Archive for March, 2010

Erstlesealter (II)

Wednesday, 31. March 2010

dasroteu

Als im Zeichen des Krebses Geborener des Jahrgangs ’56 war ich zur Einschulung Ostern 1962 noch nicht alte genug. Aber längst war ich begierig darauf, das Lesen zu lernen, damit ich endlich unabhängig würde von meinen Vorlesern, den Eltern und der Großmutter. Anfangs hielt mein Vater dem Drängen noch stand und erbat sich Geduld, denn es hieß nicht ganz zu Unrecht, dass es riskant sei, den Kleinen vor der Einschulung zu viel beizubringen, denn sie könnten sich dann im Unterricht leicht langweilen. Schließlich gab er doch nach und zeichnete eine Tabelle. In der linken Spalte standen in seiner gestochen scharfen Technikerschrift die Druckbuchstaben in der großen und kleinen Version, in der rechten Spalte daneben ein Gegenstand, der mit dem betreffenden Buchstaben anfing: A für Apfel, B für Birne und so weiter bis Z wie Zigarette.

Zunächst kam ich nur quälend langsam voran, aber dann ging es immer besser. Und ehe ich mich’s versah, las ich einfache Texte wie die Bildunterschriften in den beiden dicken Wilhelm-Busch-Bänden nahezu so schnell wie ein Großer, wenngleich mir manches „schwere Wort“ doch noch ein Rätsel blieb.

Wohl zu meinem achten Geburtstag 1964 schenkte mir mein Vater dann meinen ersten richtigen Roman. Es war ein Jugendbuch von Wilhelm Matthießen (1891-1965) mit einem geheimnisvollen Bild auf dem Einband und dem nicht minder geheimnisvollen Titel Das Rote U. Er selbst habe dieses Buch als Junge gelesen und sehr spannend gefunden – und jetzt sei er gespannt, wie es mir wohl gefiele.

Inzwischen weiß ich, dass gerade im besagten Jahr eine überarbeitete Neuauflage dieses Jugendbuch-Klassikers erschienen war, mit neuen, zeitgemäßeren Textzeichnungen von Irene Schreiber. Das Rote U erschien zuerst 1932 im Hermann Schaffstein Verlag in Köln, damals und bis zum 117. Tausend mit dem Titelbild und den Textzeichnungen von Fritz Loehr. Insbesondere die Kleidung auf diesen Bildern, die Schiebermützen und die knielangen Jungenhosen, aber auch die Formen der Autokarosserien und ein Polizist mit Helm entsprachen nicht mehr der Wirklichkeit Anfang der 1960er-Jahre. Anlässlich der Neuausgabe wird der Verlag für das Buch geworben haben, mein Vater erinnerte sich an seine Jugendlektüre – und so fand Das Rote U den Weg in mein Kinderzimmer. Ich war ebenso hingerissen von der Geschichte wie die abertausend Kinder in den dreißig Jahren zuvor. Und die Pointe, dass ausgerechnet der von allen verachtete Klassenprimus Ühl sich hinter dem geheimnisvollen Roten U verbarg, war sozusagen das Ü-Tüpfelchen dieses Krimis.

Dass sich hinter dem Verfasser dieses wunderbaren Lesevergnügens allerdings ein übler Nazi verbarg, ein überzeugter Antisemit und Kirchenhasser, Verfasser solcher Hetzschriften wie Israels Ritualmord an den Völkern und Der zurückbeschnittene Moses (beide 1939), das habe ich erst viel später erfahren und mein Vater wusste es vermutlich auch nicht. Natürlich ist Das Rote U immer noch ein stiller Bestseller, längst auch als Taschenbuch bei DTV verfügbar. Dass auf der Website dieses seriösen Verlages in der ausführlichen Vita die politischen Abwege des Wilhelm Matthießen mit keiner Silbe erwähnt werden, ist schon einigermaßen erstaunlich. Noch kurioser finde ich es aber, dass auf der Website des Schaffstein Verlages Matthießen zwar als einer von sechs Jugendbuch-Autoren aufgelistet wird. Klickt man aber seinen Namen an, so erscheint die Auskunft: „Sie sind nicht berechtigt, diesen Bereich zu sehen. – Sie müssen sich anmelden.“ Wie das mit dem Anmelden funktionieren soll, bleibt aber ein Rätsel. So fordert der allererste Krimi meiner Kindertage mehr als vier Jahrzehnte später erneut meine Neugier und meinen Spürsinn heraus. Wie überaus spannend!

[Zur ersten Folge dieser Serie geht es hier.]

Ich werde immer daran denken

Wednesday, 31. March 2010

timmulrichs

Gestern noch, bei einem weiteren Besuch im Folkwang-Museum, fiel mein Blick vom neuen Eingangsportal über die Alfredstraße auf die zehn paarweise angeordneten Säulen in der kleinen Grünanlage neben dem Glückaufaus, deren Profile im schrägen Anschnitt gleich viele Buchstaben erkennen lassen: vier U, vier M, ein R, ein A. Diese unscheinbare Skulptur steht hier, fast versteckt oder immerhin doch gut getarnt, seit bald zwanzig Jahren. Hätte ich nicht aus verschiedenen Gründen ein besonderes Verhältnis zu ihr und ihrem Schöpfer, dann hätte ich sie auch gestern kaum wahrgenommen. Und selbst mir fiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf, dass die Buchstabenflächen auf den sechs kleineren Säulen heller sind als die auf den hohen. Aus der Distanz von mehr als hundert Metern glaubte ich zunächst, dass dieser Eindruck bloß durch einen zufälligen Schattenfall hervorgerufen worden sei. Oder ist dieser farbliche Unterschied vielmehr auf Witterungseinflüsse zurückzuführen?

