mann aus Honolulu zu seinem Amtsantritt eine tatsächlich jeden denkenden und zugleich empfindsamen Menschen bewegende Rede gehalten, die man im vollständigen Wortlaut überall auf der Welt nachlesen kann – und die mir vorgestern in deutscher Übersetzung von meiner Tageszeitung zum Frühstück serviert wurde. (Süddeutsche Zeitung Nr. 16 v. 21. Januar 2009, S. 2.)

“We Have Chosen Hope Over Fear”. – „Wir haben die Hoffnung über die Furcht gestellt”. Unter diesem Titel kündigt der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika einen Systemwandel, einen politischen Wetterwechsel, eine Rückkehr zu alten Tugenden, eine moralische Erneuerung der Weltmacht Nr. 1 an, die man nach den schier endlos scheinenden, bitter missglückten acht Amtsjahren seines Vorgängers kaum mehr für möglich gehalten hätte.

Ich bin meiner Tageszeitung noch heute dafür dankbar, dass sie mich früher als alle anderen Medien hierzulande darüber unterrichtete, welch vielversprechenden Kandidaten die Democratic Party da ins Rennen um die Präsidentschafts-Kandidatur geschickt hatte. Das dürfte wohl nun schon fast zwei Jahre her sein. Meinem Arbeitskollegen am gegenüberliegenden Schreibtisch – ich war da noch „in Arbeit” – rief ich damals zu: „Merken Sie sich mal den Namen Barack Obama. Das ist der nächste Präsident der USA.” Und später hoffte und bangte ich monatelang im kräftezehrenden Vorwahlkampf „meines” Kandidaten gegen seine Parteigenossin Hillary Clinton, gegen jene Frau, die ihrem Ehegatten, dem 42. Präsidenten der Weltmacht, den Blowjob mit seiner Praktikantin verziehen hatte, dass Barack Obama trotzdem und obwohl sein Name so fatal an den des Staatsfeinds Nr. 1, Osama bin Laden, erinnerte, schließlich den Sieg davontragen würde. Das ist nun alles Vergangenheit.

Was ich meiner Tageszeitung, der Süddeutschen, allerdings nie verzeihen werde, das ist ein Fauxpas, der außer mir vermutlich keinem ihrer Leser aufgefallen sein dürfte. Im Text der Obama-Rede hebt die SZ einige Passagen rot hervor, um ihre besondere Bedeutung in Marginalien zu kommentieren. Dass Barack Obama sein Land als „eine Nation von Christen und Muslimen, Juden und Hindus – und von Atheisten” bezeichnet, wertet die SZ-Redaktion, wohl zu Recht, als „Novum in einer Inaugurationsrede. Obama zählt auch die Muslime, Juden, Hindus und Atheisten zu den Bürgern, welche die Grundlage der amerikanischen Nation bilden.”

Mal abgesehen davon, dass Obama die fünfte Weltreligion, den Buddhismus, in seine Aufzählung nicht aufnahm und somit auch den Dalai Lama brüskiert haben dürfte, befremdet mich, dass meine Frühstückszeitung die believer in fettem Rot hervorhebt, die non-believer hingegen in tristem Schwarz belässt [s. Titelbild]. Da war offenbar in der Schlussredaktion der SZ ein Praktikant zugange, der sonntäglich den Klingelbeutel durch St. Peter trägt.

Not leidend

Wednesday, 21. January 2009

Schon von Weitem sehe ich, dass mit meiner Bank etwas nicht stimmen kann. Vor dem monumentalen Gebäude im Palazzo-Stil erhebt sich ein Baugerüst. Arbeiter in blauen Overalls sind damit beschäftigt, die Fassadenverkleidung aus weißem Carrara-Marmor abzuschälen und auf einen Lastwagen zu verladen. Auf meine Frage, was das denn zu bedeuten habe, erwidert ein breit grinsender Türke mit einem $$-Tattoo auf dem rechten Handrücken: „Das wird jetzt zu Geld gemacht.”

