Archive for the ‘Langsamkeit’ Category

Big Sister im Hinterzimmer

Friday, 26. August 2011

Die erzwungene Besinnungspause führt zu ersten Einsichten. Weil ich mich mit kleinen Schritten begnügen wollte, meinte ich, diesem langsamen Fortschritt durch entsprechend viele Schritte auf die Sprünge helfen zu müssen. In den 1280 seit dem Startschuss für dieses Weblog vergangenen Tagen habe ich 886 Beiträge veröffentlicht. Anders gesagt durfte der Leser hier an zwei von drei Tagen einen neuen Artikel erwarten – wenn es denn überhaupt Leser gab, die hier alle paar Tage vorbeischauten.

Dieser Illusion gehe ich aber längst nicht mehr auf den Leim. Dazu ist mein Blog einerseits zu strapaziös, andererseits – “to tell the truth: its too much eccentric!” Nachdem ich hinlänglich unter Beweis gestellt habe, dass es mir an Fleiß und Kondition nicht mangelt, sollte ich mich vielleicht künftig darauf konzentrieren, noch deutlicher und noch genauer das zum Ausdruck zu bringen, was – frei nach Patti Smith – nur ich allein so zum Ausdruck bringen kann. Dafür benötige ich jedoch erfahrungsgemäß etwas mehr Zeit als anderthalb Tage.

Vor ein paar Tagen mehr wurden in unserem Haus fünf Betten angeliefert. Da die Straße sehr schmal ist, stand der Möbelwagen direkt vor unserem Küchenfenster. Dadurch ergab sich das irritierende Bild dort oben: “Big sister is watching you!” Plötzlich verschieben sich durch des Zufalls Komödiantenlaune die Proportionen. Ich wähne mich in den daumengroßen Bewohner eines Puppenhauses verwandelt, den von draußen die riesenhaft erscheinende Besitzerin dieser Liliputwelt amüsiert beobachtet. Gleich wird es ihr vielleicht gefallen, mich mit spitzen Fingern zu packen und auf den Dachfirst zu setzen!

Wo es aber durch ein wenig Kulissenschieberei möglich ist, einem mittelgroßen Mitteleuropäer momentweise das Selbstempfinden eines Zwergs zu suggerieren, da ließe ich mich doch vielleicht mittels eines entgegengesetzten Verzerrungstricks zu einem virtuellen Geistesriesen aufblasen – wenn nicht für immer, so doch bitte schön für jene fünf Minuten, die das Lesen und Verstehen meiner fünfteiligen Kurzprosa-Pröbchen beansprucht.

Dieser Trick wäre vielleicht durch die Lupe möglich, die der Leser zur Hand nehmen sollte, um zwischen meinen Zeilen auf die Suche nach versteckten Hinweisen zu gehen. Wo steckt der Schlüssel zum Hinterzimmer? Wer lauert dort auf den ungebetenen Besucher? Was führt er mit diesem im Schilde? Welche Ausflüchte könnte der Eindringling vorbringen? Was geschähe mit ihm, so sie nicht verfängen? Und was um alles in der Welt wäre sein Lohn, wenn ihm wider Erwarten schließlich doch noch mit knapper Nor die Flucht gelänge?

Jetzt mal langsam

Saturday, 23. July 2011

Falsch- und Schlechtschreiber haben allerlei Scherznamen auf Lager, um jene lächerlich zu machen, die es genauer nehmen als sie: Pedanten, Kleinigkeitskrämer, Pingel, Erbsenzähler, Federfuchser, Haarspalter, Rechthaber, Schulmeister, Besserwisser, Neunmalkluge, Kritikaster, Silbenstecher und dergleichen mehr. Nun mag zwar Genauigkeit eine Frage des Ermessens sein, nicht hingegen Richtigkeit. Und meist suchen die Schlamperten mit ihren humorigen, augenzwinkernden Verweisen an die Adresse der Richtig- und Gutschreiber bloß ihre lückenhafte Kenntnis der Schreibregeln oder ihre Trägheit zu vertuschen.

Mit Aufkommen der Massenpresse wurden der Dilettantismus und die Flüchtigkeit der Schreiber alltägliche Normalität, an welcher nur noch ein Sonderling wie Karl Kraus dezidiert Anstoß nahm. Und mit der Schaffung einer jedem zugänglichen Publikationsfläche im World Wide Web, deren Geburtsstunde sich demnächst zum zwanzigsten Mal jährt, hat dieser Niedergang der Schreibkultur einen weiteren Schub erfahren. Einige Gründe hierfür sind banal und offensichtlich. So äußern sich hier plötzlich zahllose Menschen ausführlich schriftlich, die seit ihrer Schulzeit offenbar nur noch zum Stift gegriffen haben, um den Lottozettel auszufüllen: nämlich in den Kommentar-Foren der Zeitungen und Zeitschriften, beispielsweise bei Spiegel online. Da traut sich nun jeder, denn er sieht, dass die meisten anderen ja ebenfalls schreiben, wie ihnen die krumme Feder gewachsen ist. Diese gegenseitige Schreibenthemmung hat zu einem unbegrenzten Laissez-faire in allen Fragen der Orthografie, Grammatik, Semantik, Syntax und Interpunktion geführt, von Stil und Anstand ganz zu schweigen! Hinzu kommt, dass das menschliche Auge offenbar auf der Monitorfläche weniger genau sieht als auf dem Papier; und dass die blitzschnelle Publikation per Mausklick dazu verführt, notwendige Korrekturphasen zu überspringen.

Und wie sieht es bei den Blogs aus? Ich darf hier mal aus dem aktuellen Beitrag in einem der drei Dutzend von mir mehr oder weniger regelmäßig inspizierten Weblogs zitieren: „Ach, wenn man auf der Webseite einer Drehbuchautorin sieht, daß sie den Titel ihres eigenen Films nicht richtig schreibt. Gut, aber Webseiten, ich spreche aus Erfahrung, enden eh wie ein während einer Killervirenepidemie frisch untergepflügtes Kraut- und Rübenfeld. Man fängt irgendwie an, vielleicht mit einem Storyboard oder wenigstens einer kleinen Skizze, und am Ende hat man keine Zeit, haut man irgendwas da rein und schaut auch nie wieder drauf. Im Zeitalter des Flüchtigen sind statische Rechtschreibfehler von einst [abgebr.]“ (kid37: Merz/Bow #28; in: Das hermetische Café; Posting v. 21. Juli 2011.)

Da wäre sie also wieder, die ja keineswegs neue Schnelllebigkeit der Massenmedien als Generalabsolution für den Dauertiefstand journalistischer Sorgfalt! Da ja laut Volksmund nichts so alt ist wie die Zeitung von gestern, scheren ihre Macher nicht die Kommafehler in diesem durch die Zeitung von morgen bald überholten Blatt, das bereits übermorgen im Altpapier landet. – Aber wer etwas genauer hinschaut, dem müsste doch gerade hier der entscheidende Unterschied zwischen Printmedien und Onlinemedien auffallen. Zwar rutscht auch mein heutiges Posting Tag für Tag tiefer in den Keller meines Weblogs. Nach einer Woche ist es schon nicht mehr auf der Startseite präsent. Dann findet man es erst wieder, wenn man ganz nach unten scrollt und auf „Ältere Einträge“ klickt. Wer sich bei mir gut auskennt, der ahnt möglicherweise, dass der Artikel unter der Kategorie „Langsamkeit“ abgelegt sein könnte und findet ihn auf diesem systematischen Wege wieder. Ein anderer hat sich vielleicht gemerkt, dass Karl Kraus darin vorkommt, und gibt diesen Namen ins Suchfenster ein, um den Text zu finden. Aber das Versteck dieses wie jedes anderen Beitrags in meinem Blog mag noch so entlegen sein – sie alle sind immerhin noch da und landen nicht im Reißwolf! Sie bleiben auffindbar, abrufbar, lesbar, kopierbar, druckbar und versendbar. Und dies gar von jedem Online-Arbeitsplatz aus, überall auf der Welt!

Muss es da nicht mein Ziel sein, mit größtmöglicher Sorgfalt alle meine Texte so richtig und so gut herzustellen, wie es mir eben möglich ist? Und auch alle älteren Texte laufend zu verbessern, wenn ich nachträglich Fehler oder Schwächen in ihnen entdecke? (A work in infinite and slow progress.)

