Archive for April, 2008

Event

Wednesday, 30. April 2008

soiree

Wenn Gäste ins Haus stehen, bin ich immer ganz aus dem Häuschen. Ich weiß nicht, ob ich fortlaufen oder mich in mich selbst verkriechen soll. Gleichzeitig gibt’s doch noch so viel zu tun. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.

Meine Söhne würden sagen: „Ein geiles Gefühl!“ Konrad Adenauer hat gesagt: „Keine Experimente!“ Weil ich weder auf diese noch auf jenen höre, muss ich wie immer mit dem Schlimmsten rechnen und bin völlig gefühllos. Total cool. Paralysiert. Todesstarre.

Dann kommen also morgen Beatrix, Birgit, Brigitte, Christiane, Christoph, Eva, Eva, Eva, Gerd, Günter, Hakkı, Jacinta, Johannes, Jürgen, Juliette, Manfred, Ralf, Simona, Susanne, Tania, Valentin und Wolfgang – Überraschungsgäste nicht gerechnet. Exakt in 24 Stunden.

Die gute alte „Literarische Soiree“ ist von den Toten wiederauferstanden, wer hätte das gedacht? Gäste mit Gästen und Texte mit Texten und Gäste mit Texten und Texte mit Gästen zu konfrontieren – so habe ich mal mein Programm definiert.

Wenn ich nicht aus Erfahrung wüsste, dass ich spätestens eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung in einen geradezu überirdisch gelassenen Bewusstseinszustand verfalle und mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Abend gleiten werde – ich würde verrückt.

Bewerbung

Tuesday, 29. April 2008

Kieselsteine sortiert nach Alfabet

Meine Meisterschaften: Kieselsteine sortieren, warmes Wasser durch die Finger laufen lassen, Wolken mit dem Blick verfolgen, Buchseiten umschlagen, Fragen stellen, Luftballons mit einer Radiernadel zum Platzen bringen, zweifeln, meine Hände betrachten, mich erinnern, Landkarten erfinden, lachen, vorlesen, lächeln, Notbremsen ziehen und widersprechen.

Worin ich leidlich dilettiere: im Schachspiel und Pilzesammeln, im Braten ebenmäßiger Spiegeleier, im In-den-April-Schicken und An-den-Haaren-Ziehen, im Raten der Jahreszeit und Vergessen meines Alters, im Ausdenken von Ausflüchten und Ablenken von Absencen, im Kitzeln und anderen Techniken des Zum-Lachen-Bringens, im Geräuscherzeugen.

Was ich noch lernen möchte: Skat und Doppelkopf, die Zuordnung von Vogelstimmen, linkshändige Selbstbedienung, die Zubereitung einer Linsensuppe à la Ursula, das leidlose Nichtrauchen, das genussvolle Schweigen, den Foxtrott, die Blindenschrift, das Reisen, das Bereuen von Fehlern und Verzeihen von Komplimenten, das allerletzte Einschlafen.

Meine Unfähigkeiten: Fernseh gucken, Auto fahren, fliegen, singen und musizieren, glauben, Austern oder Weinbergschnecken essen, töten, Diener machen, auf schlechte Witze lachen, Bier trinken, Lippenbekenntnisse ablegen, Rauchringe blasen, Eselsohren knicken, meine Unterschrift fälschen, Stabhochsprung, auf den Fingern pfeifen u. v. a. m.

Einstellungsvoraussetzungen: völlige Freiheit in meiner Tageseinteilung und Arbeitsorganisation, Stille, leistungsfähiger PC mit schnurloser Tastatur und Maus, Internetzugang, Scanner, Drucker, Digitalkameras für Bild und Film, digitales Diktaphon, Entlohnung nach Besoldungsgruppe B1 für Beamte, leistungsfähige Kaffeemaschine.

Autodafé

Monday, 28. April 2008

weidermann

Bücherverbrennungen haben offensichtlich einen verzögerten Heizwert. Bald ist das Öl alle, dann können wir uns noch in bitterkalten Wintern, vor unserem endgültigen Abgang von der Bildfläche, am lieblichen Knistern der Bibliotheksbestände die klammen Hände wärmen.

Jetzt hat Volker Weidermann seiner vor zwei Jahren viel beachteten „kurzen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“ einen Folgeband hinterhergeschickt. Das ist überaus geschickt – oder bloß zwingend notwendig.

Kiepenheuer & Witsch weiß, was der Verlag seinen Umsatzzahlen schuldig ist. Lesebändchen und ein Pappcover mit Wiedererkennungswert sind obligatorisch, die Schrumpfung von 324 auf 254 Seiten bemerkt ohnehin kein lesendes Schwein. Ob der Preis für diese um ein Fünftel knapper geratene Nachfolgeerscheinung bloß um 15 Prozent niedriger liegt – wen stört‘s? Und dass Weidermann wie ein Storch im Spagat in den ausgetretenen Fußstapfen seines Vorbilds und Vorgängers Jürgen Serke einherstolziert, ohne in diesem epigonalen Bändchen auch nur entfernt dessen Klasse zu erreichen – wen stört’s?

Mich stört, dass beide Bücher gelumbeckt und nicht fadengeheftet sind. Dann sollen sie doch bitte ehrlich sein und gleich als Taschenbücher erscheinen. (Die Lichtjahre gibt’s jetzt schon zum halben Preis bei BtB.) Dass Buchkäufer und Bücherliebhaber so genau hinguckten wie ich, ist allerdings auch schon Lichtjahre her. Was bin ich nur für ein unverbesserlicher Anachronist?

Immerhin freut mich, dass Weidermann in seinem neuen Buch erstmals auch jene verbrannten Bücher aus dem Scheiterhaufen zieht, deren einziges Verdienst war, überhaupt hineingeworfen worden zu sein. So rettet er eine Adrienne Thomas, deren Werke er „stark gefühlt und ziemlich schwach geschrieben“ nennt, vor dem endgültigen Vergessen. Vergiss es trotzdem! Einzig ihre Indizierung, die sich aus peripheren Gründen herleitet, macht solche nach Weidermanns eigenen Worten „ordentlich auf die Nerven“ gehenden Überflüssigkeiten bemerkenswert. Das reicht aber nicht, meine Neugier zu wecken. Mit solchen literarischen Sequels ist kaum ein Blumenpott zu gewinnen – weder bei den Gutwilligen, noch und erst recht nicht bei einem Böswilligen wie mir.


Protected: Soiree

Monday, 28. April 2008

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Balance

Saturday, 26. April 2008

desnos

Jeder Tag ist ein Hochseilakt zwischen zwei möglichen Abstürzen. Rechts gähnt die tödliche Langeweile, links will mich die Überfülle der Ereignisse, Reize, Herausforderungen, Aufgaben, Pflichten, Verantwortungen zerfleischen. Immer entweder ein maßloses Zuviel – oder ein quälender Mangel, der den drohenden, endgültigen Stillstand im Schilde zu führen scheint.

Jetzt will ich aber nicht schon wieder jammern. Was wäre denn die Alternative? Die Behäbigkeit gemächlichen Fortschreitens auf einem zwielichtigen, gefahrlosen, breiten Mittelweg. Die graue Durchschnittlichkeit jahreszeitloser Einheitstage, weder schwarz noch weiß, von Farben nicht zu reden. Will ich das? Sehne ich ein solches Einerlei herbei, damit mein Herz endlich in einem gleichmäßigeren Rhythmus schlagen kann?

Nein.

Also sind sie weiter auszuhalten, die ewigen Widersprüche, zwischen Systole und Diastole, Zweifel und Gewissheit, Liebe und Hass, Detailversessenheit und Verallgemeinerung, Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl, dem Blühen und Verwelken, Antwortenkönnen und Ratlossein, Nehmen und Geben, Verteidigen und Angreifen, Dulden und Zufügen, Kämpfen und Scheitern, zwischen Ebbe und Flut, Sonnenauf- und -untergang.

Tagaus, tagein: ein Einerlei bei allem Wechselspiel. Mag ich das? Ich muss wohl noch mögen wollen, für ein Weilchen, über den Tag hinwegschwebend in ungewisse Zukunft. Das Ende steht fest, sein Zeitpunkt ist ungewiss. Daran ist nichts beklagenswert, ebensowenig zu begrüßen. Conditio humana. Keine Anstrengung ist lohnender als die um das tägliche, alltägliche Gleichgewicht, selbst wenn das Ergebnis meist nur lautet: Ich hab’s auch heute gewagt, auf dem Hochseil zu balancieren – und bin nicht, nach links oder rechts, hinabgestürzt in die so verschiedenen, ja gegensätzlichen, komplementären Abgründe. Gefallen wohl, und das scharfe Drahtseil hat mich mitten entzweigeschnitten. Aber morgen ist auch noch ein Tag, und die Nacht zwischen heute und morgen, mit ihren Träumen, lässt mich wieder zusammenwachsen.

(Für Robert Desnos, den Mann im Bild.)

Herztöne

Saturday, 26. April 2008

„Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ (Deutsches Sprichwort)

Und wer „das Herz am rechten Fleck“ hat, wird dann recht gesprochen haben.

„Wenn das Herz am rechten Fleck ist, spielt es keine Rolle, wo der Kopf ist.“ Das waren die letzten Worte von Walter Raleigh vor seiner Enthauptung am 29. Oktober 1618.

Wem aber „das Herz in die Hose gerutscht“ ist, dem kommt kein freies Wort über die zitternden Lippen.

Der sollte den Rat beherzigen: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“

Ravashi-Syndrom

Thursday, 24. April 2008

apfel

In dem sehenswerten Film Adams Äpfel von Anders Thomas Jensen (Dänemark 2005) diagnostiziert Dr. Kolberg bei dem durch keine persönliche Katastrophe von seinem festen Glauben an das Gute abzubringenden Pfarrer Ivan, der an einem tennisballgroßen Hirntumor leidet, ein “Ravashi-Syndrom”.