Beim Betreten der Schalterhalle trifft mich fast der Schlag. Dort, wo noch gestern imposante Kristalllüster hingen und diese Kathedrale des Geldverkehrs in gleißendem Licht erstrahlen ließen, baumeln nun nur noch ein paar vereinzelte Energiesparleuchten von der Decke herab, in deren zwielichtigem Schein sich mir ein Bild des Jammers darbietet. Unwillkürlich muss ich an die Kirche in Soylent Green denken, wo Lincoln Kilpatrick als farbiger Priester den Mühseligen und Beladenen im New York des Jahres 2022 eine dürftige Bleibe geschaffen hat [s. Titelbild]. Überall verstellen Notbetten den Weg zu den Kassenschaltern, bedecken Luftmatratzen und Schlafsäcke das bis vorgestern noch stets spiegelblank polierte Parkett, auf dem jetzt stöhnende, sabbernde, wimmernde Elendsgestalten sich zur letzten Ruhe gebettet haben. Etliche dieser traurigen Kreaturen strecken ihre flehenden Hände nach mir aus, betteln mich um ein paar Cent an, während ich mir mühsam einen Weg zu jenem „Infopoint” erkämpfe, an dem ich in den letzten dreißig Jahren Terminabsprachen mit den Sachbearbeitern der oberen Etagen vereinbarte.

„Was ist denn hier los?” Meine Frage, die ich an „Miss Moneypenny” gerichtet habe – ich nenne die dienstälteste Beschäftigte des Kreditinstituts meiner Wahl insgeheim schon seit Urzeiten so, weil sie tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit Lois Maxwell in den frühen James-Bond-Filmen hat -, meine entsetzte Frage trifft auf völliges Unverständnis. „Aber haben Sie es denn noch nicht mitbekommen, Herr H.? Wir sind durch die Finanzkrise völlig verarmt. Die komplette Belegschaft musste entlassen werden. Ich bin die Letzte, die hier noch die Stellung hält, um unsere treuen Kunden zu ver-, äh, zu trösten. Wir mussten auf Anordnung der Stadtverwaltung unsere Räumlichkeiten zum Notasyl für Obdachlose umrüsten.” Flüsternd fügt sie hinzu: „Einige meiner ehemaligen Kollegen liegen auch auf den Pritschen.” Und mit nahezu ersterbender Stimme: „Dort hinten, der alte Mann mit dem hässlichen Hungerödem neben der Nase, das ist der ehemalige Vorstandschef der Bank. Und dabei hatte er doch immer so einen guten Riecher!” Verschämt stecke ich Moneypenny einen Zehn-Euro-Schein zu, den sie augenblicklich im Ärmel ihrer nicht mehr ganz sauberen Bluse verschwinden lässt: „Ich schäme mich so! Das ist alles soo furchtbar – sooo erbärmlich!” – Dicke Tränen perlen auf dunkle Augenringe …

Nachdem ich eben aus diesem Albtraum an meinen bescheidenen Schreibtisch zurückgekehrt bin, lese ich mit Verwunderung, dass die Jury der Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres das Wort von den „Not leidenden Banken” zum „Unwort des Jahres 2008″ gekürt hat. Unworte, so hatte ich bisher angenommen, seien solche sprachlichen Neubildungen, die in einem krassen, geradezu zynischen Widerspruch zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Tatsachen in Deutschland stehen. Der durch diese verfehlte Jury-Entscheidung inkriminierte Begriff beschreibt aber doch die aktuelle Situation sehr zutreffend, wovon ich mich durch persönliche Inaugenscheinnahme soeben überzeugen musste.

Geld ist ja eigentlich nicht meine Welt. Und so war mein Hauptmotiv, warum ich mich hier zu diesem für mich nahezu bedeutungslosen Thema zu Wort gemeldet habe, ein ganz anderes. Ist es denn etwa nicht erschreckend, dass mittlerweile selbst die publicityträchtige Bekanntgabe eines solchen „Unworts”, auf der breiten Front der offenbar Ahnungslosen, in der zwar nicht falschen, aber doch veralteten Schreibweise „notleidende Banken” erfolgt? Wo doch der aktuelle Duden (24. Auflage, S. 735) seit 2006 ausdrücklich „Not leidend”, in getrennter Schreibung, als bevorzugte Variante empfiehlt? – Meine Sorgen möchte ich haben.

Protected: Raymond Martin (II)

Tuesday, 20. January 2009

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Was nun?

Monday, 19. January 2009

Die Arbeitswoche lässt sich nicht gut an. Nachdem ich gegen Mitternacht noch in Raymond Martins Ich bin gut gelesen habe und dabei feststellen musste, dass mein Eccentrics-Beitrag nicht nur vor sachlichen Fehlern strotzt, sondern vermutlich auch in seinem Fazit ungerecht ist, schlief ich mit dem unerträglichen Gefühl ein, mich als Verräter geriert zu haben.