Einfallslosigkeit

Monday, 27. June 2011

Es kommt vor, dass ich nicht weiß, was ich schreiben soll. Alle gewöhnlichen Mittel gegen diese Einfallslosigkeit versagen. Die Buchrücken schauen wie blöde Schafe auf mich herab, und ich schaue mutmaßlich ebenso blöd zurück. Ich denke darüber nach, was mir jüngst widerfahren ist, und gähne. Ich schaue aus dem Fenster auf die Schaufenster des seit Jahrzehnten geschlossenen Haushaltswarenladens gegenüber. Siebenschläfer. Es müsste leise nieseln, damit wenigstens das Wetter zur Leere in meinem Schädel passte. Aber höhnisch brät die Sonne die toten Fliegen auf meinem Fensterbrett gar.

Radiohören! Eben wird der 38-jährige Timm Klotzek zu seinem Wechsel von Neon und Nido zum SZ-Magazin befragt; ob ihm die Trennung schwer falle. Wörtlich sagt der Chefredakteur: „Ich glaube, der Wehmut wird erst später kommen.“ Habe ich richtig gehört? Ich habe richtig gehört. Vielleicht ist heute der Wermut zu früh gekommen. Na, das kann ja heiter werden. Aber einen eigenen Beitrag weiß ich aus diesem Lapsus nicht zu machen.

Ich könnte ja mit der Kamera vor die Tür treten und den nächstbesten Schnappschuss zum Anlass eines Textes machen, zur Kategorie Snapshot, oder Flanerie, oder Rêverie. Eine nicht gestellte Momentaufnahme, die mich vor die Aufgabe stellt herauszufinden, was der tiefere Sinn dieses Zufallsarrangements sein könnte. Die Welt ist doch so rätselhaft, so bizarr, so erklärungsbedürftig. Oder? Ich gähne schon wieder. Und außerdem kann ich gar nicht vor die Tür treten, denn ich warte auf einen Klempner, der im Keller ein leckes Rohr flicken soll.

Vielleicht sollte ich heute einfach mal wieder pausieren. Es ist doch keine Schande, wenn einem mal die Puste wegbleibt, oder? Was war das am 1. Mai – Tag der Arbeit! – bloß für ein dummer Einfall, mir beim Schreiben für mein Blog ab sofort keinen einzigen Tag Pause mehr zu gönnen? Dieser Ehrgeiz ist ja schon nahezu krankhaft!

Was sagt übrigens das Dienstpersonal zu meinen Nöten? „Gespräch meines Zimmerkellners mit dem Küchenmädchen über meine letzten Aphorismen. Er: ,Wenn man nur wüßte, wo der Mensch diese Einfälle alle hernimmt!?‘ Sie: ,Er hat doch den ganzen lieben Tag nix anderes zu tun!‘“ (aus Peter Altenberg: Fechsung; hier zit. nach Das Buch der Bücher von Peter Altenberg. Göttingen, Wallstein Verlag, 2009, Bd. 2, S. 475.) Und schon ist wieder ein Posting fertig. Etwas zerstreut ist es zugegebenermaßen geworden, aber doch drall und rund. Geh jetzt unter die Leut’; geh spielen!

Kopfnote [2]

Monday, 09. May 2011

Vor gut zwei Jahren schrieb ich hier und da mal über den armen US-amerikanischen Romancier Philip Roth, der wenig Glück mit den Frauen hat, unter Schreibzwang leidet, dem der Nobelpreis für Literatur verweigert wird und der zu allem Überfluss auch noch von Interviewern heimgesucht wird, die er bei all dem dann doch nicht verdient. – Dieser Tage musste ich leider feststellen, dass sich Roths traurige Lage in keiner Hinsicht gebessert hat.

Diesmal ist Willi Winkler von der SZ aufgebrochen, dem 78-Jährigen in seiner New Yorker Stadtwohnung auf den Pelz zu rücken. Womit? Mit Fragen? Schon im Untertitel zu Winklers Artikel lese ich, dass Philip Roth Interviews hasse. Warum gibt er sie dann? Müsste er verhungern, wenn er konsequent absagte, wie etwa zu Lebzeiten Salinger, oder heute noch Pynchon? Und warum bedrängt ihn der Journalist mit der Bitte um ein Interview, wenn der Gesprächspartner sich doch selbst alle Fragen längst schon gestellt und in seinen mehr als zwei Dutzend Büchern beantwortet hat. Winkler gesteht gleich eingangs, schon zweimal vergeblich versucht zu haben, Roth zum Interview zu treffen, 2002 und 2009. Aber er ließ nicht locker – und nun hat er ’s endlich geschafft. (Kann es sein, dass manche Zeitungsschreiber prominente Interview-Partner sammeln wie noch unbedarftere Leute Autogramme?)

Zwar können uns Lesern die Motive ja piepegal sein, aus denen ein solcher Interviewer um den halben Erdball fliegt, um einen berühmten Autor zu befragen, der nicht befragt zu werden wünscht – wenn, ja wenn dabei ein interessanter Artikel herauskommt, mit sonst nirgends zuvor veröffentlichten Einsichten in die Motive, Arbeitsmethoden oder Stimmungen der befragten Person. Das ist nun aber im hier zu beklagenden Hohltöner aus Winklers Feder mitnichten der Fall. Damit er diese Seite drei überhaupt voll bekommt, muss er langatmig und -weilig berichten, warum er sich verspätet hat zu diesem so lang ersehnten Gespräch. Dann gibt es eine lieblose Nacherzählung von Roths Ehetragödie mit Claire Bloom und ein paar knappe Bemerkungen zu einigen seiner bekannteren Romane. (Vielleicht sind es jene, die Winkler gelesen hat?) Zweimal klingelt das Telefon. Wieder erfahren wir etwas über die gesundheitlichen Probleme des Autors. Und die wenigen Auskünfte, die er über sein Leben, Denken und Schreiben gibt, sind dermaßen zusammenhanglos und beliebig hingetupft, dass man sich wirklich verarscht fühlen muss, ob man nun Roth-Fan ist oder nicht. (Willi Winkler: Lebenslänglich; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 94 v. 23./24./25. April 2011, S. 3.)

Ich habe Philip Roth zeitweise durchaus gern gelesen. Zur Entspannung war er in einer nun aber auch schon lange zurückliegenden Lebensphase für mich tauglich. Dass Willi Winkler uns nun aber nahelegen will, er sei der einzige für den Nobelpreis in Frage kommende Autor unserer Tage, das halte ich doch für einen schlechten Scherz. Nicht, dass Roth ihn nicht bekommen könnte. Das Stockholmer Komitee hat schließlich schon ganz andere Fehlentscheidungen getroffen. Aber was Winkler hier fabuliert, ist wegen seiner Albernheit einmal wörtlich zitierenswert. Roth, so Winkler, sei ein Schriftsteller, „der jedes Jahr, wenn der Sommer zu Ende geht und die Nobelpreisverleihung näher rückt, als bester, als idealer, als einzig möglicher Kandidat genannt wird. Aber weil das Nobelpreiskomitee hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen wohnt, wird es dann wieder nur Elfriede Jelinek. Oder Herta Müller. Oder, wirklich très chic: Le Clézio.“

Man mag dem Komitee ja manches vorwerfen, mag möglicherweise auch alle drei zuletzt genannten Personen der höchsten Literaturauszeichnung der Welt für unwürdig halten. Aber ein Vorwurf trifft die Mitglieder des Komitees nicht: dass sie in den vergangenen Jahrzehnten bei ihren Entscheidungen darauf geschielt hätten, was alle Welt den „den besten, idealen, gar einzig möglichen Kandidaten“ nennt. Wo, bitte schön, gibt es ein solches Votum? Und kann es einen solchen Kandidaten auf unserem globalisierten Globus auch nur theoretisch noch geben? Wer sind die Leute, die laut Winkler als einen solchen Kandidaten Jahr für Jahr den US-Amerikaner Philip Roth benennen? Und zwar übereinstimmend in China, Indien, den USA, Indonesien, Brasilien, Pakistan, Bangladesch, Nigeria, Russland und Japan gleichermaßen, um nur die zehn bevölkerungsreichsten Länder der Erde zu nennen? Quatsch! Und übrigens ist doch vermutlich das Warten auf den Preis das einzige Motiv, das den Autor Philip Roth noch bei der Stange hält und zum Schreiben motiviert. Warum sollte man ihm dann den Nobelpreis verleihen? Damit er anschließend verstummt, weil die Luft endgültig raus ist? Nein, es ist schon in Ordnung, diese Auszeichnung an Autoren zu geben, von denen man hoffen darf, dass Preis samt Preisgeld ihnen und ihrem Werk noch nützlich sein kann.