Dieses Krankheitsbild, das man merkwürdigerweise weder im Klinischen Wörterbuch von Willibald Pschyrembel noch im Lexikon der Medizin von Zetkin und Schaldach findet, ist laut Dr. Kolberg nach einem indischen Fußballspieler benannt, der sich bei einem Go-Kart-Unfall beide Füße abtrennte und anschließend nach Hause lief, ohne von dieser dramatischen körperlichen Beeinträchtigung Kenntnis zu nehmen. Ja, mehr noch: Ravashi läuft in den nächsten Wochen auf seinen Stümpfen zu mehreren Fußballmatches seiner Mannschaft auf und schießt als Mittelfeldspieler etliche Tore!

Ist dies nicht ein wunderbar treffendes Bild für die Unverdrossenheit, mit der wir trotz aller irreversiblen Beschädigungen unserer Lebensgrundlagen weitermachen, als wäre nichts gewesen? Augen zu und durch? Business as usual? „Apokalypse-Blindheit“ hat Günther Anders dieses Syndrom genannt.

Der wirklichkeitsblinde Pfarrer Ivan in Jensens Film wünscht sich von seinem Schutzbefohlenen, dem bösen Skinhead Adam, einen Apfelkuchen. Aber der Baum, der dazu die Äpfel liefern soll, wird von allerlei Plagen heimgesucht. Erst fällt ein Schwarm schwarzer Raben über die noch unreifen Früchte her, dann dezimiert ein Wurmbefall den traurigen Rest, und schließlich schlägt gar noch der Blitz in den Stamm ein. Ein einziger Apfel, den der Trinker, Vergewaltiger und Kleptomane Gunnar gestohlen hatte, bleibt übrig. Daraus backt dann Adam sein Küchlein für den Pfarrer. Ein Rest Hoffnung bleibt bis zuletzt: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ (Martin Luther)

Wir alle leiden offenbar längst unheilbar am Ravashi-Syndrom. Eine Therapie ist bisher nicht bekannt. Gäbe es sie und wäre sie erfolgreich, dann führte sie gewiss zum sicheren Tod.

Ecce Dodo

Wednesday, 23. April 2008

dodo

Die verstoßenen Außenseiter waren mir schon immer sympathischer als die erfolgreichen Durchschnittsmenschen, die hungrigen Bohemiens standen mir jederzeit näher als die satten Spießer, die eingesperrten Verrückten schienen mir jedenfalls lebendiger als die frei herumlaufenden Geistgesunden, der exaltierte Veitstanz weckte weit eher meine Zuneigung als die ruhige Abfahrt auf dem Mainstream.

Lieber wollte ich ein seltener Vogel sein, als ein häufiger Biedermann, der seinen im Käfig ratlos hin und her hüpfenden Wellensittich füttert.

Eher als der großartige Geheimrat Goethe war mir sein mickriger Adlatus Eckermann eine merkwürdige, bemerkenswerte Erscheinung: ein Vogelnarr erster Güte. Durch dessen sehr verschiedene, von der Nachwelt verkannte Augen war sein saturierter Herr und Meister vielleicht nur ein Vogel neben anderen, ein schräger unbedingt, wenngleich mit weiten Schwingen versehen, ein überaus gesprächiges Federvieh zwar.

Was sich in dieser verkommenen Menschenwelt zu Lebzeiten als Genie aufplustert und posthum zum Klassiker mausert, kann ja bloß minderen Wertes sein sub specie aeternitatis.

Vielleicht hat das edelste Wesen, das je auf dieser Erde gelebt hat, die wahre Krönung der Schöpfung, längst schon das Zeitliche gesegnet. Vielleicht leben wir, diese durch nichts als ihre massenhafte Verbreitung ausgezeichnete Art, bloß noch für ein knappes Weilchen als epidemische Seuche in der Nach-Dodo-Ära. Dann möchte ich in diesem endzeitlichen Geflügelschwarm jedenfalls lieber eine übersehene Dronte sein als ein erhabener Wappenadler.


Auslöschung

Tuesday, 22. April 2008

Hillary Clinton, mit dem Rücken zur Wand vor der vielleicht entscheidenden Vorwahl in Pennsylvania, zieht auf den letzten Drücker alle Register.

Sollte der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad seine Drohung vom 14. April 2006 wahr machen, das zionistische Regime und den Staat Israel von der Landkarte auszuradieren, dann würde sie als Präsidentin der USA rücksichtslos Gleiches mit Gleichem vergelten und Iran ebenfalls auslöschen.

Der Papst ist mittlerweile von seinem USA-Besuch in den Vatikan zurückgekehrt.

Das wäre doch mal eine Pointe der Menschheitsgeschichte. Ausgerechnet die erste Frau an der Spitze der letzten Weltmacht drückt den roten Knopf und reißt damit alle Welt und alle Macht in den Abgrund.

Was würde bloß unsere brave Bertha von Suttner dazu sagen?

Otto N. (I)

Tuesday, 22. April 2008

Ich gehöre nicht zu jenen 7,3 % der Bevölkerung dieses Landes, die regelmäßig den Spiegel lesen. Zu der Woche für Woche verkauften Auflage des Magazins von einer Million trage ich nur sehr sporadisch bei, vielleicht ein- bis zweimal pro Jahr. Heute war’s wieder mal an der Zeit, die dafür fälligen 3,50 € auf den Zahlteller des Kiosks meines Vertrauens zu legen. SPON hatte mich in Versuchung geführt, mit der Anpreisung des aktuellen Titelthemas: „Wie ticken die Deutschen? – Warum wir so sind, wie wir sind“.

„Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller,“ so hieß es dort, „sie sind erforscht, denn um sie dreht sich alles in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Ihr Massengeschmack bestimmt, was produziert wird, wer im Kanzleramt sitzt, worüber man einschläft, abends vor dem ZDF. Alles zielt auf die Mitte, Angela Merkel und die Medien, wer vollkommen normal ist, ist der heimliche König Deutschlands, Otto, der Mittlere.“ Auch mich, den Exzentriker, der nichts zu verkaufen hat und von niemandem gewählt werden will, interessiert diese Mitte, nämlich insofern, als ich mich in kleinen Schritten immer weiter von eben diesem Epizentrum der Durchschnittlichkeit wegzubewegen trachte. Es kann ja nicht schaden zu wissen, so dachte ich, welche „Einstellungen und Haltungen“ die Spiegel-Demoskopen „in zwei Umfragewellen“ zweitausend auskunftwilligen Deutschen abgelauscht haben, damit ich noch etwas klarer erkenne, was ich unter keinen Umständen sein bzw. werden will: ein typischer Deutscher.

Nun liegt der Spiegel also vor mir und ich verfolge anhand stellenweise eher unübersichtlicher Schaubilder den typischen Alltag von Otto N. und Lieschen M. Jeder Tag beginnt für die beiden um 6:23 Uhr und endet um 22:47 Uhr, ein Tag zwischen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen. Dem Begleittext der zwölf Spiegel-Redakteure entnehme ich zudem, dass der deutsche Mensch im Mittel exakt 15 Minuten benötigt, bis er eingeschlafen ist. Ob er morgens schon vor dem Sprung aus dem Bett aus seiner bevorzugten Seitenlage (69 %) ein Weilchen wach war, über seine Träume nachdachte, den bevorstehenden Tag Revue passieren ließ, das verschweigt die Studie ebenso wie die häufigsten Inhalte seiner Träume. Da aber nach eigener Einschätzung 81,5 % der Befragten „sehr gut“ oder doch „ziemlich gut“ schlafen, darf man auf einen traumlosen oder doch mindestens albtraumlosen Schlaf schließen, und auf ein Traumleben, das keine Spuren im Wachleben des Durchschnittsdeutschen hinterlässt. Ein paar Minuten mehr oder weniger machen ja übrigens den Kohl nicht fett. Und so unterstelle ich mal, dass Otto N. in seiner stabilen Seitenlage zwischen 23.02 Uhr und 6:23 Uhr ohne Bewusstsein ist. Nach meiner Rechnung entspricht dies einem knappen Drittel des 24-Stunden-Tages – und damit einem Drittel der Lebenserwartung heute lebender Frauen und Männer, die gegenwärtig 82,1 bzw. 76,6 Jahre beträgt. Im Durchschnitt verpennen also die Deutschen täglich sieben Stunden und 21 Minuten ihrer Lebenszeit, ganze 27,3 bzw. 25,5 Jahre ihres einmaligen, unwiederholbaren, endlichen Lebens. Wie schrecklich!

Erleichtert nehme ich zur Kenntnis, dass ich mit diesem Phantombild in keinem Detail übereinstimme. Zwar kann ich bedauerlicherweise im Unterschied zu Émile M. Cioran auf den Nachtschlaf nicht ganz verzichten, aber auf napoleonische vier Stunden vermag ich die unverschämten Forderungen der Götter Hypnos und Morpheus doch herabzudrücken, wenngleich nicht immer, so doch mit zunehmendem Alter immer öfter. Zudem gehöre ich zu den nur 18,5 %, die „nicht gut“ schlafen. Im Gegenteil ist mein Schlaf unruhig, ich wälze mich im Bett herum, meine häufigen Albträume stillen meinen Bedarf an Horrorfilmen zur Genüge (wodurch ich in meiner wachen Zeit wiederum Zeit spare). Das Wort vom „Schlaf der Gerechten“ ist mir nie eingegangen und ich habe immer schon gemutmaßt, dass es ursprünglich „Schlaf der Selbstgerechten“ hieß. So schlafe ich also, wenn ich endlich eingeschlafen bin, „sehr schlecht“. Leider unterschlägt der Spiegel den Prozentanteil jener, die wie ich dieser schlafgestörten Randgruppe zugehören.