In einem Albtraum, aus dem ich gegen drei Uhr nachts schweißgebadet erwachte, hatte ich an Händen und Füßen gefesselt und nackt auf einem Thron gesessen, an dem die lange Reihe meiner Feinde vorbeidefilierte, um mir durch einen Metalltrichter allerlei eklige, giftige und unverdauliche Scheußlichkeiten einzuflößen. (Vermutlich verdankte ich diese unerträgliche Reminiszenz dem Auburtin-Feuilleton Gold, das ich gestern zum zweiten Mal las und in dem es heißt: „Der zweite Grad war jener berühmte Schwedentrunk. Zwei Soldaten gossen dem Liegenden durch einen Schlauch die Mistjauche in den Mund und drückten dann auf den Magen, daß die ekle Brühe hoch herausspritzte. Dreimal taten sie es, und nach jedem Mal fragten sie nach seinem Gold […].”) Diese Foltermethode erinnerte mich selbst im Traum noch vermutlich an den Film Cartouche, der Bandit, mit Jean-Paul Belmondo und Claudia Cardinale in den Hauptrollen, den ich im Vormittagsprogramm des ZDF sah, zerlegt in einen Zwei- oder Dreiteiler, Anfang der 1970er Jahre bei einem Freund aus dem Süthers Garten, dessen Mutter sich erfreulicherweise alltäglich zum Mittagsschlaf zurückzog und uns die Herrschaft über die Traumfabrik aus der Flimmerkiste überließ. Auch in diesem Film von Philippe de Broca (1962) wurde einem gefesselten Kampfgefährten des französischen Schinderhannes-Pendants ein solcher Trunk eingeflößt, was meine masochistischen Pubertätsphantasien heftig stimulierte.

Kein ganz unpassender Eintritt in einen Tag, an dem man Edgar Allan Poe zu seinem runden Geburtstag gratulieren möchte. In „irgendeiner kleinen Pension in der Haskins[-] oder Hollis Street im südlichen Teil von Boston” (Frank T. Zumbach: E. A. Poe. Eine Biographie. München: Winkler Verlag, 1986, S. 22) erblickte, heute auf den Tag genau vor zweihundert Jahren, der Sohn eines nicht gerade überaus erfolgreichen Schauspieler-Ehepaares das Licht dieser immerzu untergehenden Menschenwelt – Grund genug, diesem Großmeister des schwarzen Humors erneut meine Reverenz zu erweisen, nachdem ich seiner unbezweifelbaren Genialität ja schon mit meiner XXVII. Literarischen Soiree am 1. August 1991 den nötigen Respekt gezollt habe.

Allein, ich konnte in meinem Bücherdurcheinander weder die Poe’sche Werkausgabe aus dem Walter-Verlag in Olten und Freiburg im Breisgau finden, übersetzt von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, noch die Sammlung seiner Meistererzählungen im Manesse-Verlag. Ich konnte noch nicht einmal den Schlüssel zu meinen Bücherkatakomben finden, wo sich vielleicht diese beiden Preziosen versteckt halten. Erfolgloses Suchen – das hätte vielleicht auch noch ein traumatisches Thema für eine weitere „Short Story” des vermutlich im Delirium tremens verendeten Dichters abgeben können. Oder starb er, wie andere meinen, an einem tollwütigen Katzenbiss? Gar an der Cholera?

Ursprünglich wollte ich heute über Raymond Roussels geniales Patentrezept für das Matt mit Läufer und Springer berichten. Auch das ist ja eine Art Albtraum: wenn es im Endspiel nicht gelingt, innerhalb der vorgeschriebenen Höchstzahl von 50 Zügen mit zwei Leichtfiguren und dem König den Sieg zu erzwingen! Roussel wird warten müssen. Alles geht nun mal nicht, an einem solchen trüben Tag – und nach solch finsterer Nacht.

[Titelbild: Alfred Kubins Schlussvignette zu Poes Novelle Lebendig begraben, zuerst erschienen in der Sammlung König Pest und andere Novellen. A. d. Am. v. Gisela Etzel. München u. Leipzig: Verlag Georg Müller, 1911, S. 97.]

