Archive for September, 2011

Fristsetzung als Formgeber

Friday, 30. September 2011

Ich frage mich gerade, welchen Einfluss es auf mein Schreiben hätte, wenn meine verbleibende Lebenszeit genau begrenzt wäre. Wüsste ich zum Beispiel, dass ich nur noch ein halbes Jahr, zwei oder zehn Jahre zu leben hätte – würden dann meine Ergebnisse konziser? Hätte eine solche Limitierung Einfluss auf meine Themen? Oder verlöre ich gar, was ja auch vorstellbar wäre, gänzlich die Lust am Schreiben, um die verbleibende Zeit mit anderen Betätigungen hinzubringen?

Möglich wäre auch, oder doch immerhin vorstellbar, dass ich – angesichts der Aufgabe, nun einzig das Wesentliche in den Blick nehmen zu müssen – erstarrte und rein gar nichts mehr zu Papier brächte. Oder ich packte dies und jenes an, ließe es aber bald wieder fallen, weil mir etwas noch Wesentlicheres in den Sinn käme, wogegen das zuvor für wesentlich Gehaltene plötzlich trivial erschiene. Vielleicht verständigte ich mich in dieser Unrast schließlich doch gegen alle Unsicherheit auf einen festen Entschluss, an den ich mich nun klammerte, als stünde er für mein schwindendes Leben selbst, ohne freilich den nagenden Zweifel ganz zum Verstummen zu bringen, dass ich auf ein falsches Pferd gesetzt haben könnte.

Unwahrscheinlich, vielleicht unmöglich scheint mir hingegen, dass die Aussicht auf einen definierten Ultimo meines Lebens ganz folgenlos für mein restliches Tun und Lassen als Schreibender bliebe. Dabei stand ich schon immer – oder doch mindestens, soweit ich mich besinnen kann – unter dem inneren Druck, keine Arbeitszeit mit Marginalien zu Quisquilien zu verplempern. Es war ja schon schlimm genug, dass ich viele Jahre lang nur den kleineren Teil meines Tages aufs Schreiben verwenden durfte, während Familie, Brotberuf und Schlaf den großen Rest auffraßen.

Wieder eine andere Idee: Ich schreibe keine einzige neue Zeile mehr, sondern konzentriere all meine verbleibenden Kräfte darauf, das Vorhandene zu sichten, zu sortieren, auszumustern, zu vernichten und den guten Rest zu konservieren. Dieser Plan hat etwas Versöhnliches und überdies den Vorzug, dass er den vermutlich von Tag zu Tag nachlassenden Kräften am ehesten noch Rechnung trägt. Im günstigsten Fall kann er sogar Kraft spenden, wenn die Begegnung mit der Vergangenheit erfreuliche Erinnerungen ans Licht bringt.

(Ganz anders verhielte es sich freilich, wenn die Frist noch wesentlich kürzer wäre. Wenn sich der Erlebenskorridor auf die berühmten ,Letzten Worte‘ hin verengte. Was wäre da zu sagen? Dazu zu sagen?)

Heinrich Funke: Das Testament (XXV)

Monday, 26. September 2011

Der tanzende Elefant kommt uns bekannt vor, oder? Ganz richtig, erst auf dem vor-vorletzten Blatt ist er uns erstmals begegnet. Lediglich der Hintergrund hat sich seither von schmutzigblau zu rotviolett verfärbt. Der Elefant selbst hat seine Farbe behalten. Er ist grau, wie alle Elefanten, Esel und Theorien nun einmal sind. [Nachtrag: Der Künstler weist mich darauf hin, dass es noch einen auffälligeren Unterschied zwischen den beiden Bildern gibt: Die Horizontlinie ist im zweiten Bild von der oberen Bildhälfte in die untere gerutscht! Wie konnte mir das nur entgehen?]

Das Sprüchlein unterm ersten Elefanten lautete: „Wenn Religion zur Moral wird fängt sie an zu stinken“. Nun lesen wir: „Du hast mich verführt und ich habe mich verführen lassen“. Was fangen wir nun damit an?