Gerade lese ich zufällig in der Zeitung, dass Timm Ulrichs, von dem diese Umraum betitelte Skulptur stammt, heute seinen 70. Geburtstag feiert. Meine erste persönliche Begegnung mit diesem Künstler hätte um ein Haar am Nikolaustag 1972 stattgefunden, denn da trat Ulrichs im großen Saal des Folkwang-Museums auf, im Rahmen der legendären Veranstaltungsreihe Selbstdarstellung, die der damalige Geschäftsführer des Kunstrings Folkwang ins Leben gerufen hatte. Mich hatte wohl wieder einmal ein Migräneanfall aus der Bahn geworfen – und so entging mir dieses Ereignis, von dem mir aber Freunde berichteten. Was ich verpasst hatte, wurde mir spätestens klar, als ich im Jahr darauf den Sammelband mit den Protokollen dieser Reihe in Händen hielt. (Selbstdarstellung. Künstler über sich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Düsseldorf, Droste, 1973; über Timm Ulrichs S. 199-222.)

An Timm Ulrichs bewunderte ich von Anfang an, bewundere ich bis heute dreierlei: erstens seinen Ideenreichtum; zweitens seine Sorgfalt und Konsequenz bei der Verwirklichung; und drittens seinen speziellen, in seinen besten Kunststücken geradezu ontologischen Humor.

Dass er zudem ein überaus kämpferischer, für seine Überzeugungen mit allen Kräften eintretender Haudegen sein kann, das erfuhr ich anlässlich einer Jurysitzung, die ich als Zaungast verfolgen durfte. Beinahe wäre es zu dieser persönlichen Begegnung, 27 Jahre nach der ersten verpassten Gelegenheit, auch wieder nicht gekommen, denn diesmal war Ulrichs krank, lief mit tropfender Nase die präsentierten Bewerbermappen ab und schnäuzte sich alle paar Minuten – nein, nicht in Taschentücher, sondern in Klopapier, das er von einer aus den Toiletten des Hauses stiebitzten Rolle abriss.

Bei der großen Veranstaltung aus Anlass von Werner Ruhnaus 85. Geburtstag im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier traf ich Timm Ulrichs dann am 14. April 2007 wieder, dort entstand auch das Titelfoto. Mit Ruhnau hat Ulrichs ja eins gemeinsam: Beide wollen in der Künstler-Nekropole Kassel beigesetzt werden. Für Timm Ulrichs war jede humane Lebensäußerung, vom Haarwuchs bis zur Sonnenbräune, Inspirationsquelle seiner künstlerischen Tätigkeit, warum sollte also sein Tod da eine Ausnahme machen? Ich frage mich allerdings, ob der Gedenkstein, den er bereits 1969 für seine Grabstelle angefertigt hat, durch die neueren Bestattungspläne seine „Gültigkeit“ verliert? Er trägt die Aufschrift: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Das Spiel mit Paradoxien war schon immer eins der Grundmotive der vergänglichen Kunst von Timm Ulrichs. Und ich werde darum gern immer daran denken, ihn zu vergessen. Aber noch lebt er ja, und hoffentlich lange, denn ich habe zurzeit verdammt viel anderes, das ich mit aller Gewalt vergessen muss.

Protected: Verwechslung (II)

Wednesday, 24. March 2010

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Selbstbeschreibung (II)

Tuesday, 23. March 2010

manuel

Ich bin nun zehn Jahre älter als mein Vater je geworden ist. Das ist eine einigermaßen befremdliche Vorstellung, denn streng genommen folgt ja aus ihr, dass ich nicht mehr zu einem so viel älteren, erfahreneren, weiseren Mann aufblicken müsste, als der er mir erinnerlich ist, wenn ihn eine Zauberhand etwa für einen Tag aus dem Paradies, in dem er unzweifelhaft jetzt wohnt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, in unser irdisches Jammertal zurückversetzen würde, sondern im Gegenteil ich diesem vergleichsweise jungen Spund die Welt erklären müsste, die sich in den seit seinem Tod vergangenen gut vierzig Jahren doch nicht wenig verändert hat.

