Aus der Mitte (I)

stein

Die junge Mutter, vierzig plus, muss für ein halbes Stündchen Ruhe haben. Sie erwartet den Anruf ihres Scheidungsanwalts. Drum hat sie das knallrote Plastikeimerchen fürs Töchterchen, vier minus, mit Wasser gefüllt und auf die Umfassung des Sandkastens gestellt: „Naaa-ooo-miii! Kuuu-chen-baaa-cken!“ Ein zartes Stimmchen aus dem Wäldchen hinterm Gärtchen hinterm Häuschen signalisiert kindliche Anerkenntnis des kindgerechten Beschäftigungsangebots: „Geiiiil!“

Kurz drauf spielt das Handy der treu sorgenden Mutter die ersten fünfzehn Töne der Ode An die Freude aus Beethovens „Neunter“ vor. Bevor aber Karoline Dorffmann-von Hochstengel mit dem rechten Daumen den Knopf zur Entgegennahme des Anrufs drückt, halbiert sie mit dem linken Daumen auf der Fernbedienung den Dezibelwert einer Kurzreportage über den holländischen Friseur, der aus dem homöopathischen Guru Dragan Dabić gestern wieder den psychopathischen Psychiater und Massenschlächter Radovan Karadžić gemacht hat.

„Dorffmann?“ – „Frau Dorffmann-von Hochstengel, ich grüße Sie an diesem schönen Sommertage. Dr. Wagner am Apparat. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?“

Unterdessen ist Naomi mit kleinen, aber zielsicheren Schritten aus dem Wäldchen durchs Gärtchen zum Sandkasten gestapft, ein fröhliches Liedchen aus der Kindertagesstätte auf den Lippen, die jetzt leider Sommerpause hat. Das blondzopfige Mädchen hat aus dem Unterholz einen großen weißen Kieselstein mitgeschleppt, so schwer, dass die Kleine ihn kaum tragen kann. Den lässt sie jetzt vergnügt in das rote Plastikeimerchen plumpsen. Wie das spritzt! Dann stellt sie sich, den Henkel des Eimers mit beiden Händen fest umklammernd, mit gespreizten Beinen in die Mitte des Sandkastens und lässt das schwere Gefäß unter sich pendeln wie ein olympischer Hammerwerfer die Kugel am Seil. Obwohl Naomi die physikalischen Gesetze der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte niemals erklärt wurden, die auf einen in Rotation um einen gedachten Mittelpunkt versetzten Körper wirken, erfährt sie das Wunder, dass der Kiesel nicht aus dem um sie kreisenden Eimerchen fällt und selbst das Wasser darin haftet wie angeklebt.

Nach sechs oder sieben solcher staunenswerten Rotationen draußen im Gärtchen ist Dr. Wagners Telefonstimme drinnen im Salon gerade bei der schlechten Nachricht angelangt. Er kommt aber nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Frau Dorffmann-von Hochstengel gar wird sie niemals erfahren. Der letzte Satz, den sie vor dem ohrenbetäubenden Knall hört, kommt aus dem Fernseher und lautet: „Der Bart ist ab!“ Und Herr von Hochstengel, ihr ansonsten fröhlicher Witwer, wird sechs Wochen später mit Bedauern zur Kenntnis nehmen müssen, dass die 24 Quadratmeter große Panoramascheibe seines Häuschens am Waldrand gegen Schäden dieser Art nicht versichert war.

[Fortsetzung: Aus der Mitte (II).]