Schon nach dieser Stichprobe, zum Schlafverhalten meines Widerparts, des „Musterdeutschen“ – so wird Otto N. tatsächlich in der Titelgeschichte des Spiegel auch einmal genannt – ist evident: Diese 3,50 € haben sich rentiert. Der Erkenntniswert eines solchen Vergleichs zwischen mir und ihm, auch der Lustgewinn für mich, den selbstbewussten Outsider, waren den Einsatz jetzt schon wert. „Jeder Mensch,“ so der Spiegel, „befragt sich nach der eigenen Nähe, dem eigenen Abstand zum ,Normalen‘. Jeder will dabei besonders sein, individuell erkennbar, originell, und jeder bewegt sich dabei doch viel öfter, als er ahnt, in der großen Karawane namens Durchschnitt. Und selbst der größte Individualist, der glaubt, ein Unikum zu sein, misst sein Lebensglück im Abstand zu ihm, dem Menschen, der das Maß der Mitte ist.“ Den nächsten Spiegel kaufe ich frühestens in 26 Wochen. Bis dahin werde ich regelmäßig montags, unter der Headline „Otto N.“, von der ganz individuellen, originellen, exzentrischen Auswertung dieser „Mittelmaßstudie“ zehren können. Nur 13 €-Cent als Vorabinvestition für jeden dieser Blog-Beiträge – da kann ich doch wahrlich nicht meckern! – Danke, Spiegel!

[Fortsetzung Otto N. (II).]

Verletzung

Sunday, 20. April 2008

Das wäre also auch überstanden: der Papst-Besuch in den USA. Wenn man sich dafür interessierte, was Ratzinger denn nun wortwörtlich gesagt hat vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, beim viel beschworenen Höhepunkt seines ersten Auftritts im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dann musste man schon zur New York Times greifen, per Mausklick. Andernorts fand man bloß mickerige Inhaltszusammenfassungen.

Und selbst die „alte Tante“ NYT (Uwe Johnson) machte es dem Aufklärungswilligen nicht eben leicht. Sie brachte den kompletten Redetext zwar per Videostream auf den Bildschirm, aber das nebenher laufende Manuskript der englischen Übersetzung musste ich mir schon mühsam Wort für Wort abschreiben. Benedikt XVI. setzte seine programmatische UN-Rede portionsweise gleich zweisprachig in Szene und bewies damit seine Vielsprachigkeit medienwirksam in Französisch und Englisch.

Mich beschäftigt hier allein ein einziger Satz des Papstes, als warnendes Wort zum wissenschaftlichen Fortschritt gemeint. „Notwithstanding the enormous benefits that humanity can gain, some instances of this represent a clear violation of the order of creation, to the point where not only is the character of life contradicted, but the human person and the familiy are robbed of their natural identity.“ (So die Übersetzung der NYT aus dem französischen Original; kursive Hervorhebung von mir.)

Wir haben es also nach den Worten des Papstes in einigen Fällen wissenschaftlicher Forschung – Benedikt XVI. spielt damit auf die embryonale Stammzellenforschung an – mit einer „eindeutigen Verletzung der Schöpfungsordnung“ zu tun? Da tritt also ein Homo sapiens, als Stellvertreter Christi auf Erden, mithin als Repräsentant einer der herrschenden Weltreligionen, vor den höchsten weltlichen Rat dieser missglückten Art, mit einer solchen mickerigen Sorge?

Ach, lass Dir doch von einem jugendfrischen, klarsichtigen und respektlosen Revierflaneur sagen, wie es sich tatsächlich verhält, lieber Joseph Ratzinger: Wir Menschen, einerlei ob religiös oder nicht, ob Muslime, Christen, Buddhisten, Juden, Hinduisten oder Atheisten, sind allesamt, wie wir (noch) da sind, „eine eindeutige Verletzung der Schöpfungsordnung“. Und wenn Du das immer noch nicht begriffen hast, dann kann Dir kein Gott mehr helfen.

Kommentare

Sunday, 20. April 2008

Was ich an meinem Weblog und an Blogs ganz allgemein so reizvoll finde: Erstens die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der ich in wenigen Stunden einen Text taufrisch vom Schreibtisch weg veröffentlichen, ihm zu einer wenigstens potenziellen Weltöffentlichkeit verhelfen kann. Zweitens die theoretisch unbegrenzte Dauerhaftigkeit seiner Präsenz im Web, auch wenn ich damit das Risiko eingehe, dass noch in fernster Zukunft meine öffentlichen Meinungsäußerungen privatim gegen mich verwendet werden könnten. Drittens die Möglichkeit nachträglicher Korrektur, wobei mein Berufsethos als Schreibender mich dazu verpflichtet, ausschließlich formale Fehler zu korrigieren und ich inhaltliche Änderungen selbst dann nicht vornehme, wenn sich meine Meinung in der Sache geändert hat oder ich gar einsehen muss, unbedacht peinlichen Nonsens abgesondert zu haben. Viertens die bequeme Verweistechnik, das Verlinken auf andere Inhalte im Netz, mit deren Hilfe ich meine Quellen ohne lästige Fußnoten und Literaturangaben offenlegen und zu weiterführender Lektüre anregen kann.

Fünftens schließlich, und das ist vielleicht die revolutionärste und folgenreichste Besonderheit des neuen Mediums: der „direkte Draht“ zum Leser, durch das zeitlich und räumlich unbegrenzte Kommunikationsfeld der Kommentare. Ich bekenne mich ausdrücklich zu jener Blogger-Fraktion, die ein „Netztagebuch“ nicht als echtes Weblog anerkennt, bei dem die Kommentarfunktion von vornherein unterdrückt wird.

Schon im ersten Massenkommunikationsmittel der Menschheitsgeschichte, in der Zeitung, fristete die Antwortmöglichkeit der Rezipienten traditionell, und fristet erst recht in der Gegenwart ein eher kümmerliches Schattendasein; nämlich in den Leserbriefspalten. Beim dominierenden Massenmedium des vorigen Jahrhunderts, dem Fernsehen, konnte von offener Kommunikation zwischen Sender und Empfänger schon gar nicht mehr die Rede sein. Übergangslos wurden aus den gehorsamen Befehlsempfängern der faschistischen Diktatur die passiven TV-Konsumenten der konsumistischen Demokratie.

Mit dem Aufkommen der Weblogs vor wenigen Jahren und ihrer weltweiten Verbreitung hat nun ein hohes Ideal der demokratischen Aufklärung eine unerwartete Chance auf seine späte Verwirklichung erhalten: das Ideal eines öffentlichen Dialogs freier Bürger; des von nahezu keiner Zensur und nur geringen ökonomischen Barrieren begrenzten Rechts auf unmittelbaren Meinungsaustausch.

Angesichts der hoffnungsvollen Aussicht, dass durch eine bloße technische Innovation im Internet das von Michel Foucault beschriebene diskursive Konzept der Parrhesia vielleicht doch noch eine Zukunft hat, erscheinen mir alle Risiken und Nebenwirkungen, die das Instrument Weblog mit Kommentaroption nach sich zieht, wie Schönheitsflecken in einem liebreizenden Antlitz. Dass mich Kommentare zu meinen Blogbeiträgen gelegentlich nerven, zumal wenn sie in Richtungen gehen, die weit von dem von mir angeschlagenen Thema wegführen, das nehme ich gern in Kauf, auch wenn ich mich als Kommentator in eigener Sache darüber beklage. Schließlich behält ja auch der „Quertreiber“ das Recht, meine vielleicht kleinliche oder gar selbstverliebte, an meinen Themenvorgaben „klebende“ Klage öffentlich zu monieren – und dem stillen Leser, der auf jeden Kommentar verzichtet, bleibt es unbenommen, sich in aller Stille seine persönliche Meinung zu bilden.

Druckfehlerfrei?

Friday, 18. April 2008

Ich bin, seit ich lesen kann, auf der Suche nach dem druckfehlerfreien Buch. Bisher habe ich noch keins gefunden. Vielleicht kann ich nach vier Jahrzehnten Großfahndung jetzt endlich einen Erfolg vermelden.

Ich lese nämlich gerade Eine Art Verrat von Karl Heinz Bittel. Der Autor des Romans über das schwierige Verhältnis von Thomas und Klaus Mann war nämlich lange Jahre hauptberuflich Lektor und gar im Knaus-Verlag Betreuer des für seine Pingeligkeit bekannten Walter Kempowski. Wenn ein solchermaßen geprüfter Fachmann für Richtigkeit sein eigenes Buch lektoriert, dann besteht doch vielleicht beste Aussicht auf ein makelloses Gelingen – zumindest was die Vermeidung von Dreckfuhlern angeht.

Andererseits weiß ich aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass man gerade für die Fehler, die man selbst macht – und übrigens nicht nur in Texten – oft mit einer Blindheit geschlagen ist, die zum Himmel schreit. Vermutlich weiß das auch Bittel und hat darum sein Buch bewusst nicht selbst lektoriert. Und richtig, das Impressum weist einen „Bernd Henninger, Heidelberg“ als Lektor aus. Der hat sich seine Sporen immerhin im seriösen Verlag Lambert Schneider verdient, keine schlechte Adresse. (In der dort erschienenen Ausgabe des Alten Testaments, übersetzt von Martin Buber und Franz Rosenzweig, konnte ich jedenfalls nur sehr wenige Druckfehler entdecken.)

In Bittels Roman, den ich jetzt etwa zu einem Drittel gelesen habe, ist mir bisher tatsächlich noch kein einziger Schnitzer aufgefallen. Die Spannung steigt von Seite zu Seite. Ich kann mich paradoxerweise schon gar nicht mehr auf den Inhalt konzentrieren; denn meist ist’s ja gerade umgekehrt und meine Konzentration leidet unter der prallen Fülle der Fehler. Und hier fehlen sie mir.