In Sonderheit – welch schönes Wort! – seine Heimatstadt Essen würde ihn durch ihr vielfach gewandeltes Gesicht verblüffen und vielleicht auch erschrecken. Ich höre seine so liebe, so warme Stimme sagen: „Ach, das Hotel Essener Hof gibt es nicht mehr? Und was ist das da für eine Autounterführung vorm Ruhrkohlehaus? Hier stand doch früher die Stern-Brauerei, da roch es immer so unangenehm … und was ist das jetzt für ein Wolkenkratzer? Na, typisch, die Strommafia musste sich ja behaupten. Und diesen Gebäudekomplex nennt ihr also ,Rostlaube‘? Sehr passend. Das soll eine Universität sein? Da kann ich ja nur lachen. Ich jedenfalls würde da nicht studiert haben wollen. Und wo um alles in der Welt ist denn das schöne Althoff-Haus geblieben? Ach nee, Karstadt hieß das ja schon sechs Jahre lang, als ich so plötzlich abtauchen musste, oder besser: weggerissen wurde. Der Limbecker Platz ist jetzt also kein Platz mehr? Sondern ein untertunneltes Kaufzentrum? Sind die Essener den völlig verrückt geworden? Aber immerhin gibt es die Lichtburg ja noch. Gegenüber war Baedeker, wie heißt der Laden jetzt? Und sogar das Filmstudio neben dem Glückaufhaus ist noch da. In diesem Kino haben deine Mutter und ich, neun Monate vor deiner Geburt, den Film mit Spencer Tracy gesehen, von dem du deinen Vornamen hast: Manuel. Ach, lass uns doch mal zur Gruga fahren, wo deine Schwester auf der Rollschuhbahn ihre Kreise zog. Weißt du noch?“

Ja, ich weiß noch. Das war so laaangweilig! Ich bekomme schon Kopfschmerzen, wenn ich bloß daran denke. Und dieses Wehwehchen kann man ruhig Kotzschmerzen nennen, denn es drehte mir zuverlässig den Magen von zuunterst zuoberst. (Doch davon vielleicht später einmal.)

Nun mag man mich fraglos fragen können, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in Essen, sondern beispielsweise in Hannover groß geworden wäre. Und wenn ich nicht 1956, sondern 1856 oder 1556 erstmals das Licht der Welt erblickt hätte. Und wenn ich nicht als Bub, sondern als Mädchen und nicht bei armen Leuten, sondern in einem wohlhabenden Hausstand und nicht mit kaputten Füßen, sondern kerngesund und nicht als Leuchte, sondern als trübe Funzel unter die Menschen gekommen wäre. Statt als unangepasster Bürger der BRD als angepasster Bürger der DDR? Aber was änderte das schon groß?

Hier stehe ich also, gehe ich also – bin wie ich bin und kann nicht anders.

Nichts ist älter (II)

Monday, 22. March 2010

stapel

… als die Zeitung von gestern. Ich weiß: Das hatten wir schon. Nun müssen wir aber noch hinzulernen, dass nichts näher liegt als die alte Zeitung aus Wien, zum Beispiel, der Wirkungsstätte von Karl Kraus. Von meinem findigen Massmedia-Navigator Conrad Kurzleb habe ich gelernt, dass man sich nimmer auf die überregionale Mainstreamjournaille verlassen soll. Oft wachsen die bundschillerndsten Sumpfdotterblümchen gerade auf den Glatzen der Provinzredakteure. Und so machte ich mir schon vor Jahr und Tag, neben zahllosen weiteren Zuträgern, meinen gutmütigen Wiener Freund Osram Gleißner gefügig, der mich seitdem in unregelmäßigen Intervallen mit den nach seinem maßgeblichen Dafürhalten spritzigsten Artikeln aus dem Kurier seiner Heimatstadt versorgt. Die schafft er notfalls auch durch Eis und Schnee heran, denn Osram hat sich auf ein sog. „Trafik-Rabatt-Abo“ verpflichtet. Und zwar „klebenslang“, wie er sagt, „da ich nicht weiß, wie das Kündjen funzioniert.“ Ich will ihm dann raten, einfach Hugo Portisch zu fragen, der sei ja bekannt dafür, komplizierte Vorgänge einfach zu erklären. Aber dann beiße ich mir jeweilen flugs auf die Zunge. Ich wäre ja schön blöd, mir durch diesen Tipp meine unregelmäßigen Zeitungsschnitzelzusendungen aus Wien zu verscherzen.

Bei Licht besehen ist der Kurier ja auch längst nichts anderes mehr als ein Produkt aus der Palette des WAZ-Konzerns direkt vor meiner Haustür. Und „Palette“ sollte man in diesem Zusammenhang besser in Anführungszeichen setzen, denn das Farbspektrum der unter diesem Dach versammelten Blätter reicht gerade einmal von hellocker bis mattbeige; was aber andererseits nicht ausschließen muss, dass gelegentlich ein dort erscheinender Artikel einen ganz eigenwilligen Farbreiz entfalten kann. Um nun schneller als erwartet auf den Punkt zu kommen: Mein Held des Tages heißt Peter Pisa und ist Kulturredakteur beim Wiener Kurier. Er hat sich einfallen lassen, oder sein Vorgesetzter hat ihn dazu gezwungen, am 29. Januar des Jahres Sándor Márais kleinen Roman Befreiung zu besprechen, der (aus dem Ungarischen und aus dem Nachlass übersetzt von Christina Kunze) kurz zuvor bei Piper erschienen ist.