Verführung bedeutet die Beeinflussung einer Person, um sie gegen ihre ursprünglichen Intentionen zu einer Denk- oder Handlungsweise zu bewegen. Dies kann in aller Regel nur dann gelingen, wenn die verführte Person in sich selbst Neigungen oder Bedürfnisse hat, die den besagten ursprünglichen Intentionen entgegenstehen und die sich der Verführer zunutze macht. Ein Beispiel. Ich habe vor Jahren beschlossen, das Rauchen aufzugeben, weil es meiner Gesundheit schadet, viel Geld verschlingt, meine Mitmenschen belästigt. Meine ursprüngliche Intention ist also, nie mehr zu rauchen. Nun bietet mir der Verführer eine Zigarette an: „Komm, sei kein Frosch! Nur eine!“ Er entfacht damit in mir einen inneren Kampf zwischen meinem Vorsatz und dem noch immer in mir lauernden Bedürfnis, diesen kleinen Schwindel im Kopf zu verspüren, der damals das Rauchen so angenehm machte. Wie ich mich nun entscheide, das hängt davon ab, welche der beiden Kräfte stärker ist. Wenn ich stark bleibe und das Angebot des Verführers ablehne, dann habe ich Schaden von mir ferngehalten und mir selbst meine Autonomie bewiesen. Gebe ich aber den Verlockungen und dem Drängen des Versuchers nach, dann bin ich schwach – und schwäche mich durch die Niederlage noch mehr.

Die Sentenz klingt nun wie eine Antwort auf die Frage, wen die Schuld trifft oder wem das Verdienst gebührt bei der geglückten Verführung. (Ganz recht, auch ein Verdienst kann dem Verführer zukommen, denn die Verführung muss ja nicht zum Schaden des Verführten gereichen. Wenn ich etwa jemanden dazu verführe, gegen seinen anfänglichen Widerwillen eine neue Speise zu kosten, die ihm dann ausgezeichnet mundet, dann hatte die Verführung ja einen Nutzen für ihn.) Mit dem Hinweis, dass auch der Verführte einen Anteil an der Verführung hat, indem er diese zuließ, bleibt die Frage nach Schuld bzw. Verdienst aber offen.

Der Satz des erfolgreichen Verführers klingt im ersten Teil wie ein Bekenntnis, im zweiten wie eine Apologie; und in seiner Dialektik banal. Es muss aber eins von beidem – der Widerstandswille des Verführten oder die Verführungskraft des Versuchers – um einen Tick stärker sein, damit die Entscheidung in diese oder jene Richtung fällt. Hier beginnt das Land der Freiheit, in der erst die Schuld gedeiht. Die Sentenz kommt mir insofern vor wie die windelweiche Relativierung eines Vorgangs, der ja eben nicht in die Ambivalenz mündete, sondern zu einem eindeutigen Ergebnis führte.

Melancholie unterm Regenbogen

Thursday, 15. September 2011

In den vergangenen Tagen habe ich meine Sammlung von Taschenbüchern aus der edition suhrkamp für die Angebotsliste meines Versandantiquariats erfasst. Der Anschaffungszeitraum reicht von 1972 bis 1992. (Danach habe ich wohl auch noch das eine oder andere Bändchen dieser bunten Reihe erworben, doch stehen diese „jüngeren“ Bücher noch nicht zum Verkauf.)

Der geniale Einfall von Willy Fleckhaus, die Umschläge der ersten Taschenbücher im Suhrkamp-Verlag ohne Abbildungen zu gestalten, einfarbig und mit einer schlichten Linotype Garamond; und dass die Farben in der Zusammenschau aller Bände das gesamte Spektrum abbildeten – dieser Einfall hat sicher manchen Buchliebhaber dazu verführt, möglichst ausreichend viele dieser Bändchen zu erwerben, um daraus einen schönen Regenbogen ins Regal zaubern zu können. Nur die von Hannes Jähn gestalteten Taschenbücher der Sammlung Luchterhand kamen noch puristischer daher; und die erschienen erst sieben Jahre später. Alle anderen „pocket books“ in Deutschland, ob von Rowohlt, Fischer, Heyne, Ullstein oder Goldmann, imitierten ihre Vorbilder aus den angloamerikanischen Verlagen und gingen mit schreiend bunten Titelbildern auf Kundenfang.

Mit dem Erscheinen des ersten Bändchens in der edition suhrkamp, Bertolt Brechts Leben des Galilei, war das Taschenbuch 1964 endlich „stubenrein“ geworden. Anfangs wurden die Billigbücher mit solch reißerischen Reihennamen wie rororo von seriösen Buchhändlern ja noch boykottiert, wobei sich hinter dieser Hochnäsigkeit handfeste wirtschaftliche Bedenken verbargen. Die Sortimenter der 1950er-Jahre fürchteten nämlich, das wachsende Angebot billiger Taschenbücher würde bald die Preise für „richtige“ Bücher kaputt machen. Aber auch von den typischen Taschenbuchpreisen, die immer auf 80 Pfennig endeten, grenzte sich Suhrkamp bewusst mit runden D-Mark-Preisen ab. In der gleichen Zeit warb Reemtsma für seine Zigarettenmarke Atika mit dem Slogan: „Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben.“ Ich müsste mich sehr irren, wenn diese Glimmstängel nicht auch einen glatten Preis gehabt hätten. (In den 1960er-Jahren kostete eine Schachtel mit 21 Zigaretten der Marke HB 1,90 DM.)