Kann der Mensch denn nie zufrieden sein?

Fünf Temperamente

Thursday, 17. April 2008

Ich bin Choleriker, hauptsächlich. Rege mich über Kleinigkeiten auf wie ein Rohrspatz. Was ist denn eigentlich genau ein „Rohrspatz“? Ich könnte mich tierisch darüber aufregen, dass ich das nicht weiß. Ich könnte jetzt googeln oder bei Wikipedia nachschauen. Aber ich platze jetzt lieber vor Wut, dass ich das nötig habe. Das Platzen habe ich nötig.

Ich bin Phlegmatiker insofern, als ich den Arsch nicht hochkriege, wenn es darum geht, meine Steuererklärung für 2007 vorzubereiten. Diese Beschäftigungstherapie für langweilende, gelangweilte Schrapphälse ist mir so wesensfremd wie der Balzgesang des Zeisigs. Und wird es wohl immer bleiben. Ruhe sanft, lieber Geldsack.

Ich bin Sanguiniker spätestens nach dem zweiten Frühstück. Hans-guck-in-die-Luft und Hans-im-Glück. Der Graben, in den ich falle, birgt zwar keinen verlorenen Goldklumpen, aber doch immerhin die Erfahrung, an seinen steilen Wänden wieder den Aufstieg ans Licht schaffen zu können. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.

Ich bin Melancholiker.

Der Rest ist Schweigen.

zipperlein

Wednesday, 16. April 2008

verdankt sich diese beobachtung bloß einem gehässigen, gar frauenfeindlichen vorurteil, oder ist es wirklich so? bloggerinnen neigen dazu, in ihren web-tagebüchern ihre jeweils aktuellen körperlichen missbefindlichkeiten zum hauptthema zu machen. ein roter blutfaden, der sich durch ihre alltäglichen textergüsse zieht. ein markenzeichen zugleich kränkelnder und aufbegehrender weiblichkeit?

das erprobte und offenbar grenzenlos belastbare stilmittel dieser hypochondrischen egomanien ist die komische übertreibung. wenn frau in ein wimpernzucken den unmittelbar bevorstehenden schlaganfall hineinimaginiert, hat frau die lacherinnen offenbar mühelos auf ihrer seite.

liegt es an mir, dass mir beim lesen solcher femininen jammerarien mit dem touch schicksalsergebener ironie immer wieder kein besseres vorbild in den sinn kommt als ephraim kishon, der den von theodor lessing diagnostizierten jüdischen selbsthass zum literarischen kabarettprogramm hinabstilisierte?

otto weininger zaubere ich jetzt mal nicht aus dem zylinder, sonst müsste ich die geschichte erzählen, wie ein nachmalig in der gefängniszelle durch selbstmord endender karrierearzt a., der ein paar patienten durch giftspritzen aus der welt befördert hatte, um deren plötzlichen tod seinen kollegen in die schuhe schieben zu können, sich mal bei mir, dem buchhändler, beschwerte, dass es die neuauflage von ‚geschlecht und charakter‘ bei matthes & seitz nicht in leinen gab, mit den worten: „ich kaufe die wurst beim metzger doch auch nicht ohne pelle!“ zwar würde dies vielleicht interessanter sein als die unterleibsgeschichten der bloggerin b., aber doch zu weit vom thema wegführen.

das thema ist und die frage lautet: was wollen uns die evastöchter mit ihren in weblogs und auch anderswo so überaus zahlreich bekundeten körperlichen leiden, die sie im gleichen atemzug als nicht ernst zu nehmende wehleidigkeiten diskreditieren, eigentlich sagen?

Papstreise

Wednesday, 16. April 2008

Der Katholik Joseph Ratzinger hat seine morgige Geburtstagsparty ins Weiße Haus verlegt. Der Protestant George W. Bush, Haupttäter des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen den Irak, holte ihn soeben höchstpersönlich in Begleitung von Ehefrau Laura und Tochter Jenna von der Andrews Air Force Base in der Nähe von Washington D. C.  ab – eine Ehre, die der 43. Präsident der USA bisher noch keinem Staatsgast zuteil werden ließ.

Im Weißen Haus wird der Papst an seinem 81. Geburtstag mit militärischen Ehren im Land der Waffennarren und der Todesstrafe empfangen. Nahezu zwölftausend Gäste sind zu einem Festessen auf dem grünen Rasen geladen. Auf der Speisekarte des Galadinners stehen bayerische Spezialitäten. Da dürften dann wohl solche Schmankerln kredenzt werden wie weißer Presssack, Altmühltaler Weidelamm und Allerseelenzopf, auch Seelenspitzen genannt.

Der Pontifex selbst nimmt an dem Festschmaus zu seinen Ehren aber gar nicht teil, sondern feiert derweil lieber einen Vespergottesdienst mit den Bischöfen des Landes in der Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception. Einig sind sich Bush jun. und Ratzinger in ihrer Ablehnung der Abtreibung und der embryonalen Stammzellenforschung. Der Papst ist übrigens auch entschiedener Gegner des sexuellen Missbrauchs minderjähriger Messdiener durch katholische Geistliche, eine sehr verbreitete Folgeerkrankung des Zölibats, für die in den letzten Jahren in den USA Entschädigungszahlungen an die Opfer in Milliardenhöhe fällig wurden. (George W. Bush, als reformierter Christ, muss dazu ja gottlob keine Meinung haben.)

Der erste USA-Besuch von Benedikt XVI. endet am kommenden Sonntag. Vor seinem Rückflug nach Rom wird er um halb zehn Uhr New Yorker Ortszeit an Ground Zero für die Seelen der Opfer des Anschlags vom 11. September 2001 beten. Wir vertrauen darauf, dass er die noch weit zahlreicheren, indirekten Opfer dieses abscheulichen Verbrechens an anderen Orten der Welt, in Afghanistan etwa und Irak, in seine Fürbitte mit einschließen wird.

Auch vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen wird Ratzinger auftreten und dort am Freitag eine programmatische Rede halten. Seine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. besuchten den Glaspalast traditionell im Herbst (der Jahre 1965, 1979 und 1995). So hatte es ursprünglich auch Benedikt XVI. geplant, doch seine Ratgeber empfahlen ihm, die Reise vorzuverlegen, um nicht in Versuchung zu kommen, Einfluss auf die Präsidentschaftswahl am 4. November zu nehmen. Man weiß ja seit Regensburg, wie schnell sich der Papst verplappert. Nicht auszudenken was geschähe, wenn ihm auf die Frage, ob er nun für Clinton oder Obama sei, ein unbedachtes „tertium datur“ über die Lippen käme.

Lesebrille

Monday, 14. April 2008

Zwischen zwei Büchern gibt es für den obsessiven Leser einen Augenblick, da nagt der Zweifel bis auf die Knochen. Und noch eins? Und welches? Und wozu überhaupt weiter lesen? Habe ich nicht längst schon mehr als genug gelesen? Gehorche ich vielleicht bloß einem pathologischen Zwang, einer krankhaften Lesesucht, indem ich nun schon wieder nach einem neuen Buch giere, wo ich das letzte doch gerade erst aus der Hand gelegt habe?

Lohnte es denn überhaupt die Liebesmühe, die Anstrengung des Lesens – dieses zuletzt gelesene Buch? War es die Zeit wert, die ich über oder unter oder mit ihm verbrachte?

Und wenn nicht: Verspricht mir das nächste Buch, das ich schon längst ins Auge gefasst habe, tatsächlich mehr Erfüllung? – Oder wenn doch: Laufe ich nicht Gefahr, den starken Eindruck, den ich von meiner letzten Lektüre noch in mir trage, durch eine neuerliche Enttäuschung, denn Leseenttäuschungen sind ja viel häufiger als ihr Gegenteil, zunichte zu machen?

Aber ich habe ja gar keine Wahl. Denn mit dem Lesen endgültig aufzuhören erschiene mir wie der freiwillige Verzicht auf ein Sinnesorgan. Zu Lebzeiten das Lesen zu lassen ohne zu erblinden, das käme mir geradezu vor, als wollte ich mich ohne Not an einer der prachtvollsten Möglichkeiten des Sehens versündigen.

Und so lese ich weiter und weiter und weiter; und sollte ich mir darüber die Augen verderben.

(Für Jorge Luis Borges.)

Die Unausgelesenen

Sunday, 13. April 2008

Es gibt eine sehr seltene Sorte Leser, die Bücher grundsätzlich bis zur letzten Seite auslesen, auch dann, wenn sie sie schon nach zehn Seiten unerträglich finden. Zu dieser Sorte von Lesern gehöre ich nicht.

Es gibt eine Sorte Bücher, bei denen ich bis zur letzten Seite nicht weiß, ob ich sie nach dem Auslesen lesenswert finden oder den Stab über sie brechen werde. Solche Bücher lese ich üblicherweise aus, weil ich’s unbedingt wissen will. Wenn ich’s dann weiß, bin ich entweder enttäuscht oder zufrieden.