Schachkultur

Sunday, 18. January 2009

Das Angebot von Schach-Periodika in deutscher Sprache hat sich im Zuge der Pressekonzentration deutlich reduziert. Heute gibt es vor allem noch Schach – Deutsche Schachzeitung aus dem Berliner ExzeLsior-Verlag, deren Anfänge bis 1947 zurückreichen; das Schach-Magazin 64 vom Schünemann-Verlag in Bremen; und Rochade Europa aus dem thüringischen Sömmerda. Während einstmals renommierte Blätter (wie Schach-Echo, Deutsche Schachblätter, Deutsche Schachzeitung, Der Schachspiegel und die Wiener Schachzeitung) auf der Strecke geblieben sind bzw. von den vorgenannten Schachorganen „geschluckt” wurden, gab es aber seither auch einige wenige Neugründungen, die abseits der üblichen Themen – Turnierberichterstattung, Meldungen aus dem Vereinsleben, Abdruck kommentierter Partien und von Schachkompositionen – inhaltlich nach neuen Wegen suchten.

Das Prunkstück unter diesen Newcomern ist zweifellos KARL – Das kulturelle Schachmagazin, das seit 2001 viermal jährlich in Frankfurt am Main erscheint. Jedes Heft, reich bebildert und auf Hochglanzpapier gedruckt, widmet sich einem Schwerpunktthema, das in mehreren ausführlichen Beiträgen von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Mal werden reizvolle historische Gegenstände beleuchtet, wie das berühmte Café de la Régence als Mittelpunkt der Schachszene im Paris des 18. und 19. Jahrhunderts, oder die Geschichte des Blindschachs. Andere Hefte stellen einen der großen Meister der Vergangenheit in den Fokus, so Emanuel Lasker oder Aaron Nimzowitsch. Aber auch zentrale Themen der Schachtheorie, wie das Tempo, das Spiel aus der Defensive oder die Rolle des Zufalls im Schachspiel wurden schon eingehend gewürdigt.

Ich kann ein Abonnement dieses ebenso vielseitigen, anregenden wie kompetenten Schachmagazins nahezu ohne Einschränkung jedem Schachbegeisterten, ob Laie oder Vereinsspieler, nur wärmstens ans Herz legen, so er sich denn nicht bloß für die neuesten Erkenntnisse der Eröffnungstheorie interessiert und über den Rand des Brettes mit den 64 Feldern hinausblicken möchte. Eine kleine Mäkelei kann ich mir leider dennoch nicht verkneifen: KARL bedarf dringend eines gründlichen Korrektors. Die sprachlichen Schludrigkeiten unterbrechen den Lesegenuss auf nahezu jeder Seite. Ein Beispiel nur! In einer Bildunterschrift lese ich den Titel zu einer doch so schönen Tuschezeichnung von Helmut Toischer: „Schwarzer König kann Umwandlung des Bauers [!] nicht verhindern” (Heft 4/2006, S. 5). Es darf doch nicht sein, dass ein Schachmagazin, das sich sonst mit vollem Recht „kulturell” nennt, nicht weiß, wie man den Bauern dekliniert. Dieser Bauer war vergiftet – und „des Bauers” falscher Genitiv macht mich giftig.

Bevor ich durch den Wikipedia-Artikel über KARL eines Besseren belehrt wurde, fragte ich mich, woher dieses Magazin denn eigentlich seinen Namen hat. War er gedacht als Analogon zu Fritz, dem prominentesten Schach-Computerprogramm unserer Zeit? Diese Erklärung schien mir etwas dürftig, und so kam mir ein Gedankenblitz. Vielleicht ist KARL ein Akronym für die Instruktion: „König am rechten Läufer!”. Bekanntlich haben Anfänger ja beim Aufstellen der Figuren oft das Problem, auf welche Felder sie König und Dame stellen sollen. Dem Weißen könnte diese Eselsbrücke bei der Positionierung seiner beiden zentralen Figuren hilfreich sein – und der Schwarze müsste dann nur noch wissen, dass er seinen König und seine Dame vis-à-vis aufzustellen hat. Stattdessen teilt Herausgeber und Chefredakteur Harry Schaack mit, dass KARL vielmehr ein Akronym für „Kommunikation, Ansichten, Realitäten und Lorbeerkränze” sei – und zudem der Vorname eines Klubmitglieds der Schachfreunde Schöneck, aus deren Vereinszeitschrift dieses Magazin ursprünglich hervorging.

Ein Jahresabonnement von KARL, das es neuerdings auch in einer englischsprachigen Parallelausgabe gibt, kostet inkl. Porto 20,00 €, das Einzelheft am Kiosk 5,50 €. – Alle alten Hefte (bis auf drei) sind beim Verlag noch lieferbar.