Was dabei herauskam, darf ich getrost als staunenswert bezeichnen, ganz unabhängig davon, ob Márais Buch, der Anlass dieser Rezension, nun wirklich wert war, veröffentlicht zu werden. Schon der Einstieg ist eine Wucht: „Budapest wartet. Worauf warten die Menschen? Auf den Tod? Oder auf das Leben?“ – Und nur wenige Zeilen später erfahren wir, wie die Geschichte ausgeht: „Erzsébet tritt auf die Straße, vorbei an einem toten Soldaten der Roten Armee. Der hatte sie im Keller vergewaltigt. Er wirkte gar nicht böse. Hatte er gedacht, im Krieg vergewaltigen zu müssen? Erzsébet sagt auf der Straße: ,Es scheint, ich bin frei.‘ Niemand antwortet.“ Ist die Geschichte, an der Sándor Márai nach Auskunft des Rezensenten „gewiss nicht viel gefeilt“ hat, nun wert, von uns gelesen zu werden? Das Manuskript verstaute der Ungar, der sich dessen vermutlich auch nicht so recht sicher war, tief in einer Truhe in San Diego, bevor er am 22. Februar 1989 seinem Leben ein Ende setzte. Können wir Nachgeborenen uns nun ganz unvorbelastet an diesem literarischen Fund delektieren? Nein, denn „um sich über diesen Fund freuen zu können, musste nur noch der Schriftsteller wiederentdeckt werden. Das geschah Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Roman Die Glut.

In aller Unschuld spricht hier der Kulturredakteur des Kurier aus, was wir längst schon ahnten. Hätte es nicht 1998 das große Trara um Márais Roman Die Glut gegeben, wohl eines seiner schwächeren Werke, mit knapper Not dem Kitsch entkommend, dann würden keine gierigen Verlagsagenten in muffige Truhen hinabtauchen, auf der Suche nach einem Kassenknüller à la Kreuzung aus Márais Glut und dem zeitnah 2003 in der „Anderen Bibliothek“ erschienenen Dokument Eine Frau in Berlin von der Anonyma.

Das größte Rätsel der hier rezensierten Rezension bleibt aber ihr Titel: Leiden macht niemanden besser. (Ich gestehe, ich las erst falsch Leiden macht niemand besser. Also im Sinne von: „Die Leiderei kriegt niemand besser hin als Sándor Márai, diese melancholische Trauerfunzel.“ Aber da habe ich Pisa nun wirklich einmal Unrecht getan.) Macht denn Leiden nicht im Gegenteil immer besser? Ich immerhin hoffe doch sehr, dass mich das Leiden an dieser Buchbesprechung wenigstens ein kleines Stück weit optimiert hat.

Protected: Popularität (II)

Sunday, 21. March 2010

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Pedifest (II)

Sunday, 21. March 2010

hurryup

[6] Wenn ich die fünf Punkte meines Pedifests vom November 2008 heute wieder lese, so muss ich schmunzeln über mein damals offenbar nicht nur ironisch gemeintes Vorhaben, mich mit einem solchen Kredo des „Selbsttransporttechnikverweigerers“ an die Spitze einer neuen politischen Avantgarde zu stellen. Es fehlte zur Vereinsmeierei dann ja nur noch die Ausgabe von Mitgliedsausweisen und die Bestellung eines Kassenwarts.

[7] Und wenn ich mich gedanklich zurückversetze in den Urzustand einer frühesten Euphorie durchs Schreiben, vermutlich also in mein sechzehntes Lebensjahr, dann verdankte ich auch damals schon diese Hochstimmung an der Schreibmaschine dem Abfassen von grundstürzenden, blutrünstigen, weltverbessernden Pamphleten, Unglaubensbekenntnissen, Manifesten.

[8] Der feine Nervenkitzel bei der Niederschrift, die zur jedesmaligen Übertreibung noch immer abgefeimterer Unverschämtheiten inspirierende Nickligkeit, die trotzige Gegenfrage auf den doch so billigen Einwand, dass ich mich mit meiner über jedes vernünftige Ziel hinausschießenden Radikalität außerhalb jeder sozialen Verträglichkeit stelle („Na, und?“), ohne darauf je eine plausible Antwort zu erhalten – das waren die prägenden Erfahrungen meiner Jugendzeit.

[9] Die hätten mich für die praktischeren Lebensertüchtigungen eines reiferen Erwachsenendaseins gänzlich unbrauchbar gemacht, wäre meinem lebensmüden Versagenskonzept (ich schrieb damals an einem provisorisch Scheiterhaufen betitelten Abgesang) nicht die Treffsicherheit meiner Abermillionen Spermatozoen und die Empfängnisbereitschaft von fünf Oocyten in die Quere gekommen. Der Rest war peripatetische Abgeklärtheit.

[10] Und dann? Dann verlässt unsereiner eben (oder gern auch uneben) die abgezirkelten Wandelhallen, die sich einem experimentierfreudigen Gespinsthirn über kurz oder lang freilich als Labyrinthe weit eher denn als Schubladensysteme offenbaren, um hinauszuschreiten in eine yottabytebreite und -hohe und -tiefe Webspaceweite, die einen Anfang vor einer Adler nicht kennt, wohl aber ein Ende im Zufall.

Findling (II)

Saturday, 20. March 2010

platz2

Mein Bekenntnis zum Leben in dieser Unstadt namens „Revier“ gilt unverbrüchlich, trotz aller Anfeindungen selbst von Teilen meiner Nachkommenschaft, die mir verübeln, ihnen solch einen vermeintlich gesichts- und geschichtslosen Siedlungsraum zur Kulisse ihrer Kindheit und frühen Jugend aufgenötigt zu haben. Ich selbst fand es immer eher zweckdienlich, aus der Lokalität meiner Herkunft gerade keinen Stolz ableiten zu können. Die Städte, die hier zu einem großen Klumpatsch auf die hügelige Wald- und Wiesenlandschaft geschüttet wurden, gehen ineinander über und haben insofern nicht einmal eine Grenze. Wenn ich mit meinen Eltern Mitte der 1960er-Jahre aus dem Urlaub von der holländischen Nordseeküste heimkehrend in dieses Revier unter den grauen Himmel von Marxloh und Sterkrade abtauchte, dann wusste ich nie genau, ob ich nun noch in Oberhausen oder schon in Mülheim war.