Es gibt eine Sorte Bücher, die dem Leser viel Geduld abverlangen, höchste Aufmerksamkeit auf jeder Seite fordern, so dicht sind sie, so doppelbödig, so rätselhaft oder so widerspenstig. Sie geben immer nur wenig mehr als sie nehmen, aber gerade genug, um den Leser bei der Stange zu halten, bis zur letzten Seite. Wenn ich solche Bücher vorzeitig aus den Augen verliere, weil mich in einer schwachen Minute andere, leichtlebigere Buchversuchungen einfangen, dann komme ich mir vor wie ein untreuer, überrumpelter Geliebter. Ich verspreche mir und ihnen, so bald wie möglich zu ihnen zurückzukehren, den Faden wieder aufzunehmen. Diesem Vorsatz bleibe ich nur selten treu. Fällt irgendwann später mein Blick auf ihren meist breiten Rücken, fühle ich mich zugleich angeklagt und verschmäht. ‚Du hättest mich vergessen, träte ich jetzt nicht durch meine körperliche Präsenz zufällig wieder in dein Blickfeld.‘ So raunen sie mir zu. ,Du bist es nicht wert, mich auszulesen. Vergiss mich also getrost. Du hast deine Chance vertan.‘ So die Rede dieser Bücher, die mir beleidigt den Rücken zukehren. Ich kann ihnen nicht widersprechen und fühle mich schuldig. Diesen Büchern gegenüber, was schon schlimm genug ist; viel schlimmer aber noch: mir selbst gegenüber.

Es gibt eine rare Sorte Bücher, die ich ein zweites, gar drittes Mal lese, bis zur letzten Seite auslese, im Abstand von etlichen Jahren. Viele waren es bisher nicht, und die meisten enttäuschten mich bei der zweiten Lektüre. Die wenigen, die mich nicht enttäuschten, hebe ich mir für ein drittes Mal auf. Dieses dritte Mal zögere ich hinaus, so lange es mir eben möglich ist. Meine Lieblingsbücher.

Es gibt eine sehr zahlreiche Sorte Leser, die wenige Bücher lesen, zwölf oder gar nur zwei pro Jahr. Nach ihren Lieblingsbüchern befragt geben sie meist Bücher an aus einem Fundus von hundert, vielleicht dreihundert immergleichen Titeln. Meine Lieblingsbücher sind darunter nie vertreten. Enttäuscht mich das? Macht es mich einsam? Tröste ich mich darüber hinweg mit einem elitären Snobismus; meiner besserwisserischen, hochnäsigen Kennerschaft? Das alles mag, cum grano salis, zu bejahen sein. Bestseller-Allergie als Berufskrankheit des langjährigen Buchhändlers? Schon möglich. „Kultbuch“-Ekel? Vermutlich. Die einfach gelesenen Bücher sind der Humus meines Leserlebens, die dreifach gelesenen seine stolze Blüte – und die unausgelesenen Blitz und Donner über dem weiten Zeilenfeld des Lesens.

Beim Barte des Herrn M.

Saturday, 12. April 2008

Eins meiner vielen Mittel gegen schlechte Laune, und eins der zuverlässigsten, ist das Stöbern in Nachschlagewerken, zumal in alten Lexika. Dank Digitalisierung der teils gigantischen Textvorräte auf CD-ROM und im Internet ist die Auswahl groß und der Platzbedarf minimal. Zudem entfällt das für uns leptosome Schwachmatiker kraftzehrende Stemmen pfundschwerer Wälzer.

Heute „blätterte“ ich mal wieder in der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon aus den Jahren 1885 bis 1892. Wo es früher raschelte, klickt es heute nur noch gelegentlich. Die ohnehin schon diskrete Tätigkeit des Lesens ist damit noch leiser geworden. Den Meyer gibt es im Internet bei der retro-Bibliothek, einem Projekt mit Sitz in Ulm, das „vornehmlich alte Nachschlagewerke um 1900 herum retrodigitalisieren und im Internet verfügbar machen“ möchte. Mittlerweile findet man dort auch einen alten Brockhaus, Merck’s Warenlexikon von 1884 und weitere interessante Nachschlagewerke aus dieser Zeit.

Heute stieß ich im Meyer zufällig auf das Stichwort „Mohammed“ (Band 11, S. 705 f). Beim Barte des Propheten, der „Gepriesene“ schneidet nicht gut ab. Fast muss man sich sorgen, dass der eine oder andere Passus in diesem Lexikon-Artikel von einem streng gläubigen Muslim unserer Tage als Verunglimpfung aufgefasst werden könnte. So heißt es dort etwa: „Eine tiefere Kenntnis vom Juden- und Christentum ging M[ohammed] sicher ab; doch wußte er, daß die Gläubigen dort den Messias, hier den Parakleten erwarteten. […] Der bisherige Kaufmann zog sich brütend in die Einsamkeit zurück, Visionen und Träume kamen dazu, und bald erschienen ihm alle ihm zuströmenden Ideen als absolute Offenbarungen, welche die übrigen Menschen ohne Widerrede hinzunehmen hätten. Es war in M[ohammed] von Anfang an etwas Krankhaftes; er litt namentlich von Kindheit an an epileptischen Zufällen, aber auch diese, vom gewöhnlichen Aberglauben auf dämonische Besessenheit zurückgeführt, wurden ihm ein Zeichen, daß himmlische Mächte von ihm Besitz ergriffen hätten. […] Bald nach seiner Ankunft in Medina verheiratete sich der 50jährige M[ohammed] mit Abu Bekrs Tochter Aischa, und fortan mehrte sich die Zahl seiner Frauen alljährlich. Sein Charakter zeigte sich fortan in weniger günstigem Licht als bisher unter Verfolgungen und Mühsalen. […] Ein Zug Mohammeds gegen die mit den Mekkanern verbündeten jüdischen Stämme endete mit der Hinrichtung von 700 Juden. Dies war die blutigste von vielen Thaten der Rachsucht, die der Prophet sich mit der Zeit erlaubte. Im Äußerlichen hielt er es wie früher. Den einzigen Luxus, den M[ohammed] mit der Vergrößerung seiner Macht trieb, war die Erweiterung seines Harems […].“

Nicht umsonst heißt es ja aber im Impressum der retro-Bibliothek: „Die hier zur Verfügung gestellten Inhalte sind […] sehr alt. Sie erheben keinen Anspruch darauf, auch heute noch richtig zu sein. Jedwelche in den Texten vertretenen Ansichten oder Anschauungen spiegeln die Zeit wieder [!], in der das jeweilige Werk erschienen ist und haben nichts mit den Ansichten oder Anschauungen des Betreibers oder der Korrektoren zu tun.“ Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

An die aufgeklärte Gegenwart erinnert zudem ein modernes Werbebanner gleich rechts neben dem Mohammed-Artikel. The International Muslim Matrimonial Site ermöglicht die bequeme Ehevermittlung zwischen Muslim und Muslima per Mausklick. Erstaunlicherweise kann man in der „Quick Search“ offenbar auch homosexuelle Partnerschaften anbahnen: „I’m a woman seeking a woman?“ – „I’m a man seeking a man?“ No problem. Geht alles. Vielleicht kommen wir ja irgendwann dazu, den polygamen Herrn M. als einen Wegbereiter sexueller Libertinage zu feiern. Immerhin hinterlässt mich die Gegenüberstellung des alten Lexikonartikels und des neuen Eheanbahnungsportals in bester Stimmung. Mein Wundermittel gegen schlechte Laune hat wieder mal gewirkt.

(Für Hatice Akyün.)

Fünf Fragen

Friday, 11. April 2008

Jetzt haben mich Frischs Fragebögen in seinem Tagebuch aus den späten 1960er-Jahren gepackt. Manche Fragen kann ich ohne langes Bedenken beantworten. „Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?“ Ja, wen wohl? Natürlich meinen Vater, der ohne Abschiedsgruß ins Jenseits verschwand, als ich gerade 13 Jahre alt geworden war. Ein dummes Alter, um unversehens den geliebten Vater zu verlieren. Ich würde ihn gern fragen, ob er mit mir zufrieden ist, so wie ich jetzt bin. Und ich würde ihm gern meine fünf Kinder vorstellen. Und ich würde ihm gern danken für das, was er mir in den ersten 13 Jahren meines Lebens Gutes hat widerfahren lassen.

„Wie alt möchten Sie werden?“ Das ist schon verzwickter. Ein Alter, in Jahren ausgedrückt, kann ich jedenfalls nicht sagen. Wenn mich heute der Schlag träfe und ich hätte noch die Gelegenheit mich zu fragen, ob ich diesen verhältnismäßig frühen Tod als ungerecht empfände, so wäre meine Antwort ein klares Nein. Ein besseres, volleres, lebenssatteres Leben, als ich es bisher hatte, ist wohl nur den wenigsten vergönnt. Jeder Tag mehr ist ein unverdientes Geschenk.

„Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?“ Keineswegs. Der Blick in den Spiegel ist immer ein Spiel mit Täuschungen. Ich setze das Licht so, dass meine Schattenseiten verborgen bleiben, auch und zuallererst vor mir selbst. Und wenn ich einen offensichtlichen Makel bewusst mit einem grellen Strahl ausleuchte, dann ist auch diese vermeintliche Selbstentblößung nichts als ein eitles Schauspiel. Nein, wann immer ich Selbstkritik übe, in Gedanken oder Worten, ist dies ehrlich gesagt nur eine erbärmliche Maskerade. Ich mime in solchen skeptischen Selbstbetrachtungen den offenherzigen Wahrheitssucher und bin doch auch dabei nur ein selbstverliebter Narziss.

„Was fehlt Ihnen zum Glück?“ Nichts, insofern als das Glück hinter mir liegt. Ich habe mehr Glücksmomente erleben dürfen, als auf eine Kuhhaut gehen. „Genug ist Reife“, wie Theodore Sturgeon in einer unvergesslichen Erzählung einmal gesagt hat. Was mein persönliches Glück angeht, so habe ich davon genug genossen.

„Wofür sind Sie dankbar?“ Diese Frage kann ich nicht beantworten ohne die Gegenfrage zu stellen, die bedauerlicherweise unbeantwortet bleiben muss: „Wem sollte ich dankbar sein?“

Listen

Friday, 11. April 2008

Beim Feilen an meinem morgigen Beitrag für Westropolis, in dem es um Sinn und Unsinn von Rankings in den Weblogs dieser Welt geht, kommt mir in den Sinn, dass ich ihn Max Frisch widmen sollte. In meinem persönlichen Ranking der für mich wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit steht Frisch zwar nicht sehr weit oben. Aber das zweite seiner beiden Tagebücher ist allein schon wegen der darin enthaltenen „Fragebögen“ auch heute noch lesens- und bedenkenswert.