[© Titelbild: Alltagsszene im Régence; aus: KARL 4/2006, S. 19.]

Zeichen schreiben

Friday, 16. January 2009

Die Zeitschrift SIGNA – Beiträge zur Signographie, deren erstes Heft im Herbst 2000 in der Edition Wæchterpappel im Verlag der Denkmalschmiede Höfgen im sächsischen Grimma erschienen ist, hat kaum ihresgleichen unter den Periodika zum Thema „graphische Zeichen”, soweit ich das internationale Angebot überblicke, und schon erst recht nicht in Deutschland. Die mittlerweile zehn schmalen Hefte (plus ein Sonderheft „anläßlich der Kodierung des großen ß”), im schlichten ziegelroten Umschlag und im Format 16,5 x 24,0 cm erschienen, bestechen durch ihre ebenso zurückhaltende wie konsequente Gestaltung, vor allem aber durch ihre ganz außergewöhnliche, originelle Themenwahl.

So beschäftigte sich etwa Heft 2, in der Tradition des großen Kalli- und Typographen Jan Tschichold, mit den „Formenwandlungen der Et-Zeichen”; Heft 4 mit dem „Punkt in der Musik”; Heft 5 mit den „Publikzeichen im realen und medialen öffentlichen Raum”; und Heft 7 war der „Verschriftung der Gebärdensprache” gewidmet. Jedem dieser nur auf den ersten Blick abgelegenen Gegenstände gewinnen die Autoren unter der Herausgeberschaft von Andreas Stötzner und Dr. Uwe Andrich einen überraschenden Erkenntniswert ab. Zudem ist es aber ein besonderes Vergnügen, dass dies auf so unaufdringliche Weise, so unprätentiös und insbesondere höchst anschaulich geschieht.

Mein persönliches Lieblingsheft ist das achte, „Zeichen schreiben”, das die Ergebnisse eines Kurses im Grundstudium Schrift an der Burg Giebichenstein in Halle unter Leitung von Hannelore Heise dokumentiert. „Die Aufgabe bestand im Erarbeiten eines kohärenten und doch in sich spannungsvollen Zeichensatzes – allein aus dem Schreiben heraus, entbunden von allen sonstigen Bezügen wie Tradition, Stilistik, Bedeutung und Konvention.” (Andreas Stötzner: Vorwort zu SIGNA, Heft 8, S. 5.) Hauptsächlich bildet dieses Heft die so unterschiedlichen Ergebnisse des Experiments ab, eins schöner als das andere, allesamt nicht lesbar, nicht entzifferbar, nicht dechiffrierbar im üblichen Sinne einer allgemein verbindlichen Bedeutungskonvention – und gerade deshalb sehr aussagekräftig zu der Frage, in welchen Urgründen denn eigentlich unser graphisches Bezeichnen der Welt und Wirklichkeit wurzelt.

Das (hoffentlich nur vorläufig) letzte Heft der Reihe ist 2006 erschienen, mithin vor nun schon drei Jahren – was zu der Befürchtung Anlass geben muss, dass dieses so hoffnungsvoll begonnene, in jedem einzelnen seiner Ergebnisse beachtenswerte Projekt einer tatsächlich erstaunlichen, zum Sehen und Verstehen einladenden Zeitschrift vor der Zeit auf der Strecke bleibt. Dies würde ich sehr bedauern, denn an noch unbehandelten Themen zur „Signographie” mangelt es ja wahrlich nicht. So erträume ich mir beispielsweise ein SIGNA-Heft über die „Tags” der spraydosenbewaffneten Graffiti-Maler unserer Tage, oder eins über die Gaunerzinken des fahrenden Volkes der Vergangenheit.

Darum hier ausnahmsweise mal Reklame. Bestellen Sie SIGNA, liebe Leser meines Weblogs. Fast alle alten Nummern sind noch lieferbar. Setzen Sie ein Zeichen gegen den Trend, Zeichen zwar tagtäglich zu entziffern, ihr tiefstes Wesen aber nicht verstehen zu wollen!

[Titelbild: Schriftbild von Lei Song; aus: SIGNA 8: Zeichen schreiben, S. 19. – © Verlag Denkmalschmiede Höfgen gGmbH, Edition Wæchterpappel, Grimma 2005.]

Protected: Seligkeiten?