Kopfnote [1]

Sunday, 08. May 2011

Als Fußkranker liebe ich Fußnoten. Das mag eine Kompensation sein, vielleicht macht mir aber auch bloß das Kleingedruckte so viel Freude, weil es mir immer wieder die Nahsichtschärfe meiner Augen beweist. Ich kann noch Sätze entziffern, wo andere nichts als Striche sehen. Seit ich mein Blog betreibe, habe ich eine mögliche Liaison mit der Fußnote auch in dieser neuen Behausung nie ganz aufgeben können. Aber ich wusste nicht so recht, wie das formal zu bewerkstelligen wäre. Schließlich rücken alle Postings hier automatisch nach unten. Die Artikel fallen tiefer und tiefer, je älter sie werden, bald schon tiefer, als eine Fußnote je sinken kann, der gedruckt auf Papier noch immerhin die untere Blattkante letzten Halt gibt. (Es sei denn, sie wird ans Ende des Buches verbannt, aber das halte ich für eine Unsitte und Zumutung für den Leser obendrein.)

Nun ist mir, weil sich ein konkretes Problem stellte, der Gedanke gekommen, meinen Fußnoten hier autonome Artikel zuzugestehen. Zwar ist die Verweisrichtung dabei notgedrungen auf den Kopf gestellt, indem die Fußnote auf den kommentierten oder ergänzten Passus im Haupttext verlinkt, in diesem Fall auf das Wort Tiere im Artikel Heinrich Funke: Das Testament (XII) vom 18. Feruar 2011. Immerhin kann ich aber nachträglich dort auch noch einen Verweis auf die hier folgenden Ausführungen anbringen. Da es sich nun bei dieser von mir erfundenen Praxis im wörtlichen Sinn ja weniger um Fuß-, als vielmehr um Kopfnoten handelt, insofern sie nämlich zumindest bei ihrem ersten Erscheinen im Werk ganz oben am Haupt-Platz stehen, entschied ich mich für diesen Namen: Kopfnote – wobei mir auch alle übrigen Nebenbedeutungen, die er dem Leser in den Sinn rufen mag, durchaus willkommen sind.

Folgende Kopfnot plagte mich also in den vergangenen sieben Wochen. Der Künstler der Linolschnittfolge, die ich hier regelmäßig kommentiere, gab gesprächsweise zu bedenken, ich hätte den Satz des Pseudo-Aristoteles – „post coitum omne animal triste praeter gallum, qui cantat“ – falsch aus dem Lateinischen übersetzt, indem ich animal mit Tier eindeutschte. Vielmehr müsse es Lebewesen heißen. Und ein Lebewesen sei ja auch der Mensch, der somit hier hinzuzurechnen sei, als ein nach dem Koitus trauerndes Wesen. Dieser Einwand brachte mich völlig aus dem Konzept, obwohl ich in meinem Stowasser beide Möglichkeiten (und noch eine dritte) fand: „animal, alis, n Lebewesen, Geschöpf; Tier.“ (Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 1993, S. 36.)

Das harmlose Semikolon an dieser Stelle gibt zu denken. Ist die letztgenannte Wortbedeutung Tier nun eine schwächere, seltenere oder spätere? Und da ich mich nun schon einmal etwas gründlicher mit den Übersetzungsmöglichkeiten des Zitats befasste, fiel mir plötzlich auf, dass ich immer gedacht und wohl auch gesagt hatte: „[…] außer dem Hahn, der schreit.“ Ich hatte vermutlich das im Deutschen gängige Kompositum Hahnenschrei im Ohr und wusste natürlich außerdem, dass man die wenig musikalischen Laute dieses Haustiers als Krähen bezeichnet. Nun steht ja aber bei Pseudo-Aristoteles ausdrücklich cantat, und cantare bedeutet nun einmal „singen“, keineswegs „schreien“ oder „krähen“. In der Sprachbar der Deutschen Welle gab es mal einen eigenen Beitrag über das deutsche Wort „Hahnenschrei“. Dort heißt es: „Seit Menschengedenken gilt er als ein Verkünder der Zeit, genauer gesagt: des Tagesbeginns. Vielleicht haben Sie ihn ja gehört gegen Morgen, als er Sie in einer stillen Gegend fernab von den Städten unsanft aus dem Schlummer gerissen hat. Den ersten Hahnenschrei – oder besser noch Hahnengesang. Ob man das Krähen wirklich als wohlklingenden Gesang bezeichnen kann, wenn man davon frühmorgens aus dem Bett geworfen wird, lassen wir einmal dahingestellt. Aber der Name Hahn weist ihn eindeutig als Sänger aus. Denn das lateinische galli-cinium bedeutete Hahnengesang und bei den Griechen nannte man den Hahn spöttisch ēïkanós – Frühsinger. Auch im Französischen singt der Hahn: Dort heißt es: Le coq chante. In einer Fabel, die über die Niederlande nach Deutschland gekommen ist, wird der Hahn chantecler genannt, was so viel wie Singehell bedeutet.“

Nun riskiere ich mal, was man neuerdings eine „steile These“ nennt. Vielleicht haben die Hähne vor ein paar Jahrhunderten tatsächlich noch gesungen? Beweisen kann ich dies natürlich nicht, aber die zitierten alten Texte legen es doch nahe. Und der Gegenbeweis dürfte ebenfalls unmöglich sein, schon allein deshalb, weil die technische Möglichkeit zur Tonaufzeichnung erst ab 1860 entwickelt wurde. Zudem würden wir einen Hahnengesang auf einer Schallplatte aus dem antiken Rom vermutlich gar nicht als solchen erkennen, weil wir ja nicht wissen, wie er geklungen hat: der singende Hahn. Diese kleine Geschichte von den Tücken des richtigen Übersetzens und Verstehens alter Weisheiten gilt mir nur als neuerliche Bestätigung, dass Skepsis ihnen gegenüber sehr angebracht ist.

Blick nach oben und zurück

Thursday, 20. January 2011

hochobengruenerfetzen

Der Himmel hat keine Balken. Eins der Kollegen-Blogs, die ich zur Abhärtung gelegentlich besuche, ist das von Andreas Glumm. Wenn der mal um die Ecke geht, dann werden wieder die ewigen Vergleiche mit Rimbaud, Brinkmann und Fauser bemüht, die dann aber auch nichts mehr nützen. Aber wer weiß, ob es dem Glumm hülfe, wenn er jetzt plötzlich berühmt und dann gar reich würde. Eher wohl nicht! Was machte er denn mit dem vielen Geld? Ich wage gar nicht dran zu denken. Dann soll er lieber ein Geheimtipp bleiben. (Und wenn ich ihn hier lobe, mittlerweile sehr weit weg von der Mitte, dann kann ja nicht viel passieren.)

Das war jetzt aber noch nicht der angekündigte „Blick nach oben“, so weit möchte ich nun auch wieder nicht gehen. Glumm hat gestern einen Text veröffentlicht, der gleich eingangs von einem Stück Kunststoff handelt, das sich in einer Baumkrone verfangen hat. Im Park. Das erinnert mich an die nervende Plastiktüte, die sich am 8. Februar 2008 im Rotdorn hinter „unserem“ Haus verheddert hatte. Ich vermute, dass sie dort noch immer hängt. Unverrottbar eben, wie das Posting heißt, das ich im Oktober 2008 über dieses Ärgernis veröffentlichte.

Zuerst erwähnt hatte ich diese Baumverschmutzung in einem Blog über Philip Roth und seinen zehnten Nathan-Zuckerman-Roman Exit Ghost, das ich noch im Auftrag von Westropolis schrieb. Aber dieses Weblog der WAZ-Mediengruppe ist ja Anfang dieses Jahres komplett gelöscht worden, meine Verlinkungen dorthin landen jetzt allesamt bei der Homepage von DerWesten. Grrr! Das kann ich mir nicht gefallen lassen. Wenn ich an die aus diesem Trotz resultierende bevorstehende Sisyphusarbeit denke, wird mir zwar ganz anders. Aber wer weiß? Vielleicht ist es ja auch nützlich, die Westropolis-Artikel samt Kommentaren noch einmal wiederzulesen und auf ihre Haltbarkeit zu prüfen.