So knüpfte sich mein Heimatgefühl immer schon einzig an den unmittelbaren Umkreis meiner jeweiligen Wohnstätten, Arbeitsplätze und Einkaufsgelegenheiten. Ich denke, man könnte mich in jede beliebige Stadt der Welt versetzen, ich würde es nirgends anders halten und mich nach einer Gewöhnungszeit von etwa einem halben Jahr dort heimisch fühlen. Und wozu soll denn übrigens auch sonst eine Stadtlandschaft gut sein, wenn nicht zur möglichst bequemen, möglichst unauffälligen Bereitstellung der fundamentalen Lebensgrundlagen? So wie ich im Traum nicht daran denke, meinen Schlafplatz in einem Museumssaal einzurichten, so wenig verlangt es mich danach, inmitten von Sehenswürdigkeiten beheimatet zu sein, die ohne Unterbrechung von einer Meute knipsender und juchzender Touristen heimgesucht werden. Venedig kann sehr kalt sein? Venedig markiert vielmehr schon lange den absoluten Minuspunkt sozialer Thermik.

Der Wartberg-Verlag in Gudensberg-Gleichen hat zwei erfolgreiche Buchreihen aufgelegt, die dem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen, sich im gleichförmigen Strom der Zeit und im konturlosen Einerlei ihrer lokalen Herkunft doch in einer individuellen Besonderheit wiedererkennen zu können. Auf dass ich mich in meinem zufällig vor bald 54 Jahren begonnenen irdischen Dasein nicht ganz so einsam fühle, bietet mir der Wartberg-Verlag den Band Wir vom Jahrgang 1956 – Kindheit und Jugend an. Und damit ich weiß, dass ich als Kind und Jugendlicher in meiner Heimatstadt nicht ganz so einsam war, wie ich mich zeitweise fühlte, gibt es aus dem gleichen Verlag das Büchlein Aufgewachsen in Essen in den 60er und 70er Jahren. In diesen beiden reich illustrierten Bänden wird mir zum Gesamtpreis von 25,80 € das lauwarme Gefühl einer Gemeinschaftlichkeit angetragen, die sich allerdings bei näherer Einlassung eher als Wechselbad erweist. Vielleicht rührt diese Ambivalenz ja aber auch bloß daher, dass ich eben kein „waschechter Essener“ bin wie Walter Wandtke, der Journalist und Autor letztbesagten Büchleins, der laut Klappentext seit 20 Jahren das Essener Stadtgeschehen beobachtet und mich mitnehmen will „auf eine authentische Reise durch die Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre“ in meiner Vaterstadt.

Wenn die persönliche Ursprungsstätte schon so gar nichts an außergewöhnlichen Besonderheiten aufzuweisen hat, dann müssen eben wohlfeile Wiedererkennungswerte über den Frust hinwegtrösten, aus einer Gegend zu stammen, die im internationalen Vergleich eher als No-Name-Produkt durchs Raster anspruchsvollerer Provenienzwettbewerbe fällt. „Essen – Die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt!“ So verspricht es uns Essenern der Wartberg-Verlag auf der Rückseite seines „Aufgewachsen-in-Essen“-Buchs. Aber der gleiche Slogan steht mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auch auf den übrigen Büchern der Reihe: „Aachen, Aschaffenburg, Bamberg, Bielefeld, Bochum, Bonn, Braunschweig, Bremen, Celle, Chemnitz, Darmstadt, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Freiburg, Fürth, Gelsenkirchen, Gera, Gießen, Göttingen, Halle, Hamburg, Hamm, Hannover, Heilbronn, Ingolstadt, Jena, Kaiserslautern, Karl-Marx-Stadt, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Köln, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Ludwigshafen, Lüneburg, Mainz, Mannheim, München, Münster, Neuss, Nürnberg, Ost-Berlin, Paderborn, Pforzheim, Regensburg, Rostock, Schwerin, Solingen, Ulm, Velbert, West-Berlin, Wiesbaden, Wolfenbüttel, Wuppertal und Würzburg – die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt.“

Mit gleichem Recht könnte man etwa auch sagen: Nichts ist gleichförmiger als die vermeintliche Differenz! Oder noch allgemeiner: Nichts ist trivialer als des Menschen sterbliches Streben nach Originalität.

[Titelbild: © Stadtbildstelle Essen, hier als Ausschnitt gescannt von dem besprochenen Band © Wartberg-Verlag.]

Aus der Mitte (II)

Saturday, 20. March 2010

bloodygolfballs

Marcus von Hochstengel schätzt diese verregneten Wochenenden im Spätwinter nicht sehr, wenn er einerseits die Schnauze voll hat vom Indoorgolfen, andererseits aber die Trainingsbedingungen unter freiem Himmel an Kneippsches Wassertreten erinnern und der Trolley alle nasenlang im Morast steckenbleibt. Zudem hat er schlecht geschlafen wegen dieser schwelenden Steuersache, die noch längst nicht ausgestanden ist. Jetzt ist schon von tausendeinhundert Verdächtigen die Rede, die die Fahnder einen nach dem anderen unter die Lupe nehmen wollen. Eigentlich vertraut er ja dem Rat seines in fiskalischen Angelegenheiten wesentlich beschlageneren Bruders. Max meint, dass er sich notfalls auf seine tragisch verunglückte Frau zurückziehen soll. Aber dass er so eine Strafe vermutlich abwehren kann, ist ja nur die eine Seite der Medaille und auch eine saftige Steuernachzahlung kein Zuckerschlecken.