Wednesday, 07. January 2009

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Sehr gut?

Tuesday, 06. January 2009

Gestern besuchte mich mein guter alter Freund Heinrich, mit dem sich immer trefflich über Gott, das Wort streiten lässt. „Streiten” heißt hier zwar in der Regel „aneinander vorbeireden”, aber in dieser beiderseitigen Verfehlung liegen meist mehr Erkenntnismöglichkeiten als im nur vermeintlichen gegenseitigen „Verständnis” jener, die sich, gleich auf welcher Seite des Zauns, mit einem freundlich-toleranten Lächeln auf den Lippen zunicken, wie zum Beispiel im Gespräch über Religion und Vernunft, das Professor Jürgen Habermas und Kardinal Joseph Ratzinger 2004 geführt haben.

Heinrich machte mir ein sehr liebenswürdiges Geschenk, den Kleinen Atheismus-Katechismus, den Gerd Haffmans im vorigen Jahr zusammengestellt und herausgegeben hat (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2008). Auf gerade einmal 170 Seiten versammelt Haffmans einige der schärfsten literarischen Gewürze, mit denen sich das gelegentlich eher fade schmeckende Eintopfgericht nüchternen Unglaubens abschmecken lässt. Neben den Klassikern wie Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer, Karl Marx und Charles Darwin – dem Jubilar dieses neuen Jahres – sind auch meine speziellen Hausunheiligen Fritz Mauthner, Theodor Lessing und Arno Schmidt mit ihren besten Ketzereien vertreten. Das proper fadengeheftete Bändchen kostet reelle 12,90 €, beschert den mitdenkenden Leser überreich mit bitteren Einsichten, sauren Erkenntnissen und scharfen Witzen und verdirbt ihm womöglich auf Lebenszeit den Geschmack für die süßlichen Versprechungen einer besseren Jenseitigkeit via Gottesglaube, Beichte und Frömmelei.

Besonders erfreut haben mich die Aphorismen zur Gotteswissenschaft (S. 101-109) von Ludger Lütkehaus (* 1943), der mir zuerst durch sein handliches Buch über die Onanie („O Wollust, o Hölle”. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag) und dann erneut mit seinem gewichtigen Buch über das Nichts (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2000) angenehm aufgefallen war: als sowohl schamlos Fragender wie geistreich Antwortender.

Zwei Kostproben. „Warum erfreut sich das Recycling so großen Zuspruchs? Weil es die realistischere Form der Unsterblichkeit ist. Sublimation der irdischen Abfallwirtschaft mit hinausgeschobenem Verfalldatum.” (Recycling, S. 103.) – Und dann dies hier: „,Siehe, es war alles sehr gut.‘ Der Schöpfer, der sich am Ende seiner Sechstagewoche selber zu seinem Schöpfungswerk gratuliert, liefert nicht nur ein beklagenswertes Beispiel für den Mangel an Realismus. Er ist auch der bei weitem Eitelste in der Gemeinde der Selbstgefälligen. Den Realismus liefert er zwar mit den Folgen des Sündenfalls nach. Sein Schöpfer-Narzissmus aber bleibt ungetrübt. Er rettet sein Bild aus dem Desaster, indem er die Schuld nie bei sich selber sucht. Unter allen Uneinsichtigen ist er der Unbelehrbarste.” (Sehr gut, S. 108.)

Ein passendes Geschenk zu allen christlichen Feiertagen – sowie zur Taufe, Kommunion und Letzten Ölung!

Deckchair

Monday, 05. January 2009

[Heimlich, still und leise, über Nacht.]