Schließlich gilt ja nicht nur für die Literatur- und Geistesgeschichte, dass jeder kluge (und dumme) Gedanke irgendwann schon einmal gedacht und ausgesprochen wurde, sondern auch für meine ganz private Hirn- und Zungenhistorie, in deren Verlauf mir jede spinnerte oder auch geniale Idee schon mal durch den Kopf gegangen und aus dem Maul gesprungen (bzw. aus der Feder geflossen) ist. Aber was mache ich denn dann eigentlich noch hier?

Jetzt weiß ich es! Es lebe die feine Differenz, die so belebende! Denn bei Glumm, siehe oben, ist keine grüne Plastiktüte Stein eines Anstoßes, sondern ein roter Luftballon liefert den Anlass für vielmehr durchaus angenehme („… so ein schöner knallroter …“) Empfindungen. Ja, mehr noch: Der Fremdkörper im Baum regt sogar ein Gespräch an über Gott und … nein, nicht über die Welt, sondern über den „…Zufall“! Nun höre ich schon wieder dies Geraune: ,Was will er damit sagen? Plastiktüte, Luftballon? Blick nach oben voll Verdruss, Blick zurück im Zorn?‘ Da kann ich nur gegenfragen: Wer hat denn hier Sinn versprochen? Widerspruchsfreiheit? Letzte Antworten? Ich jedenfalls nicht.

(I) ff.

Saturday, 13. March 2010

solitaersignal

Anlässlich der Titelrevision (und -amputation um die überflüssige Datumsangabe) musste ich feststellen, dass ich viele Male eine (I) hinter einen Titel gesetzt habe, ohne irgendwann eine (II) darauf folgen zu lassen. Offenbar versprach ich mir von dem angeschnittenen Thema noch weitere nahrhafte und appetitliche Tortenstücke. Doch drängten sich allzu bald andere Themen in den Vordergrund und ich vergaß, dass ich da eine Fortsetzung angekündigt hatte, die ich bis heute schuldig geblieben bin. Nun will ich die Gelegenheit ergreifen, diese zwei Dutzend Artikel daraufhin zu überprüfen, ob sich auch aus der Distanz eine Fortführung ihres jeweiligen Themas lohnt – oder ob ich sie als Solitäre stehenlassen und dann konsequent die Nummerierung (I) löschen soll.

Und dies sind die Überschriften der Auftaktartikel, die noch darauf warten, durch adäquate Nachfolger zu bloggologischen Sequels veredelt zu werden: Otto N., Dieda, Wälzer, Lichtblicke, Heute, Habent sua fata libelli, Aus der Mitte, Findling, Webstalking, Pedifest, Popularität, Nichts ist älter, Selbstbeschreibung, Verwechslung, Erstlesealter, Vorlesepein, Robinsontag, Homo immobilis, Blickweiten, Abwege, Texttraum, Q’s Gequatsche, Manchmal und Lesertypologie. – Na, bin ich nicht fleißig?

In den kommenden Tagen werde ich mir diese potenziellen Rohrkrepierer einen nach dem anderen vorknöpfen und auf ihre konkrete Welthaltigkeit und abstrakte Sinnhaftigkeit hin abklopfen. Erweist sich deren Aussage im Einzelfall als ideelle Eintagsfliege, dann wird ihr Zickzackflug augenblicklich abgeklatscht und stillgelegt. Trägt aber der Gedankenflug aus dem usprünglichen Einfall über den inspirierten Urmoment hinaus, dann wäre ich doch der Letzte, einem solchen Sebstläufer den nötigen Entfaltungsraum vorzuenthalten. Dann mögen (II) ff. sehen, wo sie ihren Weg und ihr Ziel finden.

An diesem Beispiel wird vielleicht besonders gut nachvollziehbar, warum ich das Weblog als schriftliche Ausdrucksform so reizvoll finde. Es gestattet mir als work in progress zu jedem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme alter Motive, fordert mich dazu heraus, mich immer wieder mit älteren Gedanken aus neuerer Sicht zu konfrontieren und sie fortzuspinnen, sooft sie über den Tag hinaus Lebenskraft behaupten.

Die Nummerierung – mal in Klammern, mal ohne, mal in römischen, mal in arabischen Zahlen – wurde bei Gelegenheit dieser Revision übrigens vereinheitlicht. Ab sofort sind Fortsetzungsartikel immer durch römische Zahlen in Klammern kenntlich gemacht. Und wenn meine Zeit es zulässt, werde ich demnächst am Ende jedes einzelnen Fortsetzungsartikels zu allen anderen Artikeln der Serie, älteren wie früheren, verlinken.

Manchmal (I)

Monday, 08. March 2010

adler

Manchmal zweifle ich, ob dieses Projekt, mein Weblog, nicht etwa bloß eine Ablenkung von etwas anderem ist, ein Platzfüller, ein Mittel, den Tag zu bestreiten. Manchmal frage ich mich, ob das Schreiben daran, seit nun bald zwei Jahren und nahezu täglich, auch nur wieder eine Sucht ist, oder mindestens eine Gewohnheit, jedenfalls eine zwanghafte Widerholung ohne Aussicht auf ein natürliches Ende, also ziellos wie das Rauchen von Zigaretten oder das Überfliegen der Tageszeitung. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, diese liebe Gewohnheit von heute auf morgen aufzugeben, wie ich schon so viele Gewohnheiten, liebe und weniger liebe, im Laufe meines unfassbar langen Lebens aufgegeben habe, um die Zeit, die dadurch frei wurde oder besser leer, mit etwas anderem zu füllen, das vielleicht weniger ziellos sein und ein natürliches Ende immerhin in Aussicht stellen könnte.

Manchmal denke ich an die weit, weit zurückliegende, lange, lange vergangene Zeit zurück, als ich noch auf einer mechanischen Schreibmaschine der Firma Adler tippte [s. Titelbild], deren einziger besonderer Service darin bestand, gelegentlich durch Umschaltung des Farbbandes ein Wort in roter Schrift schreiben zu können, ein Luxus, der sich aber bald erstens als entbehrlich und zweitens als unökonomisch herausstellte, weshalb ich nach der nahezu restlosen Abnutzung der schwarzen und der nahezu spurlosen Schonung der roten Hälfte des Farbbandes nun ein konventionell rein schwarzes Band kaufte, ohne rote Halbspur, denn das konnte man umdrehen, wenn die obere Hälfte abgenutzt war, es hielt also doppelt so lange vor und war zudem auch in der Anschaffung etwas billiger.

Manchmal erinnere ich mich in diesem Zusammenhang auch an die verschiedenen Techniken, die gegen das unvermeidliche Übel des Vertippens seitens der Schreibwaren- und -maschinenhersteller in Anschlag gebracht wurden, nachdem ja zunächst das Durchixen das Mittel der Wahl gewesen und lange geblieben war; aber diese urtümlichen Verhältnisse liegen ja geradezu im Paläolithikum der mechanisierten Schreibtechnik, und so bin ich jetzt gerade tatsächlich gerührt, dass im aktuellsten Rechtschreibduden das Verb durchixen noch vorkommt, als „ugs. für auf der Schreibmaschine mit dem Buchstaben x ungültig machen“. (Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim ∙ Leipzig ∙ Wien ∙ Zürich: Dudenverlag, 2006, S. 341. – Genau zwölf Seiten vorher steht übrigens der „Doppelklick“.) Manchmal denke ich, dass die enormen technischen Erleichterungen des Korrekturvorgangs beim Schreiben – vom Tipp-Ex-Streifen über Tipp-Ex flüssig über das Korrekturband und die Speicherschreibmaschine mit Zeilendisplay – paradoxerweise der Sorgfalt der Schreibenden und damit der Qualität ihrer Ergebnisse eher abträglich waren. Manchmal bin ich insofern ganz froh, diese mühselige Schule der Berichtigung mit meist nicht ganz sauberem Ergebnis durchgemacht zu haben und hoffe, dass sie mich zu einer Schreibdisziplin erzogen hat, die zuletzt mein Geschriebenes veredelt – und zuallerletzt dem Leser das Lesen erleichtert.