Rankings gehören – wie Fragebögen, Bibliographien, Register, Inventarverzeichnisse usw. – zur großen, aus literaturwissenschaftlicher Sicht noch immer nicht hinreichend gewürdigten Textsorte der Listen. Das Ordnungsbedürfnis, das zur säuberlichen Auflistung von Büchern, Gegenständen, Fragen, Personen- oder Ortsnamen führt, wächst mit der Unüberschaubarkeit und grenzenlosen Ausdehnung unserer Erfahrungswelt. Die Liste ist der moderne Abwehrzauber gegen das Chaos, mit dem uns unsere sinnlichen Erlebnisse Tag für Tag überfordern.

Max Frischs elf Fragebögen (mit jeweils 25, insgesamt also 275 Fragen, in seinem Tagebuch 1966-1971) widmen sich Grundbestimmungen unserer menschlichen Existenz: der Ehe, dem Verhältnis von Mann und Frau, der Hoffnung, dem Humor, dem Verhältnis zum Geld und zu unserer Heimat, der Freundschaft, zu unseren Kindern. Frisch stellt Fragen wie „Befremdet Sie eine kluge Lesbierin?“ oder „Können Sie sich eine Ehe ohne Humor vorstellen?“ Heute fällt es leicht, beide Fragen mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Vor vierzig Jahren war es aber noch nicht selbstverständlich, diese Fragen überhaupt zu stellen.

In einem Ranking der klügsten und produktivsten Fragen unserer Zeit würden vermutlich etliche der von Max Frisch gestellten noch immer sehr weit vorn liegen. Für einen ambitionierten Interviewer, der es als Verhörspezialist der gerade angesagten Promischickeria weiter bringen will als der klägliche Durchschnitt seiner Mitbewerber, ist die Liste der 275 Fragen von Frisch jedenfalls eine unschätzbar wertvolle Inspirationsquelle.

Vorläufig auf Platz zwei meiner ewigen Ranking-Liste der lesenswertesten Interviews aller Zeiten steht schon seit einem guten Weilchen jenes Gespräch, das der geniale Interviewer Andre Müller 1996 mit Alice Schwarzer führte. Müllers Eingangsfrage lautete damals: „Sie kämpfen seit dreißig Jahren für die Freiheit der Frau. Ich frage, möchte der Mensch überhaupt frei sein?“ Und was dann folgte, war ein vierstündiges, überaus aufschlussreiches Desaster. Wenn man im Dialog nach Erkenntnis sucht, nicht unbedingt für sich, aber doch mindestens für den Rest der Welt, dann muss man vor allem verstehen, die richtigen Fragen zu stellen.

Zensur

Wednesday, 09. April 2008

Ich stehe noch immer unter Schock. Da hätte ich doch heute, von einer fiebrigen Erkältung geschwächt, beinahe bei Westropolis eine Buchbesprechung veröffentlicht, die ins Leere läuft, weil man dieses Buch nicht mehr kaufen kann; und zwar, ohne wenigstens auf diesen traurigen Umstand hinzuweisen.

Nur durch Zufall blieb mir diese Peinlichkeit erspart. Auf dem Umweg über eine kleine Notiz im Literaturteil der Süddeutschen Zeitung entdeckte ich, dass das Buch von Frank Müller über den Buchstaben ß, das soeben im Frankfurter Eichborn-Verlag erschienen ist, gleich wieder vom Markt genommen werden musste, weil Müller ganze Textpassagen von einem halben Dutzend anderer Autoren wortwörtlich übernommen hat, ohne die Zitate als solche kenntlich zu machen und seine Quellen eindeutig zu benennen.

Aber auch ein solches Beinahe-Malheur hat ja seine guten Seiten. Erfreulich daran ist, dass ich nun stolzer Besitzer eines Buches bin, das sonst kaum einer hat und das auch nicht mehr zu haben ist. Von solchen indizierten Büchern besitze ich mittlerweile eine stolze kleine Sammlung. Als besonders prominente und gesuchte Beispiele nenne ich nur die unzensierte Erstausgabe von Ernst Herhaus / Jörg Schröder: Siegfried (1972), die Gebrauchsanleitung zum Selbstmord von Claude Guillon und Yves Le Bonniec (1982) sowie Maxim Billers Esra (2003).

Lars Gustafsson hat sich einmal gegen das Verbot von Manfred von Richthofens Autobiographie Der rote Baron (1917) in seinem Heimatland Schweden ausgesprochen; ich meine, der Text steht in seinem Essayband Utopien (dt. 1970). Das Denken und Urteilen, so Gustafssons klare Überzeugung, muss man in einer Demokratie den mündigen Bürgern überlassen. Wenn man diese Grundfreiheit der Meinungsäußerung selbst in extremen Fällen von Missbrauch einschränkt, ist der Schaden größer als der Nutzen. Leider kann ich hier und heute nicht wörtlich aus Gustafssons Essay zitieren, das Bändchen ist unauffindbar in meinen Bücherkatakomben vergraben. Ich glaube aber, dass ich mich auch heute noch seinem libertären Diktum anschließen würde. Selbst das nach wie vor bestehende Verbot von Hitlers Mein Kampf halte ich für einen Fehler – und für ein Armutszeugnis unserer Demokratie.

Nun sind der Aufruf zum Massenmord, die Glorifizierung des Krieges, das Bekenntnis zum Rassismus einerseits, der Diebstahl geistigen Eigentums, die Beleidigung und Bloßstellung von Privatpersonen oder die Veröffentlichung von Cocktail-Rezepten zur schmerzfreien Selbsttötung andererseits gewiss zweierlei Paar Schuhe. Genau genommen stehen wir hier, bei der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der genannten „Tatbestände“, vor einem großen, unübersichtlichen Schuhregal, dessen Inhalt nur eins gemeinsam hat: Allesamt sind diese Schuhe unbequem. Und doch regt sich bei mir, wann immer ich davon höre, dass ein Buch „per einstweiliger Verfügung“ vom Markt genommen wurde, ganz gleich aus welchen Gründen, ein trotziger Widerspruch. Traut man mir – und damit auch dem übrigen Leserpublikum dieser Republik – nicht zu, mir selbst mein Urteil zu bilden? Meint man, meinen schlichten, unkritischen Geist vor diesen Machwerken in Schutz nehmen zu müssen? Wenn mir die Gelegenheit vorenthalten wird, die gegen die inkriminierten Bücher vorgebrachten Beschuldigungen selbst auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, dann fühle ich mich entmündigt und als vollwertiger Bürger dieses freiheitlichen, demokratisch verfassten Staates nicht ernst genommen.

Gelber Schein

Tuesday, 08. April 2008

Heute leider wegen Krankheit geschlossen!

Papeterie

Monday, 07. April 2008

„Fünf Sorten Papier habe ich auf Lager.“ Der Papierladenbesitzer machte eine weit ausholende Bewegung mit dem linken Arm, als wollte er damit den ganzen Erdkreis umspannen. „Fast jede Sorte steht für einen Menschentyp. Da hätten wir zunächst das linierte Papier für die Schreiberlinge.“ Aus der Miene, die er dazu schnitt, wurde ich nicht recht schlau. Seine wachen Äuglein waren weit aufgerissen, aber um seine Lippen kräuselte sich ein leichter Verdruss, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

„Sodann, dort, sehen Sie die Stapel mit kariertem Papier.“ Er schnaubte kurz. Oder war es ein Prusten? „Buchhalter, Pfennigfuchser, Wissenschaftler.“ Bildete ich’s mir nur ein, oder hatte er für einen kurzen Augenblick zu seiner Ladenkasse hinübergeschaut? „Diese beiden Typen machen zusammengenommen etwa die Hälfte meiner Kundschaft aus. Ich möchte aber für mich behalten, wie sich die Karierten zu den Linierten prozentual verhalten. Es ist zu traurig, zu traurig.“ Für einen Moment wandte er mir den Rücken zu.

„Und dort, hinten in der Ecke, das Notenpapier.“ Er sah an die Decke und machte ein Gesicht, als wollte er den Allmächtigen um Gnade für die verfluchten Seelen seiner Kunden bitten. „Ein Ladenhüter vor dem Herrn! Ich bitte Sie. Wer braucht denn heute noch Notenpapier? Es dudelt und schrammelt aus tausend Mikrophonen. Aber kein Mensch komponiert noch.“ Er sah mich durchdringend an, als trüge ich die Schuld an diesem schmerzlichen Verlust; und so brachte ich’s nicht übers Herz, ihn darauf hinzuweisen, dass das Geschrammele und Gedudele mitnichten aus Mikrophonen, sondern aus Lautsprechern schallt.