Immerhin steigt von Hochstengels Laune, wenn ihm wieder einfällt, dass er die bald sechsjährige Tochter nun endlich in einer Privatschule bei Luzern hat unterbringen können. Das verwöhnte Blag hat ihm in den vergangenen Wochen wahrlich den allerletzten Nerv geraubt. Gerade jetzt wieder vernimmt sein feines Ohr, dass Naomi beim BattlefieldSpielen im Salon auf ihrem Laptop reihenweise Heckenschützen des Vietcong eliminiert.

Aber die pinkfarbenen Koffer seines halbverwaisten Töchterchens stehen gepackt in der Empfangshalle. Spätestens in einer Stunde müsste Kurt mit dem Wagen zurück von der Waschanlage kommen und ihn erlösen. Dann bräche der Chaffeur mit Naomi Richtung Schweiz auf. Marcus von Hochstengel konnte noch nie so recht glauben, dass sich Karoline diesen Wechselbalg tatsächlich bei ihm eingefangen hatte. Weder die Segelohren noch die engstehenden Augen kamen bei seinen gräflichen Ahnen vor. Und schon gar nicht hatte Naomi diese hässlichen Ausrutscher ihrer Physiognomie von ihrer unseligen Mutter geerbt. Deren tadelloses, nahezu berückend schönes Äußeres war ja schließlich der einzige Grund gewesen, warum er Karoline Dorffmann vor den Traualtar geführt hatte.

Von Hochstengel beschließt, sich die Zeit bis zu Kurts Rückkehr mit einer Trainingsstunde in seiner Fitnesshalle zu vertreiben. Hinter seiner Tischtennisplatte ist eine Ballwurfmaschine aufgebaut, die wahlweise Konterbälle, Unterschnittbälle, hohe Abwehrbälle und Topspins servieren kann, von soft bis superhart. Marcus geht in Abwehrstellung und legt den Schalter um. Er hat diesmal nicht den Hauch einer Chance.

Dass es Naomis Idee gewesen sein sollte, das Magazin der Wurfmaschine zur Abwechslung mal mit Golfbällen zu befüllen, das konnte sich der herbeigerufene Hausarzt „eigentlich nicht vorstellen“. Die Reise nach Luzern wurde angesichts dieses tragischen Unglücksfalls zunächst einmal abgesagt.

Habent sua fata libelli (II)

Friday, 19. March 2010

azorno

Dieser Tage ist Nr. 74 von Das Schreibheft erschienen, ein Heft zu Ehren der Lyrikerin und Alfabetkünstlerin Inger Christensen (1935-2009).

Meine erste Begegnung mit dem einzigartigen Werk der Dänin ereignete sich vor über dreißig Jahren. Weil mir damals nur sehr wenig Geld zur Verfügung stand, kaufte ich gern aus den Ramschkisten. Es erwies sich, dass dort oft Bücher angeschwemmt wurden, die für durchschnittliche Leser offenbar „zu schwierig“ waren. So kommt es, dass seit dem 24. Oktober 1979 der schmale Roman Azorno in meinem Regal steht. Statt 6,00 DM erwarb ich ihn für nur 2,95 DM. Die Übersetzung von Hanns Grössel aus dem Jahr 1972 ist die erste deutsche Buchausgabe von Christensen überhaupt und sollte es für lange sechzehn Jahre auch bleiben. Sie erschien in der avangardistischen „Reihe Fischer“, die 1970 mit Daniil Charms Fälle aufgemacht hatte. Die großen Verlage leisteten sich damals noch solche ambitionierten Extravaganzen. So gab es seit 1968 die quietschgelbe „Reihe Hanser“, seit 1970 die „Sammlung Luchterhand“ in ihren Klarsichtfolienumschlägen, seit 1972 in schrillem Pink „Das Neue Buch“ im Rowohlt-Verlag und so fort.

Der Pappeinband von Azorno in komplementärem Lila und Grün ist so grell gestaltet, dass es fast in den Augen schmerzt [s. Titelbild]. Über die Arbeit an diesem Roman von 1967 hat sich die Autorin 1986 in einem Gespräch mit Jan Kjærstad so geäußert: „Die ersten Seiten sind extrem langsam geschrieben. Sie haben sehr lange gelegen. Dann war der Rest des Buches plötzlich in drei Wochen fertig, mit verschlossener Tür, kein Unterschied zwischen Tag und Nacht, wieder und wieder dieselbe Schubert-Platte gespielt, fast in einer Stimmung wie der Welt abhanden gekommen.“ (Eine Kombination von der Welt und mir selbst. Jan Kjærstad im Gespräch mit Inger Christensen. A. d. Norw. v. Angelika Gundlach; in: Schreibheft Nr. 74, März 2010. Essen: Rigodon Verlag, 2010, S. 133.) – Aber welche Schubert-Platte denn?