Manchmal trauere ich aber gar jener Zeit nach, als die Fehler auf dem Papier noch untilgbare Spuren hinterließen. Dann hieß es eben einfach: Auf ein Neues! Und manchmal, um endlich zu einem vorlufigen Schluss zu kommen, hoffe ich, dass die Spuren, die ich auf der Oberfläche (des Papiers, der Monitore) hinterlasse, zwar oberflächlich nahezu fehlerfrei sein mögen, sich aber irgengendwann, genauer betrachtet, als ein einziger großer Fehler erweisen, allerdings mit keinem noch so deckfähigen Liquid Paper zu tilgen.

Slow-Blogging

Tuesday, 12. January 2010

ruckspiegel

Dass die neuen und neuesten Medien geradezu unvermeidlich, quasi aus ihrer technischen Zurichtung heraus zu einer Beschleunigung von Wahrnehmung und Kommunikation zwingen; dass die mit ihrer Hilfe fabrizierten und transportierten Mitteilungen immer kürzer und immer flüchtiger, ihr Rhythmus immer stakkatohafter, ihr Inhalt infolge davon immer dünner, „oberflächlicher“ werden müsse – das habe ich immer schon bezweifelt. Ein solcher Fatalismus befreit den einzelnen Menschen, der heute und in diesem Zusammenhang „User“ genannt wird, von der Verantwortung für den individuellen Gebrauch der Werkzeuge, die ihm die Technik liefert. Dass eine Mitteilungsmöglichkeit wie das Weblog im Internet dazu verführt, fehlerhafte, gedankenlose, hässliche und überflüssige Beiträge zu veröffentlichen, ist nicht zu bestreiten; ebensowenig aber, dass jeder, der dieser Verführung nicht widersteht – was ja sehr wohl möglich wäre –, die persönliche Verantwortung für das Ergebnis trägt.

Als ich vor fast drei Jahren mit der Bloggerei begann, stellte ich an mein Geschriebenes die gleichen Ansprüche, an denen ich mich bei meinen gedruckten Texten, ja selbst bei meiner Produktion für die Schublade orientiert hatte. Offenbar hielten meine Kollegen bei Westropolis solche Ansprüche für völlig inadäquat diesem Medium gegenüber und machten sich das Leben viel leichter als ich. Ihre größtenteils schludrige Ex-und-hopp-Arbeitsweise deklarierten sie als trés chique und zeitgemäß, so sie sich denn überhaupt noch einen Rest von journalistischem Qualitätsbewusstsein bewahrt hatten; und ihre Leser waren offenbar nichts besseres gewöhnt. Mit einer von ihnen geriet ich darob bald so über Kreuz, dass für beide von uns zweien kein Platz mehr an Bord war. Interessanterweise hat sie mittlerweile aber auch längst diesen dümpelnden Seelenverkäufer verlassen und sogar ihr eigenes Blog nahezu aufgegeben, weil ihr wohl selbst der minimale Arbeitsaufwand ihres Schluderbloggens noch viel zu groß war. Für Menschen wie sie wurde Twitter erfunden – und wir ernsthaften Blogger dürfen hoffen, dass irgendwann alle zu artikulierteren Mitteilungen unfähigen Texter in dieses ebenso unverbindliche wie anspruchslose Reich des Gezwitschers abgezogen sein werden.

Eine noch kleine, aber desto feinere Elite der internationalen Bloggerszene hat sich längst zu qualitativen Idealen bekannt und verweigert sich konsequent der besinnungslosen Hektik, mit der im Internet aus tausend Rohren mit feuchter Munition auf Spatzen geschossen wird. So hat Todd Sieling ein Slow-Blog-Manifesto veröffentlicht, das ich hier in meiner eigenen (freien) Übersetzung wiedergebe:

[I] Slow-Blogging bedeutet Verweigerung von Unmittelbarkeit. Es beruht auf der Einsicht, dass nicht alles Lesenswerte schnell geschrieben wurde, dass viele Gedanken am besten erst in ausgegorenem Zustand aufgetischt werden sollten und dass es ihnen gut bekommt, wenn dies in wohltemperierter Stimmung geschieht. [II] Slow-Blogging ist wie Zungenreden, als ob die Pixel den Worten eine kostbare und außergewöhnliche Form verliehen. Es setzt die Bereitschaft voraus, Geschehnisse unkommentiert zu lassen. Seine Gangart ist gemessen, sein gemächliches Schreiten lässt sich nicht durch Ereignisse stören, die alles andere als echte Notfälle sind; und möglicherweise nicht einmal durch solche, denn Langsamkeit ist nicht die angemessene Geschwindigkeit für die meisten Notfälle. Im Notfall werden stattdessen Orte bevorzugt, an denen ein beruhigendes Tempo den Tageslauf bestimmt. Solche lauschigen Orte dienen uns in dieser Lage am besten. [III] Slow-Blogging kehrt jenen Auflösungsprozess um, an dessen Ende nurmehr Einzeiler und verknappte Phrasen stehen, welche doch meist nur unsere Ideen im frühesten Zustand ihres Entstehens widerspiegeln. Dabei leuchten Gedankenblitze auf und verblassen wieder, um ihren Platz im Hintergrund von etwas Größerem einzunehmen. Slow-Blogging kritzelt keine Gedanken auf das ätherische und ewigwährende Transparent, die noch keinen bleibenden Wert in Gestalt zeitloser Ideen erlangt haben. [IV] Slow-Blogging lässt sich darauf ein, die alltäglichen Empörungen und Begeisterungen mit Schweigen zu übergehen, die doch keinen anderen Zweck erfüllen, als die Leere einzelner Augenblicke auszufüllen, durch ein Umherhüpfen zwischen Banalitäten, Herzschmerzschmalz und Apokalypsekitsch-Psychose, und dies alles bloß in den Lücken zwischen den Schlagzeilen. Was immer du in einem bestimmten Augenblick in der vergangenen Woche sagen wolltest, du kannst es auch noch im kommenden Monat oder im nächsten Jahr sagen und wirst dann nur als desto geistreicher erscheinen. [V] Slow-Blogging ist die Antwort auf PageRank und dessen Ablehnung. PageRank: dieses hässlich-hübsche Monstrum, das sich hinter den vielfach gefältelten Vorhängen von Google verbirgt und über Ansehen und Relevanz der Suchergebnisse entscheidet. Blogge zeitig und reichlich, dann wird Google es dir danken. Konditioniere dein kreatives Selbst auf die geheimnisvolle Frequenz, und du wirst von Google gehätschelt; du wirst dort erscheinen, wo jeder hinblickt – bei den ersten paar Seiten der Suchergebnisse. Folgst du aber deiner eigenen Gangart, so wirst du deine Werke niemals wiederfinden. Verweigere dich dem PageRank, und schon verschwinden deine Werke. Wie von einem Strudel werden sie in die Abgründe unspezifischer Ergebnisse hinabgesaugt. Sein verzerrtes Ideal vom Gemeinwohl hat PageRank zu einem furchteinflößenden Gegner der Gemeinschaft gemacht, der eine Gangart vorgibt, die jede doch so nötige Reflektion unmöglich macht; nötig nämlich für einen Fortschritt über den Tag hinaus und hin zu einem Testament. [VI] Slow-Blogging ist die Wiedereinsetzung der Maschine als Medium menschlicher Äußerungen, statt wie zuletzt nur noch deren Peitsche und Container zu sein. Damit wird das Hamsterrad freiwillig angehalten, das mit Lichtgeschwindigkeit rotiert, wie’s die Regeln des effektiven Bloggens vorschreiben. So werden künftig asynchrone Zeitverhältnisse eingesetzt – worauf wir nicht mehr schneller und immer noch schneller drauflostippen, um mit dem Computer Schritt zu halten; worauf das Tempo der Regeneration nicht die gleiche Gangart erzwingt wie der Konsum; und worauf gute und schlechte Werke in ihrer je eigenen Zeit geschaffen werden.

Solche zaghaften Deklarationen gegen den übermächtigen Trend der Beschleunigung machen mir Mut. Es weiß zwar noch kaum einer, aber wir Slowblogger sind tatsächlich die Speerspitze eines ganz neuen, revolutionären Verhältnisses zur Kreativität in den Neuen Medien.