Was waren das also für besondere Geschmäcker, die diese Taschenbücher bevorzugten? Schüler der Frankfurter Schule, bewegte Studenten, Intellektuelle, Sozialkritiker, Fortschrittliche, Experimentierer, Alternative.

Indem ich nun jeden einzelnen dieser 115 Bände in die Hand genommen und mehr oder weniger gründlich inspiziert habe, musste ich feststellen, dass ich mich an die meisten kaum mehr erinnern konnte. Woraus hatte sich der Kaufimpuls genährt? Warum interessierte ich mich beispielsweise für Sozialistische Realismuskonzeptionen, nachvollziehbar gemacht durch „Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller“? Das scheint auf den ersten Griff völlig unerfindlich. Schlage ich das Buch aber auf, entdecke ich eine hoffnungsvolle Rede von Ernst Toller, gehalten am 28. August 1934 in Moskau. Keine fünf Jahre später erhängte er sich in New York. Auch ein langer Bericht von Klaus Mann ist hier abgedruckt, voller Optimismus noch. Doch, es könnte lohnend sein, sich diese Dokumente einmal genauer anzuschauen. Jetzt stelle ich sie für 6,50 Euro beim ZVAB online; es ist ja kaum wahrscheinlich, dass sie einen Liebhaber finden.

Heinrich Funke: Das Testament (XXIV)

Wednesday, 14. September 2011

Vor einem Vierteljahrhundert erschien im Kölner DuMont-Verlag ein Büchlein mit tausendachtzig Antworten auf die Frage: Was ist Kunst? Ob darunter eine Kunstdefinition zu finden ist, die dem heutigen Satz des Tages nahekommt, weiß ich nicht.

Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff hat mir sehr gefallen, schon als angemessene Reaktion auf das Spießerlamento jener Zeit angesichts abstrakter oder sonstwie nicht ins vorgefasste Bild passender Kunst: „Das ist doch keine Kunst!“ – Nein, Kunst kommt nicht von können; wenn schon, dann von gönnen. (Also müsste sie richtiger Gunst heißen.)

„Kunst ist die Wahrnehmung von Gestalt durch Schaffen von Gestalt“. Hier wird also Kunst als Tätigkeit aufgefasst – wahrnehmen, schaffen – und nicht als Objekt: als entstehendes oder fertiges Kunstwerk. (Nebenbei: Ob die Inkonsequenz der Begriffsbildung hier einer Absicht folgt? Man erwartet doch als „passende“ Begriffspaare entweder Wahrnehmung / Schöpfung oder Wahrnehmen / Schaffen. Aber so?)

Zu fragen wäre, ob es einen Unterschied zwischen Gestalt und Form gibt? Ob das Ungestalte sich der Kunstwerdung per definitionem verweigert? Und fragwürdig scheint mir zudem, ob man nicht gerade diesem freisinnigen Wörtchen Kunst das triste Definiertwerden einmal ersparen darf?

Offenbar nicht. In der zweiten Auflage des besagten DuMont-Büchleins waren weitere dreihundertachtzig Antworten auf die Frage Was ist Kunst? hinzugekommen.

Schreibzwang

Sunday, 04. September 2011

Manchmal stoße ich bei der Durchsicht älterer Postings auf Einfälle, die mir längst entfallen sind, dessen ungeachtet aber wert, aufgehoben und daraufhin geprüft zu werden, ob sich mit ihnen nicht noch etwas machen ließe. So begegnete mir heute in einem meiner allerersten Beiträge zu diesem Weblog das formale Konzept, alle fünf Absätze jeweils mit einem Temporaladverb anheben zu lassen.

Oft muss ich feststellen, dass die inhaltliche Substanz meiner Artikel zu wünschen übrig lässt; oder dass deren Anlässe zu zeitbezogen waren, um eine dauerhafte Aufbewahrung, gar öffentliche Zurschaustellung zu rechtfertigen. Vielfach sind Links verödet. Häufig verstehe ich selbst nicht mehr ganz, was ich eigentlich mit dieser oder jener Anspielung gemeint habe.

Selten bin ich wirklich begeistert von meinem eigenen Geschreibsel, aber dann kommt es mir regelmäßig so vor, als sei es nicht von mir.

Immer finde ich mindestens ein paar Kleinigkeiten, die ich polieren oder verfeinern, verdeutlichen oder entschärfen muss. Dabei fühle ich mich wie ein Betrüger und zudem wie ein Pedant. Warum fällt es mir so schwer, zu meinen Schwächen zu stehen? Und riskiere ich mit diesem Perfektionismus nicht, meinem persönlichen Stil die Seele auszutreiben?

Nie bezweifle ich hingegen, dass alternativlos ist, was ich hier mache: Ich kann nichts andres und ich kann ’s nicht anders.