Viel später, am 1. November 2003, las ich auf meiner neunundneunzigsten Literarischen Soiree aus Inger Christensens großem Gedicht das von 1969, das soeben im Verlag Kleinheinrich erstmals in deutscher Übersetzung, wiederum von Hanns Grössel, erschienen war. (Auf der Rückseite des deutschen Azorno-Bändchens war der dänische Titel Det übrigens provisorisch noch mit Es eingedeutscht worden.) Und neulich erst fischte ich wieder ein Romänchen von Christensen aus dem Ramsch, Das gemalte Zimmer, im Original erschienen 1976, zwanzig Jahre später dann in deutscher Übersetzung, überflüssig zu sagen von wem. Dafür zahlte ich 3,95 €, statt der ursprünglich verlangten 22,80 DM. Bücher haben nicht nur ihre wechselvollen Schicksale, sondern auch ihre wandelbaren Preise.

Und so lautet der vorletzte Satz von Azorno: „Als der Park zugemacht werden sollte und der Springbrunnen zusammensank, so daß die Wasseroberfläche ruhig wurde, entstand einen Augenblick Stille, alles wurde still, doch nie völlig still, da das Geräusch der Bewegungen von den vielen Menschen rasch zunahm, da das Geräusch all dessen, was ich geschrieben hatte, rasch zunahm und meiner Erlebnisfreiheit Grenzen setzte, aber in der Stille dieses Augenblicks standen wir auf, hörte ich die ganze Zeit Batsebas Atem und küßte sie, in diesem Augenblick, als wir einander küßten, erlebten wir zum erstenmal in unserem Leben die milde Abendluft.“ (Azorno, a. a. O., S. 97.)

Heute (II)

Thursday, 18. March 2010

pflastersteine

Heute sind 617 Tage nach Heute (I) vergangen, rund zwanzig Monate und zweieinhalb Wochen, oder etwas weniger als ein 32stel (schreibt man orthografisch richtig so?) meines bisherigen Lebens. Vor ein paar Tagen hielt ich noch für möglich, dass meine Tage gezählt sein könnten: Blut im Urin! Nach allerlei mehr oder weniger unangenehmen, mehr oder weniger interessanten Inspektionen meines Urogenitaltrakts beim Facharzt weiß ich nun: Meine Nieren sind bis auf ein paar harmlose Zysten ohne Befund, meine Prostata ist für mein Alter eher ungewöhnlich klein, meine Harnblase zeigt nicht die Spur einer gut- oder gar bösartigen Geschwulst. Für das Blut gibt es also keine rechte Erklärung, was ich einerseits beruhigend, aber andererseits doch auch nicht restlos zufriedenstellend finde. Wäre ich ein Tier, würde ich vermutlich an meiner blassrot gefärbten Pisse geschnuppert haben, leicht irritiert, um dann zur Tagesordnung überzugehen, etwas verstört für den Moment, sorglos für den Rest meiner Tage. Da ich aber ein Mensch bin, malte ich mir aus, wie schrecklich meine verbleibende, kurze Zukunft nun werden könnte, nachdem ich die niederschmetternde Diagnose erfahren haben würde: unmittelbar bevorstehendes Nierenversagen oder Prostatitis oder Blasenkrebs oder alles zusammen oder von jedem etwas, jedenfalls nur noch ein stetiges Abwärts ohne Hoffnung. Das ist nun mal die hässliche Kehrseite der Medaille, in deren Vorderseite ich die schöne Welt spiegeln kann, als ein beliebiges Exemplar des ersten vernunft- und phantasiebegabten Hirntiers auf Terra, mit der Begabung zum sprach- und schriftlichen Ausdruck. Pling!

Heute nutzte ich das erstmals frünglingshafte Wetter, das mir im Fall einer bitteren Diagnose sicher wie der blanke Hohn erschienen wäre, nun aber meine ohnedies gute Laune noch um einen weiteren Hub liftete, zu einer kleinen Exkursion mit Lola in den Wald und an den Bach, wo ich zahlreiche Fotos machte und dabei schon im Voraus litt, weil ich wusste, dass es schwer werden würde, mich für eins von ihnen zu entscheiden, als Titelbild für diesen Artikel über heute, den 18. März 2010. Anschließend schoss ich mich aus dem Grünen ins Graue, mitten hinein in die europäische Kulturmetropole des Jahres, die City von Essen, und dort zunächst in die Stadtbibliothek im Gildehofcenter, wo ich Bücher über Joseph Roth und Jan Vermeer zurückgab und jeweils zwei Bände aus der Robert-Walser- bzw. Hermann-Broch-Werkausgabe auslieh; dann in die Buchhandlung proust dicht nahebei, wo ich das vorbestellte und druckfrisch eingetroffene Buch Verirren von Kathrin Passig und Aleks Scholz abholte und mit der geistreichsten Buchhändlerin Westdeutschlands ein Pläuschchen hielt: über die Leipziger Buchmesse, die heute eröffnet; über Lenka Reinerová (1916-2008), die letzte Prager Autorin deutscher Sprache, die im stolzen Alter von 90 Jahren als „Jahrhundert-Zeugin“ neben Johannes Heesters und anderen Urgesteinen 2007 zur Buchmesse in Leipzig aufgetreten war, der einzigen, die Beate Scherzer bisher besucht hat, wobei Reinerová klargestellt habe, dass sie mitnichten die letzte noch lebende Zeitzeugin sei, die Franz Kafka (1883-1924) noch erlebt habe, wie aus den Lebensdaten beider doch unmittelbar erhelle, was so nicht ganz stimmt, denn die achtjährige Reinerová hätte durchaus an den vierzigjährigen Kafka noch eine Erinnerung bewahrt haben können. Knirsch!