Nichts ist älter (I)

Monday, 04. May 2009

… als die Zeitung von gestern? Ach was, eine gut abgehangene Zeitung vermag mir geradezu Aktualitätskicks zu verpassen, dass es eine wahre Freude ist. Messiemäßig horte ich darum auch stets einen pfundigen Vorrat vor sich hin gilbender in- und ausländischer Blätter, hauptsächlich Feuilletons, Wissenschafts- und Gesellschaftsteile, gelegentlich aber auch Fetzen aus anderen Ressorts, auf dass mir in faden Stunden der inspirierende Input nicht ausgehe. Dann grapsche ich blindlings ins Volle und lasse mich überraschen, welche Gedankenmelodie der Zufall meinem Hirnkasten abnötigt.

Heute also ein noch nahezu taufrisches Blatt, die Seite 34 aus Nr. 43 der diesjährigen FAZ vom 20. Februar. Dort widmet Anja Hirsch den soeben im Piper-Verlag erschienenen ersten beiden Bänden einer neuen Ausgabe von Sándor Márais Tagebüchern vier muntere Spalten. Nun wüsste ich gern, ob diese Edition meiner siebenbändigen Ausgabe aus dem Oberbaum-Verlag von 2001 etwas voraushat. Wie soll ich mir aber folgenden Satz der Rezensentin erklären? „Vereinzelt erschienen auch hierzulande bereits Auszüge, unter anderem zwei [?] Bände im Oberbaum Verlag.” Ein Blick in den Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek hätte doch ausgereicht, um diesen plumpen Fehler zu vermeiden!

Die Oberbaum-Ausgabe ist, wie ihre Leser wissen, ein editorisches Kuriosum ohnegleichen. Nach einem ersten Band, der „Auszüge, Fotos, Briefe, Dokumentationen” bringt, folgen in Band 2 die Tagebücher von 1984 bis zum Freitod des Autors 1989, dann geht es weiter mit Band 3 und den Jahren 1976 bis 1983 und so fort in umgekehrter Chronologie, bis wir schließlich im siebten und letzten Band bei den Einträgen aus den Kriegsjahren 1943 und 1944 angelangt sind.

Die Frage, ob ich mir nun zu meiner vorhandenen noch eine weitere Ausgabe der Tagebücher jenes ungarischen Diaristen zulegen soll, muss ich mir also selbst beantworten. Die FAZ-Rezension ist da wenig hilfreich, ich bin auf meinen Spürsinn angewiesen. Die eben erschienenen Piper-Bände der Jahre 1943 bis 1945 haben zusammen über 900 Seiten, in meiner Oberbaum-Ausgabe kommen dieselben drei Jahre gerade einmal auf 274 Seiten. Wenn es dort im Impressum heißt: „Textkritische, leicht gekürzte Ausgabe”, dann kann dies wohl nur als Etikettenschwindel bezeichnet werden. (Immerhin erklärt diese Rechnung, dass die neue Ausgabe laut Anja Hirsch auf stolze 14 Bände angelegt sein soll. Sibylle Mulot im Spiegel spricht allerdings von einer laut Verlag „heute noch nicht endgültig feststehenden Zahl von Bänden”.) Fraglos muss die FAZ-Rezensentin ihr Handwerk erst noch lernen. Da sie nicht einmal sachlich korrekte Informationen liefert, erstaunt ein Satz wie dieser kaum mehr: „Diese Bände gehören neben Julien Green, Virginia Woolf und viele andere manische Jahrhundert-Überschreiber gestellt.” Ja, was denn nun? Erst hievt Anja Hirsch Márai auf ein Niveau mit zwei ganz großen Tagebuchschreibern des 20. Jahrhunderts – und dann relativiert sie dieses höchste Lob gleich wieder, indem sie von vielen anderen spricht, die offenbar auch auf einer Höhe mit den drei Vorgenannten liegen.

Zum Abschluss und zur Erholung von solcherlei schummriger Ungefährheit und windelweicher Ungefährlichkeit ein Zitat aus Sándor Márais Tagebuch. Man schreibt das Jahr 1944, Budapest liegt wie halb Europa in Trümmern. Der Romancier, dem das Romaneschreiben gründlich vergangen ist, blättert in alten Illustrierten: „Mir fällt ein sieben Jahre altes Esquire-Heft in die Hand. Ich studiere die Annoncen. All diese Whiskys, Automarken, Tennisschläger, Schlangenlederschuhe, Edelsteine, modisch geschnittenen Herrenhemden, die aus rätselhaften Materialien hergestellte Damenunterwäsche, diese Welt, die von den Raffinessen des Details nie genug bekommt -, gibt es sie tatsächlich noch irgendwo? Wieder muß ich daran denken, daß ich in Budapest drei Tage vergeblich auf der Suche nach einem Schuster war, der mir einen Flicken aufsetzt.” (Sándor Márai: Tagebücher 7. 1943-1944. Ausgew. u. a. d. Ung. übers. v. Christian Polzin. Hrsg. v. Siegfried Heinrichs. Berlin / St. Petersburg: Oberbaum Verlag, 2001, S. 194.)

[Fortsetzung: Nichts ist älter (II).]

Vorschnelligkeit

Tuesday, 21. April 2009

„Ich hab jetzt einfach eine andere Schnelligkeit. Ich hab auch gemerkt, wie viel Energie andere aufbringen. Wenn ich in ein Café gehe: Die Zeitung wird geblättert, da wird noch Kaffee … dann hier das Winken, vorne der Stuhl, das muss noch vorne sein, man muss hinten sitzen, vorne rechts … Das ist ein Wahnsinn an Energie, die der Mensch besitzt, ja? Und die Hälfte würde wahrscheinlich schon reichen.”

So Christoph Schlingensief morgen im Interview bei Beckmann in DasErste. Nun habe ich zwar weder eine Glotze noch kann ich in die Zukunft schauen, aber ich bin mittlerweile so langsam geworden, dass die Zukunft schon hinter mir liegt.

Und weil ich so schön langsam bin, kann mir naturgemäß nicht entgehen, dass Christoph hier „Schnelligkeit” sagt, wo er doch eigentlich „Langsamkeit” meint. Auffällig auch, dass er rasend schnell spricht, als müsste er in die ihm gewährte Sendezeit so viel wie eben möglich hineinquetschen. Schlingensief klopft sich auf die Schulter, dass er nur zu dieser einen Talkshow geht mit seiner Leidensgeschichte und seinem Buch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Das soll ein Fortschritt sein?

„Die ersten vier Wochen sind entscheidend.” Damit meint er die ersten vier Wochen nach der Krebsdiagnose.

Ich werde wohl immer die letzten für die wichtigeren halten.

Krieg dem Kriege (II)

Monday, 02. March 2009

„In jeder Diskussion darüber, warum die USA in einen Krieg eintreten sollten oder nicht, das heißt: In allen gefährlichen politischen Situationen seit 1945, wird der Zweite Weltkrieg als Beispiel vor allen anderen angerufen. In diesem Fall scheint es völlig klar zu sein, wie gut und böse verteilt sind. Hitler war ein dämonischer Wahnsinniger, der Urheber eines gigantischen Massenmords, von Hässlichkeit, Zerstörung und Untergang. Ebenso klar scheint zu sein, dass man in einem solchen Krieg nicht Pazifist sein konnte – in diesem Land zählen die Pazifisten jener Zeit noch immer zu den verkappten Faschisten. Dieser Krieg war der gute Krieg, der alle anderen Kriege rechtfertigte, bis hin zum gegenwärtigen Krieg im Irak.” (Thomas Steinfeld: „Man kann die Menschen nicht zum Guten bombardieren.” Nicholson Baker im Interview; in: sueddeutsche.de v. 13. März 2008.) So erklärte Nicholson Baker vor einem Jahr beim Erscheinen seines letzten Buches Human Smoke, warum er sich darin ausgerechnet mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte – und nicht mit irgendeinem anderen Krieg der an Kriegen doch so reichen Menschheitsgeschichte.

In diesen Tagen liefert der Rowohlt-Verlag die deutsche Übersetzung aus. Mein Buchhändler hatte sie am heutigen Montag noch nicht, obwohl sie gestern von Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen wurde. – Neulich gab es ja ein arges Lamento um Daniel Kehlmanns ebenfalls bei Rowohlt erschienenen Roman Ruhm, den Volker Hage unter Missachtung der Sperrfrist („Keine Rezensionen vor dem 16. Januar!)” im Spiegel vom 5. Januar rezensiert hatte. Bakers Buch – nicht Roman, nicht Sachbuch – ist für den 6. März angekündigt. Bis dahin werden die FAS-Leser Weidermanns nette Worte wohl hoffentlich noch nicht ganz vergessen haben.