Laberfeld

Sunday, 04. January 2009

Bei uns zu Hause stand seit den 1950er-Jahren immer die gute Bärenmarke – „Allgäuer Alpenmilch · ungezuckerte Kondensmilch” – auf dem Frühstückstisch. Bemerkenswert, dass die erste Wortmarke, mit der ich nähere Bekanntschaft schloss, das Wort „Marke” expressis verbis mit sich führte. Die Melodie zum Slogan dieser Büchsenmilch, „Nichts geht über BärenmarkeBärenmarke zum Kaffee”, könnte ich noch immer singen, wenn ich denn singen könnte. Der darin behauptete Alleinstellungsanspruch allerdings war, wie meist in solchen Fällen, reichlich verwegen, denn es gab ja auch noch Glücksklee. 1925 gründete der Kaufmann Otto Lagerfeld (1881-1967) in Hamburg die Glücksklee-Milchgesellschaft zum Vetrieb von Dosenmilch, die rasch expandierte und den Milch-Industriellen zu einem reichen Mann machte, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil das Firmenlogo, ein vierblättriges grünes Kleeblatt auf rot-weißem Grund, sich als Bildmarke mit hohem Wiedererkennungswert erwies und ihm jenseits allen Aberglaubens jenes Glück bescherte, das am Ende nur der Tüchtige hat. Aus dem Glückskleeblatt ließen sich bis in die späten 1970er-Jahre manch zugkräftige Werbesprüche ableiten: „Hauptsache Glücksklee: Milch von glücklichen Kühen” (1961), „Ein Schuß Glück” (1971) und „Jeder braucht ein kleines bißchen Glück” (1978).

Glück hatte auch Ottos Sohn Karl (* 1933), wenngleich zunächst nur dank seiner noblen Abstammung. Außer dem komfortablen Portefeuille scheint Karl aber auch Vater Ottos Instinkt für die Durchschlagskraft von Markenzeichen geerbt zu haben: Fächer, Pferdeschwanz und Sonnenbrille machten den weltberühmten Modeschöpfer und seine Kollektionen für Valentino, Krizia, Chloé, Chanel und Fendi zu einer überaus erfolgreichen, unverwechselbaren Marke. Das ist für einen wie mich, der seinen Kaffee seit vielen Jahren schon schwarz trinkt, kein Grund, neidisch zu werden auf des Schlossherrn 300.000 Bücher und ihn gar zu fragen: „Haben Sie die alle gelesen?” Bärbeißig werde ich aber, wenn ein solcher Schnittmustervirtuose, statt bei Nadel und Faden zu bleiben, zu allem Überfluss und meinem Überdruss den Mund aufmacht und meint, er dürfe ungestraft seine Lebensweisheiten zum Besten geben.

Schon im letzten Stern des vergangenen Jahres hatte die Marke KL bekannt: „Solange wir Fleisch essen, können wir uns nicht über Pelze beschweren.” (Nr. 52 v. 17. Dezember 2008, S. 127; dort wohl aber zit. nach dem Daily Telegraph, der wiederum Radio 4 Today zitierte.) Und gestern stellte der Spiegel diesen markigen Satz des Beinahe-Vegetariers („Ich kann es [Tierfleisch] kaum essen, weil es nicht mehr wie das aussieht, was es war, als es lebte.”) in einen markanten Kontext: „Der deutsche Designer verwies auf die Jäger im Norden, ‚die davon leben und sonst nichts gelernt haben außer der Jagd […] und jene Bestien töten, die uns töten würden, wenn sie es könnten.‘” Solange wir uns mit Strom aus der Steckdose rasieren, können wir uns nicht über Atomkraftwerke beschweren. Solange der überwiegende Teil unserer Wohlstandsbevölkerung an Adipositas krepiert, darf die Anorexie meiner Models kein Thema sein. – Mensch Karlchen, du bist mir mal ‘ne Marke!

Übrigens bereitet dem wohlbestallten Kondensmilcherben auch die Weltwirtschaftskrise keinen sonderlichen Kummer. „Das ganze System sei ,ohnehin verrottet‘ gewesen. Die Rezession sei eine Art Großreinemachen.” Und zudem sei seine Branche, die Luxusindustrie, „von der Finanzkrise wenig betroffen: ,Zum Glück gibt es heute Vermögen auf der Welt, die es bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 noch nicht gab – chinesische, indische, arabische, russische. Wenn die Krise vorbei ist, werden Europa und Amerika endgültig die schöne alte Welt sein, und die neue Welt wird repräsentiert von Indien, China und den Golfstaaten‘, so Lagerfeld.” Das ist doch mal ein gänzlich unsentimentaler Businessman im sonst oft so nostalgischen Modegeschäft! Wenn er zurückblickt, dann im Zorn. Warum hat er sein Haus an der Hamburger Elbchaussee verkauft? „Ich hatte das Gefühl, die Elbe schneidet mich ab von meinem eigenen Wesen und versetzt mich zurück an meinen Ausgangspunkt, und das will ich nicht.” Geschichtslosigkeit als Lebensprinzip.

