15 Kilo Buch

weltbuehne

Bei meiner Beschäftigung mit Hans Siemsen und Alfred Polgar, zwei literarischen Flaneuren und Meistern der „Kleinen Form“ aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts, bedauerte ich in den vergangenen Wochen wieder einmal, die legendäre Berliner „Wochenschrift für Politik – Kunst – Wirtschaft“ jener Zeit nicht zur Hand zu haben: Die Weltbühne.

Ich erinnere mich noch gut, dass Ende November 1978, ich erlebte mein erstes Weihnachtsgeschäft als Buchhandelsgehilfe bei Baedeker in Essen, die Männer im Wareneingang ächzend und fluchend ein paar außergewöhnlich schwere Pakete auf den Packtisch wuchteten. Die kamen aus Königstein im Taunus und enthielten den Nachdruck aller vom 14. April 1918 bis zum 7. März 1933 erschienen 778 Hefte der Weltbühne. Der Preis für die 16-bändige Ausgabe in rotem Leineneinband betrug damals 580 DM – für ein solches Riesenwerk mit über 26.000 Seiten durchaus angemessen, Maß genommen hingegen am schmalen Gehalt einer ungelernten Hilfskraft leider unerschwinglich.

Dass sich der Athenäum-Verlag überhaupt zum Wagnis eines solchen Mammut-Reprints entschloss, verdankt sich vermutlich der Pioniertat eines in mancher Hinsicht damals revolutionären Konkurrenten, der den konventionellen Verlegern und Sortimentsbuchhändlern seit 1969 Feuer unterm Hintern machte. Der Vertrieb und Verlag Zweitausendeins in Frankfurt am Main hatte nämlich im Vorjahr (1977) mit einer Sensation aufgetrumpft und Die Fackel von Karl Kraus nachgedruckt, zwölf Bände mit insgesamt 10.000 Seiten, zum Spottpreis von 148 DM und mit überraschendem Erfolg. Bis dahin war das Verlagsgeschäft mit Reprints ausschließlich Sache von ein paar spezialisierten Fachverlagen gewesen, wie z. B. Georg Olms (Hildesheim), Kraus Reprint (Nendeln / Liechtenstein) oder K. G. Saur (München), die hauptsächlich für Bibliotheken produzierten, in entsprechend niedrigen Auflagen und zu Preisen, die selbst die Möglichkeiten betuchter Privatkunden oft überstiegen.

Seither sind drei Jahrzehnte ins Land gegangen und die Buchhandelslandschaft hat sich gründlich verändert. Erstens werden heute umfangreiche Periodika-Sammlungen und Nachschlagewerke der Vergangenheit raumsparend auf CD-ROM angeboten, mit dem zusätzlichen Vorzug komfortabler Recherche-Funktionen. Als 1999 der Deutsche Taschenbuchverlag in München das Grimmsche Wörterbuch in 33 Bänden zum Preis von 1.200 DM offerierte, wurde dies noch als verlegerische Großtat gewertet. Mittlerweile gibt es längst, wieder mal bei Zweitausendeins, den Digitalen Grimm auf einer Silberscheibe für nur 49,90 €; und wer selbst die noch sparen will, wird im Internet blitzschnell auf dem Server der Universität Trier fündig.

Zweitens aber sind die Preise der Antiquariate – auch dies eine Folge des Internets – gerade für solch platzraubende Monsterwerke im freien Fall. Nur noch ein paar Papiernostalgiker wie ich sind bereit, 55 € zuzüglich Versandkosten für den Athenäum-Reprint der Weltbühne hinzublättern. Gestern traf die Apfelsinenkiste von einem Antiquariat in Kaiserslautern ein. Der Kurierbote ächzte und fluchte, ganz ähnlich wie vor dreißig Jahren die Männer im Wareneingang von Baedeker, obwohl es sich doch „nur“ um die kartonierte Ausgabe handelte. Der Antiquar hatte nämlich ein Dutzend offenbar unverkäufliche Bücher mit in den Karton gestopft. Und zur Entschuldigung schrieb er auf den Rechnungsumschlag: „Danke für die Entsorgung des ,Füllmaterials‘. Anders konnte ich nicht packen.“

One Response to “15 Kilo Buch”

  1. Revierflaneur » Blog Archiv » Montag, 4. August 2008: Findling I Says:

    […] Stochern in der Weltbühne, auf Siemsens Fährte, stolperte ich heute zufällig über eine kleine Gerichtsreportage zum […]

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