(Doch warum schweife ich von der Kriegsschuldfrage im Allgemeinen und den Schuldigen am Zweiten Weltkrieg im Besondern zu einem dermaßen trivialen Thema wie den Sperrfristen im Buchhandel ab? Vielleicht damit ich diesen Artikel nicht nur in die „Zentrifuge” stopfen kann, sondern er auch noch leidlich in die Kategorie „Langsamkeit” passt. Denn es ist doch schließlich ein weiteres, Besorgnis erregendes Indiz für die fortschreitende Zersetzung unserer Urteilskraft, wenn der Beschluss, nach der Lektüre einer Buchempfehlung im Feuilleton unserer Tageszeitung in den nächsten Tagen eine Buchhandlung aufzusuchen und dieses Buch zu erwerben, allein deshalb oft genug verworfen wird, weil dieses Buch noch nicht erschienen ist. Das Sperrfeuer der auf uns einprasselnden Novitäten macht es uns offenbar unmöglich, eine Kaufentscheidung länger als ein, zwei Tage aufrechtzuerhalten.)

Nicholson Baker hat ein Buch geschrieben, das bei seinem Erscheinen am 11. März vorigen Jahres in den USA und in Großbritannien heftige Kontroversen auslöste. Wenn es in den nächsten Tagen auch die deutschen Leser erreicht, besteht womöglich die Gefahr, dass es Applaus von der falschen Seite bekommt. Formal wurde es schon mehrfach mit Walter Kempowskis Echolot verglichen, denn auch Menschenrauch ist eine groß angelegte Textmontage aus Originalzitaten, beginnend mit einer Bemerkung von Alfred Nobel aus dem Jahr 1892, zitiert nach den Memoiren Bertha von Suttners, und endend mit einem Tagebucheintrag des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian vom 31. Dezember 1941. Im Unterschied zu Kempowski erlaubt sich Baker aber, gelegentlich sardonische Kommentare aus eigener Feder einzustreuen. Auch seine Auswahl ist nicht um ein möglichst weites Panorama bemüht, sondern auf einen Brennpunkt der Erkenntnis hin fokussiert. So meinte der Rezensent der Welt nach dem Erscheinen des Originals, Baker wolle „nicht die Bandbreite dessen vorführen, was damals geschah, sondern eine These beweisen.” (Hannes Stein: Churchill soll Hitler zum Krieg angestachelt haben; in: Welt online v. 13. März 2008.)

Von den immerhin 634 Seiten dieser Beweisführung sollte man sich übrigens nicht allzu sehr einschüchtern lassen, denn der Autor hat zwischen den einzelnen Zitaten viel Platz zum Nachdenken gelassen. Baker erklärte dies im Interview so: „Zwischen den Fragmenten gibt es viel leeren Raum auf den Buchseiten. Mit diesem Raum können Sie als Leser anstellen, was Sie wollen. Sie können Ideen hinzufügen, Sie können widersprechen, weinen oder auch Partei ergreifen. Auf jeden Fall aber werden Sie zum aktiven Teilnehmer, denn ich gebe Ihnen nicht einmal eine Einführung vor. Ich schicke Sie nur los, und dann müssen Sie sich selbst im Wust der widersprüchlichen, komplizierten Ereignisse zurechtfinden.” (Susanne Weingarten: „Dieses Gefühl der inneren Qual”; Interview mit Nicholson Baker in Boston; in: Spiegel online v. 5. Mai 2008.) – Die teils vernichtenden Kritiken aus dem englischsprachigen Raum bestreiten eben diese vorgebliche Neutralität von Bakers Textauswahl in Human Smoke. Vielleicht könnte man die weißen Flächen ja dazu nutzen, gezielt solche Zitate einzufügen, die seiner These zuwiderlaufen? Aber jetzt warte ich zunächst einmal aufs Eintreffen des Buches. – Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009.

Schrittwechsel

Wednesday, 28. January 2009

Hans Siemsen, der in seinem Reisebericht aus dem Sowjetstaat mit mildem Spott anmerkt, dass der Taylorismus und die Ford’sche Fließbandproduktion, nach dem allbeherrschenden Prinzip „Tempotempo!”, im Kommunismus keineswegs abgeschafft sind, sondern durch die gnadenlosen Vorgaben des ersten Fünf-Jahres-Planes eher noch eine Verschärfung erfahren haben, relativiert diese Diagnose an anderer Stelle durch seine Beobachtung, dass jeder russische Industriearbeiter in einer deutschen Fabrik unweigerlich auffallen würde: „Vor allem durch Langsamkeit.” (Rußland – ja und nein. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931, S. 164.) Gegen das Phlegma der russischen Volksseele kehrt offenbar selbst Stalins „harter Besen” vergebens.

Und in den klimatisch milderen Regionen, am Asowschen und Schwarzen Meer, registriert er gar mit erkennbarem Wohlbehagen eine „Kultur der Langsamkeit”, die ihn fast an mediterrane Lässigkeit erinnert: „Vom Balkon des Hotels [in Rostow am Don] sehen wir hinunter auf die Straße. Es ist Ende September [1930]. Ein schöner, warmer Abend, wie in Berlin ein Sommerabend. In Moskau hatten wir schon gefroren. In Moskau habe ich nie einen Menschen ,spazieren gehen‘ sehen, alle waren immer so ernsthaft eilig. In Rostow ,flaniert‘ man. Liebespaare flirten langsam die Schaufenster entlang. Es gibt Läden mit Wein und Obst und schrecklichen Nippsachen. Die ganze Straße ist voll von Menschen, die, da es Abend ist, spazieren gehen. – Die ausländischen Journalisten auf dem Balkon sind ganz erstaunt. Sie kommen aus Moskau. Sie haben sowas noch gar nicht gesehen in Rußland. ,Das ist ja wie in Paris!‘, sagt einer zum andern. Der weiß es besser. ,Wie in Marseille!‘ sagt er. Und ein Dritter weiß es am besten: ,Ein Arbeiterviertel in Paris oder Marseille.‘ Aber alle sind sich darin einig, daß Rostow ganz was anderes ist als Moskau, hübscher, leichter, nicht so ernsthaft und streng. Verwegene sprechen von ,Eleganz‘. ,Sehen sie bloß! Da geht einer mit einem weißen Leinenanzug und einer knallbunten Krawatte.‘” (Ebd., S. 190.)

Müsste uns nicht längst schon die traurige Erkenntnis dämmern, dass die drei großen Ideale der Französischen Revolution – „Liberté, égalité, fraternité” – von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie die naturgegebenen klimatischen Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht in Rechnung stellten? Sind nicht alle hehren Versöhnungswünsche, von Christus bis zum jüngsten Shootingstar eines trotzigen Optimismus, Barack Obama, allein schon deshalb ins Leere gesprochen, weil es etwa in Sibirien unerträglich kalt und in weiten Teilen Afrikas unerträglich heiß ist? Die Staatsgrenzen, machen wir uns nichts vor, sind doch bei aller vorgeblichen Globalisierung vor allem Abwehrzäune der klimatisch bessergestellten Bevölkerungen, die ihr natürliches Privileg nicht mit den hungernden, frierenden und dürstenden Artgenossen teilen wollen.

Als komplizierende Faktoren kommen noch hinzu die ungleiche, gänzlich „ungerechte” Verteilung der Bodenschätze, die unabsehbaren Folgen des Klimawandels und das nach wie vor exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung. Schlechte Aussichten für Homo sapiens.

Flanieren wir Happy Few doch ganz gelassen dem Untergang entgegen! Eile ist nicht geboten. Wir kommen schon noch früh genug ans Ziel.

Das Leben

Friday, 19. December 2008

„Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt verstreichen zu lassen.

Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er im Badeort, so beschloß er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könnte.

Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den langsamen Wein des Gottes Dionysos hastig hinuntergoß, dachte er, daß bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.

So hat er niemals etwas getan, sondern immer nur ein nächstes vorbereitet. Er war nie einer ganzen und gesunden Minute Herr, und das war gewiß ein merkwürdiger Mann, wie du, lieber Leser, nie einen gesehen hast.

Und als er auf dem Sterbebette lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei.”