Die Bärenmarke hat kürzlich den Bären, der seinen Nachwuchs in sanften Schlummer wiegt [siehe Titelbild], aus seiner gut eingeführten Bildmarke entfernt. Solche marketing-strategischen Anbiederungen an die aktuelle political correctness und an schmusige Massenhysterien à la „Braunbär Bruno” und „Eisbär Knut” sind mir durchaus suspekt. Aber ein labernder Kondensmilcherbe, der uns seine bestialischen Werbesprüche für seine aktuelle Fendi-Kollektion damit schmackhaft machen will, dass doch schließlich jeder lieber einen toten Pelz trägt, als von seinem lebendigen Inhalt gefressen zu werden – der ist einfach nur degoutant.

Protected: Grobpepita

Saturday, 03. January 2009

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Protected: Raymond Martin (I)

Saturday, 03. January 2009

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Dreidel

Thursday, 01. January 2009

Als ich in den Zeitungen las, dass die Israelis ihre Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen „Gegossenes Blei” genannt haben, da dachte ich zunächst an den uralten Sylvesterbrauch des Bleigießens. Dabei wird bekanntlich Blei auf einem Löffel erhitzt und dann flüssig in kaltes Wasser geschüttet, sodass es zu einer vom Zufall oder vom Schicksal betimmten Form erstarrt. Die Gestalt dieses Bleiklümpchens wird anschließend gedeutet. Sieht es etwa aus wie ein Dolch? Dann bedeutet das: „Du wirst siegreich sein.” Oder erinnert es eher an eine Pfeife? „Achtung! Gefahr zieht auf.”

Ich wollte es aber genauer wissen und habe darum ein wenig recherchiert. Es verhält sich anders als von mir vermutet. Der Name der Offensive bezieht sich nicht aufs Bleigießen, sondern auf eine Verszeile des israelischen Nationaldichters Hayyim Nahman Bialik (1873-1934) aus seinem Gedicht Für Chanukka, in dem sich ein Kind über die vier Geschenke freut, die es der Tradition gemäß zum jüdischen Lichterfest erhalten hat. Der Vater zündete ihm die Kerzen (am neunarmigen Chanukka-Leuchter) an, der Schamasch (die “Dienerkerze”, mit der die übrigen acht Kerzen entzündet werden) leuchtete wie eine Fackel; die Mutter buk ihm Pfannkuchen, heiß und süß und mit Zucker bestreut; der Onkel schenkte ihm einen alten Penny; und der Lehrer hatte einen großen, allerfeinsten Dreidel für das Kind gekauft, aus gediegenem (gegossenem) Blei.

Ein Dreidel [siehe Titelbild] ist ein Kreisel mit vier Seiten, auf denen die vier hebräischen Buchstaben נ (Nun), ג (Gimel), ה (He), ש (Schin) zu lesen sind. Sie stehen für die Worte Nes gadol haja scham, die soviel bedeuten wie „Ein großes Wunder ist dort geschehen.” Dies bezieht sich auf den Sieg der gläubigen Juden im Makkabäeraufstand (164 v. Chr.) über makedonische Syrer und hellenisierte Juden und die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem. Das Dreidelspiel der jüdischen Kinder zu Chanukka ist aber wesentlich jüngeren Ursprungs und stammt ursprünglich aus Deutschland. Je nachdem, welchen der vier Buchstaben der kleine Kreisel zeigt, wenn er umgefallen ist, gewinnt der Spieler nichts, den ganzen oder halben Einsatz im Pott, oder er muss zwei Stücke, meist Süßigkeiten, hineintun. Wer das nicht kann, fliegt raus.

Chanukka ist ein bewegliches Fest und dauert acht Tage. In diesem Jahr begann es am Vorabend des 22. Dezember. Vielleicht gehörte es zur Strategie des israelischen Militärs, dass das Ende der Feierlichkeiten nicht abgewartet wurde, um den Feind zu überraschen – jedenfalls begann die Offensive bereits am 27. Dezember. Doch auch ein solcher „Tabubruch” folgt ja einer alten Tradition. Sowohl in den beiden „christlichen” Weltkriegen als auch im „islamischen” Krieg zwischen Iran und Irak wurde die gebotene und vom Feind eingehaltene Waffenruhe zu Weihnachten bzw. im Ramadan für Überraschungsangriffe missbraucht.

Der Dreidel kreist, die Bomben fallen. Kein gutes Omen zu Neujahr. Wann fällt der Dreidel auf die Seite? Auf welche Seite wird er fallen? Wir Menschen sind schon sonderbar. (Konrad Döbling)