Er aber war schon bei seinem vierten Posten. „Was sich hier bis zur Decke stapelt, das nenne ich das Neutrale. Unliniertes, unkariertes, blütenweißes Papier, ohne jeden Aufdruck, ohne jede Struktur, rein weiß und blank, unschuldig und indifferent.“ Seine Augen waren für eine endlos lange Weile fest geschlossen. Ich rechnete mit allem. Ein Wutausbruch? Ein Gebet? Ein epileptischer Anfall? Nichts von alledem. Der Papierwarenhändler öffnete schließlich die Augen sehr langsam und sagte nahezu tonlos: „Druckerpapier. Die restlichen fünfzig Prozent.“

„Aber hatten Sie denn nicht von fünf Papiersorten gesprochen?“ Meine zaghafte Frage bereute ich sogleich, denn der zynische Blick, der mich nun traf, ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. „Ich sagte fast, wenn Sie sich bitte erinnern wollen, junger Mann. Jene Papiersorte, die nun leider noch zu behandeln ist, sehen Sie dort. Meine hauptsächliche Einnahmequelle. Es ist bedruckt mit Blümchen- und anderen Mustern. Seine Bestimmung ist nicht, die Produkte des Geistes in die Welt zu befördern, sondern die Restbestände des Körpers aus der Welt. Soweit der Mensch bloß ein scheißendes Wesen ist, rechne ich ihn zur Tierwelt, der edlen Bestimmung des Papieres nicht würdig. Es lohnt nicht die Mühe, ihn zu typisieren. Und nun entschuldigen Sie mich bitte!“

Spon-Junk

Sunday, 06. April 2008

Das kommt dabei heraus, wenn das ehemalige „Leit-Medium“ der Republik in seinem Online-Auftritt Spiegel online die paar Euro fuffzig für einen gründlichen Korrektor spart. Und die Leser lassen es sich gefallen, alle paar Sätze von einem lästigen Fehler irritiert zu werden, denn Focus online kann’s ja auch nicht besser und ist zudem noch boulevardesker.

Die Rechtschreibprüfung von MS Word bügelt eben längst nicht jeden Vertipper aus, und an den grammatischen Unzulänglichkeiten der Redakteure kann sie meist auch nicht viel ändern. Es ist schon krass genug, dass dergleichen in dieser Häufung vorkommt. Aber noch krasser ist, dass es keinen Schwanz mehr interessiert.

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, als sporadischer Spon-Leser alle offenkundigen Fehler, die mir in den Spiegel-Online-Artikeln der letzten vier Wochen auffielen, aufzuspießen und dingfest zu machen. (Und dabei habe ich längst nicht alles gelesen, was da so verbrochen wurde.) Hier sind sie:

„Die abendlichen [!] Angriffswelle war bereits die vierte des Tages. Bereits am Morgen war das Viertel in zwei Angriffsserien von Mörsergeschossen getroffen geworden [!]. […] durch offensichtlich fehlgeleiteten [!] oder willkürlich abgegebenen [!] Katjuscha-Raketen tödlich getroffen […].“ – „Exil-Tibeter und Menschenrechtsgruppen haben Störmanöver bei Zeremonie [!] angekündigt.“ – „Die Rückkehr zur alten Pauschale würde dem [!] Staatshaushalt 2,5 Milliarden Euro kosten. […] Unterstützung hab [!] es hingegen von Seiten der Liberalen.“ – „,Wie [!] wollen nicht, dass die Gefangenen bleiben.‘“ – „[…] die Gläubigen auf dem Platz formten ein buntes Meer an [!] Regenschirmen.“ – „Die Kommunistische Partei, die in einem in der Welt einzigartigem [!] Experiment den Kapitalismus erlaubt […]. Auch in Maqu in Gansu habe die Regierung wieder die Kontrolle wieder [!] übernommen.“ – „Durch die Niederlage fällt Arsenal in Tabelle [!] auf den dritten Platz zurück […].“ – „[…] dass auf der Westseite des Delta [!] weitere Häfen gebaut würden.“ – „[…] man lasse doch auch ,Rolling Stone‘[!]-Mitglied Keith Richards ständig einreisen – der [!] offen zugab, gar die Asche seines verstorbenen Vaters mit Kokain geschnupft hat. [!]“ – „Zu dem Auftritt des Regierungschefs in Bari kam [!] nur neun Tage vor der Präsidentenwahl in der kleinen Adriarepublik am kommenden Sonntag.“ – „Da ließ ihn [!] Merkel über einen Regierungssprecher ausrichten, […].“ – „Tatsächlich wachsen bei vielen Demokraten Bedenken, die Partei könne gespalten werden, wenn das Duell zwischen den beiden Bewerbern lange weitergehen. [!]“ […] Clinton wirbt damit, dass sie für [!] die Stimmen der neun Staaten und Puerto Ricos kämpft, […].“ – „Unions-Fraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen forderte Scholz auf, einen eigenen Gesetzentwurf für einen allgemeinen Mindestlohn fallenzu [!] lassen. ,Die ganz große Mehrheit‘ der Tarifparteien wolle keinen staatlich festgelegten Einheitslohn, weil er Arbeitslosigkeit bringe, sagte [!] der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. […] Allerdings erwarte er [Glos], dass die SPD die Debatte im Wahlkampf weiterführt [!], weil sie das Thema als [!] Propagandagründen braucht. […] Es sei es [!] gut, dass viele Branchen bisher der Versuchung widerstanden hätten, [..].“ – „Eine schlechte Verwaltung, die in viele [!] Ecken des Landes gar nicht ankommt. […] Ich weiß, dass in vielen europäischen Metropolen einen [!] Debatte über die Afghanistan-Mission tobt. – „Fawcett zufolge hatte sie selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ihre Familie und Freunden [!] darüber informiert. Die Schauspielerin beschwerte sich laut ,Los Angeles Times‘ bei einem ihrer [!] behandelnden Ärzte“ – „Er könne sich Gore als Experte [!] im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel vorstellen.“ – „Die Regierung in Peking ordnete zudem an, die Propaganda gegen den Dalai Lama, den im Exil lebenden geistlichen [!] Oberhaupt der Tibeter, zu verschärfen.“ – „Die Exil-Tibeter sprechen dagegen von etwa 140 Toten und Hunderten [!] Festnahmen.“ – „Im wohl spektakulärsten Gerichtsverfahren der deutschen Wirtschaftsgeschichte wollen sie endlich nachweisen, dass die Telekom sie bei ihrem dritten Börsengang mit einem geschönten Verkaufsprospekt geködert hat – einen [!] Vorwurf, den die Deutsche Telekom zurückweist. – „Als der [Scheich von Dubai] 2006 sechs US-Seehäfen kaufen wollte, war Hillary Clinton eine der schärfsten Kritiker [!] des Deals, […].“

Als Abonnent würde ich wohl kündigen. Da aber die Online-Version solcher Stümpereien kostenlos ist, kommt es ja nicht drauf an. Dass mit dieser penetranten Nachlässigkeit in Fragen schriftsprachlicher Richtigkeit ein beträchtlicher Flurschaden angerichtet wird, zumal bei jugendlichen Lesern, die durch die unsägliche Rechtschreibreform ohnehin verunsichert sind, das interessiert die Macher des Montagsmagazins offenbar nicht die Bohne. Ein Trauerspiel!

Textaufgabe

Sunday, 06. April 2008

Gespräch des Paares nach der Fete bei entfernten Bekannten, lauter fremde Leute. „Die Blonde mit dem roten Halstuch war ja furchtbar nervig.“ – „Und ihr Freund hat rumgeflirtet wie ein Weltmeister.“ – „War das ihr Freund? Eher doch ihr Sohn!“ – „Naja, so viel älter war sie aber auch wieder nicht.“

„Der Rothaarige mit den Segelohren, der zuletzt den DJ machte, kam mir von irgendwoher bekannt vor.“ – „Das ging mir auch so. Von der Uni?“ – „Könnte sein. Bestimmt ein Be-We-Eller.“ – „Oder Jurist.“

„Das schwule Pärchen war aber doch wirklich süß, oder?“ – „Ja, wie die sich zankten! Wie ein älteres Ehepaar.“ – „Worum ging’s eigentlich? – „Der eine wollte noch woanders hin und der andere wollte lieber bleiben, wenn ich’s richtig verstanden habe.“ – „Vielleicht hatte der ein Auge auf dich geworfen?“ – „Ne, eher schon auf den Freund von der Blonden.“

„Alles in allem war’s jedenfalls ein netter Haufen.“ – „Stimmt! Schön bunt gemischt.“ – „Hast du den Wecker gestellt?“ – „Ne, mach ich jetzt.“ – „Schlaf gut.“ – „Träum schön.“

Frage: Ist es zulässig, Menschen nach oberflächlicher Bekanntschaft auf solche nebensächlichen Äußerlichkeiten wie Kleidungsstücke, ihr Alter, körperliche Auffälligkeiten, berufliche oder sexuelle Orientierungen zu reduzieren? Hört der Spaß nicht spätestens bei dem „schwulen Pärchen” auf? Und nähert sich das Gespräch damit gefährlich jener schablonenhaften Bewertung von Menschen, die in letzter Konsequenz zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten führt?

Siemsen, die Zweite

Friday, 04. April 2008

Mittlerweile bin ich mit meinen Nachforschungen zu Leben und Werk des vergessenen homosexuellen Schriftstellers Hans Siemsen (1891-1969) ein gutes Stück vorangekommen. Die seltene, dreibändige Werkausgabe im Essener Torso-Verlag fand ich doch tatsächlich in der hiesigen Stadtbibliothek – einsortiert unter Heimatkunde! So ganz abwegig ist das nicht einmal, denn Siemsen hat in Essen nicht nur seine letzten Lebensjahre verbracht; er hat hier offenbar auch viel früher einmal, nämlich in den 1920er-Jahren, in der Alfredstraße 23 eine Zweitwohnung gehabt.

Hans Siemsen beschloss sein Leben als „Pflegefall“ im Essener Otto-Hue-Haus, einem Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in der Barthel-Bruyn-Straße 46 in Essen-Holsterhausen, in das er im November 1953 eingeliefert wurde. „Dort vegetierte er noch fast sechzehn Jahre dahin, pflegebedürftig, teilnahmslos und geistig isoliert. Wenn man Siemsen fragte, ob er nicht Papier zum Schreiben haben wolle, soll er gesagt haben: ,Nein, nichts mehr.‘ – Sein einziger Kontakt war zuletzt nur noch eine Pflegerin; nicht einmal der Pförtner des Altenheims kannte seinen in der Öffentlichkeit längst vergessenen Namen.“ So Herausgeber Dieter Sudhoff in seinem Nachwort zu der schmalen Sammlung von Siemsens „Erlebnissen“ und Feuilletons, die jüngst im Berliner Verlag Das Arsenal unter dem Titel Nein! Langsam! Langsam! erschienen ist.