[Ausnahmsweise in hektischen Zeiten mal „nur” ein Zitat. Das Feuilleton Das Leben von Victor Auburtin (1870-1928) erschien 1911 in der Sammlung Die Onyxschale im Verlag von Albert Langen in München. – In neuerer Zeit hat sich der Berliner Verleger Peter Moses-Krause um die Wiederentdeckung dieses vergessenen Meisters der Kleinen Form verdient gemacht. In seinem Verlag Das Arsenal erscheint seit 1994 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe Auburtins, mustergültig ediert und in herzerfrischend schöner Ausstattung. Deren zweitem Band, Die Onyxschale und Die goldene Kette sowie andere Kleine Prosa aus dem Simplicissimus bis 1911, entnehme ich (von Seite 149) frecherweise diesen wundersamen Text und auch das Titelbild, in der Hoffnung, den einen oder anderen kennerischen Leser so auf ein verkanntes Genie der Kurzprosa aufmerksam machen zu können.]

Pedant

Friday, 21. November 2008

Mein Bekenntnis zur Genauigkeit warf die Frage (eines ehemaligen Lehrers) auf, wann diese Arbeitseinstellung in Pedanterie übergeht und somit eine eigentlich doch bewunderungswürdige Tugend zur Zwanghaftigkeit degeneriert, die unseren Spott verdient. Die Bezeichnung Pedant ist schließlich im heutigen, spätestens seit dem 17. Jahrhundert üblichen Sprachgebrauch stets abfällig gemeint, während ein genau, sorgfältig und gründlich arbeitender Meister, gleich welchen Fachs, kaum einen Vorwurf zu fürchten hat.

Μηδέν άγαν – Nichts zu sehr! Dies riet schon Solon [siehe Titelbild], einer der sieben Weisen im antiken Griechenland, seinen athenischen Mitbürgern. Einen verlässlichen Maßstab, wann denn aber des Guten zu viel getan wird, hat er freilich nicht mitgeliefert und solch ein allgemeingültiges Maß ward bis heute nicht gefunden. Wann schlägt tugendsame Sparsamkeit in lasterhaften Geiz um? Was ist noch heldenhafter Mut und was schon sträflicher Leichtsinn? Wer darf sich seiner Großzügigkeit rühmen und wer muss sich schämen, ein haltloser Verschwender zu sein? Zu bald jeder erstrebenswerten Charaktereigenschaft lässt sich eine Übertreibung finden, die aus ihr eine charakterliche Deformation macht, mag man sie nun in der biblischen Tradition als Laster, nach Charles Baudelaire als Spleen oder nach Sigmund Freud als Zwangsneurose bezeichnen. (Als großartige Kenner und Gestalter dieser allzu menschlichen Verstiegenheiten fallen mir noch ein: der Dramatiker Molière und William Hogarth, der Graphiker, vom kongenialen Georg Christoph Lichtenberg interpretiert.)

Bevor ich mich mit der Etymologie des Wortes Pedant beschäftigte, fragte ich mich, was es mit dem Fuß zu tun haben könnte, denn ich leitete es irrtümlich aus dem Lateinischen von pēs, pedis ab. Nun bin ich klüger und weiß, dass es vor vierhundert Jahren auf dem Umweg über das französische pédant und italienische pedante (für „Schulmeister; engstirniger Kleinigkeitskrämer”) vom griechischen Verb παιδεύειν („erziehen, unterrichten”) stammend ins Deutsche gelangte und insofern mit „Pädagoge” eng verwandt ist. (Vgl. Duden Band 7: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim / Wien / Zürich: Bibliographisches Institut, 1963, S. 499; und Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / New York: Walter de Gruyter, 1975, S. 536.) Dazu passt ja vortrefflich, dass heute jeder, der sich über die zunehmende Nachlässigkeit des Sprach- und Schriftgebrauchs im Internet beschwert, umgehend mit dem Vorwurf abgewatscht wird, er wolle sich bloß mit seiner oberlehrerhaften Arroganz wichtigtun.

Ich stelle mir vor, dass es die faulen Schüler waren, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts dem Wort Pedant (ursprünglich ganz neutral für „Lehrer”) seine bis heute gültige, negative Konnotation verliehen haben, als Racheakt nach den Rutenstreichen, die sie von ihren erbosten Vätern nach jedem vor Fehlern nur so strotzenden Diktat empfingen. Und gerade so bringen unsere heutigen nachlässigen Blogger, weil sie schlicht zu faul sind, Genauigkeit, Sorgfalt und Gründlichkeit walten zu lassen, dieses Tadelwort in Anschlag.

Ach, wie froh wäre ich doch, wenn man mich als einen Pedanten im ursprünglichen Sinn dieses Wortes annehmen wollte – und somit als Vorbild, dem zu folgen zwar Fleiß erfordert und den einen Schreibenden viel Zeit kostet, seinen möglicherweise zahlreichen Lesern jedoch ein Vielfaches an Zeit und Verdruss erspart, die sie, wie mittlerweile üblich und allseits akzeptiert, beim stammelnden Entziffern fehlerhafter Texte vergeuden müssen.

Uhr aus

Monday, 10. November 2008

In § 6, Abs. 8c der Laws of Chess des Weltschachbundes FIDE (Fédération Internationale des Échecs) in der letzten, gegenwärtig gültigen Fassung vom 1. Juli 2005 heißt es: “The players must handle the chess clock properly. It is forbidden to punch it forcibly, to pick it up or to knock it over.” Unfreiwillig komisch lautet die offizielle deutschsprachige Version dieses Passus: „Die Spieler müssen die Schachuhr angemessen behandeln. Es ist verboten, auf sie draufzuhauen, sie hochzuheben oder umzuwerfen.” Offenbar kommen solche handgreiflichen Wutausbrüche gegen die gnadenlos davonlaufende Zeit und ihr unschuldig objektives Messgerät bei Schachturnieren in aller Welt häufig vor, sonst bedürfte es im Regelwerk ja nicht eines solchen drohenden Fingerzeigs.

Nachdem die FIDE vor acht Jahren beschlossen hatte, die Bedenkzeit der Schachspieler zu verkürzen, denen seither in Turnierpartien für die ersten 40 Züge nur noch 75 Minuten zur Verfügung stehen, plus 30 zusätzliche Sekunden pro Zug und 15 Minuten für den Rest der Partie, nahm der Schachhistoriker Ernst Strouhal dieses Zugeständnis an die medialen und organisatorischen Forderungen der Gegenwart zum Anlass, in dem „kulturellen Schachmagazin” KARL einen geistreichen Artikel zum Thema „Schach und Zeit” zu veröffentlichen. Sein Titel: Schach im Zeitalter der Ungeduld.

Strouhal erinnert daran, dass Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahnen in England schon pünktlich auf die Minute verkehrten, Schachpartien noch keinerlei zeitlicher Begrenzung unterworfen waren und gelegentlich bis zu 20 Stunden dauern konnten. Lange Zeit hinkte das Schachspiel den fortwährenden Tempoverschärfungen unterm Zwang der industriellen Massenproduktion hinterher. Schließlich galt das Spiel ganz allgemein ja traditionell als ein mußevoller Ausgleich zur Arbeit und der Unrast des Erwerbslebens, als ein freier Spielraum unbeschwerten Vergnügens, wo die drückende Last der schmerzlich erkannten Vergänglichkeit und das drohende Unheil der Endlichkeit – wenngleich auch diesmal nur vorübergehend und für kurze Zeit – beiseitegeschoben werden konnte.

Dass nun, 150 Jahre später, das allmächtige Postulat der Zeitökonomie auch das Spiel unter seine Kontrolle gebracht hat, mag man beklagen, doch ist diese Entwicklung wohl unaufhaltsam und kaum umkehrbar. „Eine Geschichte der Zeit im Schachspiel könnte zeigen, dass das Spiel nicht nur ein Ort der Freiheit und Kontrast zur Welt der Arbeit ist,” so Strouhal, „sondern bei aller Autonomie auch ihr getreuliches Echo. Wenn heute gelebt und gearbeitet werden soll wie in einer Blitzpartie, warum sollte dann das Schachspiel anders aussehen?”

Als Motto für seinen Aufsatz hat Ernst Strouhal die Tempoangabe Robert Schumanns zu einem seiner Klavierstücke gewählt: „Schnell, noch schneller, so schnell wie möglich.” – Als anachronistisches Gegenstück zu diesem zeitgemäßen Kommando und trotzige Antwort darauf fällt mir der Titel eines Feuilletons von Hans Siemsen aus dem Jahr 1930 ein: „Nein – langsam! Langsam!” Uhr aus.