Sehr langsam nähere ich mich diesem Vergessenen, zögerlich und behutsam, als könnte ich durch übertriebene Neugier, durch meine zupackende Wissbegier jenen Zauber zerstören, der von den wenigen mir bislang bekannten Siemsen-Texten ausgeht. Eben sah ich dank Google-Bildersuche erstmals Hans Siemsens Gesicht, ein Jugendbild wohl aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts. Mit ungläubigem Staunen nehme ich zur Kenntnis, dass einen Autor, der 1924 das erste Buch über das Stummfilm-Genie Charlie Chaplin schrieb, heute in Deutschland kaum jemand mehr kennt. Bereits vier Jahre zuvor hatte Siemsen in der Weltbühne über Chaplins Film A Dog’s Life geschrieben – zu einer Zeit, als noch kein einziger Chaplin-Film in Deutschland gelaufen war. Und 1926 schrieb er die deutschsprachigen Zwischentitel zu Charlies frühem Meisterwerk.

Der dritte Band der Torso-Ausgabe von Siemsens Schriften, der die erhaltenen Bruchstücke seiner Korrespondenz öffentlich machte, überliefert zahlreiche Briefe an ihn von Muschelkalk Ringelnatz, mit bürgerlichem Namen Leonharda Pieper, der Ehefrau von Kuttel Daddeldu. (Siemsens Antworten dürfen wohl endgültig als verloren gelten. Mit jedem von Muschelkalks Briefen bedauert man diesen Verlust mehr.) Der Verleger und Herausgeber dieser Ausgabe, Michael Föster, schrieb in seinem Vorwort zum dritten Band der Schriften: „[…] selbst lange Korrespondenzen sind nur teilweise erhalten […] und in der Regel waren die Briefe des einen oder anderen, selten die Briefe beider Partner aufzufinden. Wir sehen also nur die eine Seite, hören nur das Echo, nicht den Ton, auf den es antwortet. Oder umgekehrt: Wir lesen die Frage, aber nicht die Antwort.“

Nach allem, was ich in so kurzer Zeit von und über Hans Siemsen erfahren habe, bleibt mir vorläufig nur, dem Berliner Verlag Das Arsenal und seinem Verleger Peter Moses-Krause viel Glück und einen langen Atem zu wünschen bei dem verdienstvollen Unternehmen, einen ebenso zarten wie präzisen Schreiber, einen sinnenfrohen Flaneur und liebenswürdigen Menschen aus nahezu völliger Vergessenheit in die hoffentlich aufmerksamere Gegenwart hinüberzuretten.

Helter Skelter

Thursday, 03. April 2008

 

11. Dezember 1956

 

Dass Babys per se süß sind, schien mir schon immer fragwürdig, wie jedes allzu selbstverständliche Urteil. Was sieht der Säugling mit seinen weit aufgerissenen Augen? Ist dieser Blick nicht eher dämonisch? Oder doch allenfalls animalisch? Unbedingt aber ein ewiges Rätsel?

Und dann diese Schreierei, die oft genug weder durch Stillen noch durch Wiegen noch durch guten Zuspruch aus der Welt zu schaffen ist. Was, wenn wir unsere ersten Lebensmonate allesamt als eine Hölle auf Erden empfunden haben? Das würde immerhin erklären, warum wir uns an diese Zeit nicht erinnern können.

Roman Polanskis Rosemary‘s Baby von 1968 begeht insofern einen der radikalsten Tabubrüche der Filmgeschichte. Und dass im Jahr darauf seine schwangere Frau Sharon Tate von der Manson-Family auf grässliche Weise abgeschlachtet wurde, könnte man, so man denn abergläubisch wäre, einem bösen Fluch zuschreiben, den er sich mit dieser Grenzüberschreitung zuzog.

Allein, der Gedanke an solche „Zusammenhänge“ ist geschmacklos. Es gibt keinen „Sinn“ hinter diesen Zufällen. Und ebensowenig steckt irgendeine Bedeutung in dem Umstand, dass vor jenem Dakota Building in New York, wo Rosemary‘s Baby gedreht wurde, zwölf Jahre später John Lennon auf seinen Mörder traf – selbst wenn man bedenkt, dass der Lennon-McCartney-Song Helter Skelter eine wesentliche Inspirationsquelle für Charles Mansons durchgeknallten Satanismus war.

Unsere naive Suche nach einem Webmuster des Schicksals ist gefährlich. Oder, wie Samuel Beckett einmal gesagt hat: „Wehe dem, der Symbole sieht.“ Vielleicht sehen süße Babys fortwährend Symbole. Sobald wir zu denken beginnen, müssen wir lernen, uns mit der sauren Zufälligkeit der Ereignisse abzufinden.

Gute Taten

Wednesday, 02. April 2008

Heiliges Pfadfinderehrenwort: Ich beschließe keinen Tag, an dem ich nicht fünf gute Taten vollbracht habe. Das Schreiben dieses Textes ist die vierte. Daran sieht der geschätzte Leser schon, dass ich es in mein alleiniges Ermessen stelle, was ich mir als „gute Tat“ anrechne. Wir heutigen urbanen Flaneure in der Tradition von Walter Benjamin, Franz Hessel und Hans Siemsen sind ja in gewisser Hinsicht eine atheistische Variante der christlichen Pfadfinder.

Die dritte gute Tat des heutigen Tages war, dass ich endlich das versprochene Buchpräsent an die Rätsel-Anna Richtung London auf den Weg brachte: Brigitte Kronauers drei Texte über Tiere unter dem Titel Die Feder des Hyazintharas. Und hinten schrieb ich ihr rein, dass es noch eine andere, vor 60 Jahren erschienene Geschichte über diesen schönen Vogel gibt. Aber von wem und wo, das verrate ich hier nicht. Das weiß in ein paar Tagen allein die Rätsel-Anna.

Die zweite gute Tat war, dass ich mich mit einem Buch beschenkte, mit dem ich einer mir verdächtig werdenden Tendenz gegensteuern will, die nach dem Anschauen des Fitna-Films von Geert Wilders den ewigen Zweifel in meinem Herzen zu verdrängen droht. Wann immer die vorläufige Meinung sich zur Überzeugung verfestigt, schrillen meine Alarmglocken und ich suche nach einem kräftigen Gegenmittel. In diesem Fall war’s Jürgen Todenhöfers Warum tötest du, Zaid?

Die erste gute Tat: Morgenspaziergang mit der Hündin. Aufsuchung entlegener Gebüsche, um ihr die Verrichtung der naturnotwendigen Geschäfte zu ermöglichen und zugleich die anfallenden Hinterlassenschaften nicht zum Ärgernis erregenden Rückstand an fremdem, womöglich feinem Schuhwerk werden zu lassen. Solche Abstecher, den natürlichen Bedürfnissen des Tieres nachfühlend, nehme ich gern auf mich, denn die Alternative, Lola sonst an der Leine führen zu müssen, fände ich menschenunwürdig.

Die fünfte und letzte gute Tat, nach erprobter Manier heidnischer Flaneure, geht aber nun wirklich nur uns zwei etwas an. So intim ist dieses Journal doch auch wieder nicht. (Mal ganz nebenbei gefragt: Bilde ich’s mir nur ein, oder hat dieser Eintrag in mein Web-Tagebuch nicht einen gewissen Tucholsky-Touch?) Honi soit qui mal y pense – und im Übrigen: Gute Nacht!

Besuch in Do

Wednesday, 02. April 2008

Was man an einem solchen Tag bei der Zeitungslektüre lernt? Dass der Aprilscherz im eigentlichen, strengen Sinn eine Neckerei ist, mit der man jemanden mit einem dubiosen, nicht zu erfüllenden Auftrag losschickt. „Hol doch mal beim Krämer ein halbes Pfund Ibidumm!“ Daher ja auch der Ausdruck „jemanden in den April schicken“.

Tage, die so komisch lehrreich beginnen, enden erfahrungsgemäß tragisch dumm. Unter tausend Brücken musste ich fahren, im Bewusstsein, dass neuerdings wieder mal eine Nachahmerwelle, holzklotzbewaffnet, auf arglos hinter Windschutzscheiben in Beifahrersitzen kauernde Opfer zielten. Ich hab’s überlebt, sehr zu meiner Verwunderung.

Nette Leute, schnieke Wohnung, große Bibliothek, gute Gespräche – „ein sympathischer Abend“. Im Nacken hockte mir der Affe, mein Pensum heute, was jetzt schon gestern ist, nicht erfüllen zu können. – Bin ich eigentlich blöd? Wie soll ich schreiben, wenn ich darüber zum Leben keine Zeit mehr finde? (Aber das ist ja bloß wieder die altbekannte Crux.)

Hätte ich doch mal eins dieser gut geputzten, mundgerecht zugeschnittenen Möhrchen probieren sollen? Tempi passati. Mein Gastgeschenk von der Koelbl erwies sich leider als Doublette. Das ist aber doch genau besehen ein Erfolg und kein Missgeschick, wenn man unter Millionen Büchern so punktgenau den Geschmack des Gastgebers trifft, oder?

Immerhin weiß ich jetzt auch, warum das Tagesdatum meines Journals gleich doppelt dasteht, einmal mit Wochentag im Titel und dann noch einmal direkt darunter, mit Datum der Veröffentlichung. Beide können gelegentlich differieren, wie heute. Und aus dieser Differenz lacht der Affe in meinem Nacken und sagt: „Perfekt bist selbst Du nicht!“ – April, April!

[Bernd Berke gewidmet.]