Heute überschlugen sich wieder einmal die Ereignisse in meiner weitverzweigten Familie, aber das gehört nun einmal nicht hierher. Wenn ich davon berichten und darüber schreiben dürfte, wäre dieses Weblog vermutlich noch um einiges wertvoller als Zeugnis der Zeit. Klatsch!

Heute meldet die Zeitung vom Tage mir leider nichts, denn sie wurde mir nicht zugestellt. Oder, wenn sie mir zugestellt wurde, dann erreichte sie mich immerhin nicht. Jedenfalls fand ich sie nicht vor im Briefkasten neben der Haustür, noch im zusätzlich angebrachten Briefkasten im Carport der Vermieterin neben dem Haus. Und nachdem ich bei einer stark verschnupften Call-Center-Mitarbeiterin das Ausbleiben meiner Süddeutschen Zeitung reklamiert hatte, die mir deren Nachlieferung fest zusicherte, warte ich jetzt um vier Uhr nachmittags immer noch auf deren Eintreffen. Ob dies nun an der mangelhaften Zustellung liegt oder anderer Erklärungen bedarf, das weiß ich noch nicht, aber ich werde es zweifellos herausbekommen, denn meine Neugier ist ebenso phantasievoll wie hartnäckig. Immerhin versorgt mich die SZ ja auch online mit den wichtigsten Nachrichten vom Tage. Vielleicht sollte ich die monatlichen 43,90 € doch künftig einsparen? Raschel!

Heute werde ich in Robert Walsers Prosa aus der Berliner, Bieler und Berner Zeit stöbern, ein weiteres Mal mit Lola in den Wald gehen, dazu überirdisch schöne Musik hören, mit meinem jüngsten Sohn Tortellini a la Manuele essen und dann … Seufz!

Lichtblicke (II)

Wednesday, 17. March 2010

lichtblick

Hier stehe ich nun erstmals im Dunklen. So schön ich meinen Artikel vom Juli 2008 über die schlampige Simenon-Übersetzerin (1990) und den in diesem Einzelfall nicht minder schlampigen ZEIT-Kolumnisten (Januar 2008) immer noch finde – und so sehr es mich nach wie vor tröstet, dass mir immerhin ein vereinzelter elmore, und nun wohl für alle Ewigkeit, in meiner Indignation Gesellschaft leistet: Welche Fortsetzung ist zu diesem Klageschrei denkbar, der in einen klitzespitzen Juchzer mündete?

Die von mir dort monierten Zersetzungserscheinungen der Sprache in den Weblogs: das haarsträubende Kauderwelsch der dumpf schmatzenden, glucksend delirierenden Analphabeten aus der zweiten Reihe, das Gestotter und Gestammel, Gemecker und Gemümmel unberufener Tastenschinder – all diese zum Himmel stinkenden Unerfreulichkeiten, die den Ehrentitel „Satz“ nicht verdienen, haben sich erwartungsgemäß unterdessen noch immer weiter aufgesteilt. Man schaut nicht mehr drüber über diesen Mount Unflat, halb aus Nichtwollen, halb aus Nichtkönnen geschissen und geschmiert.

Lichtblicke? Einen Karl Kraus der Blogosphäre habe ich noch nicht entdeckt – was aber nicht viel heißen muss, denn der weltweite Netzraum von heute ist nicht annähernd so überschaubar wie der Zeitungsmarkt der österreichischen k. u. k. Monarchie vor hundert Jahren. Ich bin schon froh, wenn ich gelegentlich Weblogs aufspüre, die wenigstens die Standards der besseren Printmedien erfüllen, was Orthografie und Interpunktion, Grammatik und Syntax, Wortwahl und Stil betrifft – und die stammen dann leider meist von Nischennistern, Nerds und Geeks, deren Anliegen ich für so randständig halte, dass mich ihr rechtschaffenes Bestreben kaum mit dem sonstigen Tiefstand der Blogsprache versöhnen kann.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden, und so will ich diese Rubrik vorläufig am Köcheln halten. Nach einem Winter, den selbst ich – der die meteorologischen Laiendiskurse meiner Mitmenschen an den Unterstellhäuschen der öffentlichen Personennahverkehrsmittel als ununterbietbar sinnfreien Neodadaismus erleidet und in Zeiten, da sich das Klima wandelt, Wettermäkeleien geschmacklos nennt – zuletzt doch als reichlich nervtötend empfand, passt es zudem sehr gut zum ersten frühlingshaften Tag des Jahres und seinen auf die Mauern der Stadt gespritzen Sonnenflecken, wenn ich die Hoffnung auf Lichtblicke auch in virtuellen Sphären, wenigstens für ein Weilchen noch … wachhalte.

Und einen ganz kleinen literarischen Lichtblick möchte ich zum Abschluss dieser Überbrückungshilfe doch noch beisteuern, wenngleich nicht aus einem Blog, sondern ganz konventionell aus einem Buch. Ich habe unterdessen entdeckt, dass besagter ZEIT-Kolumnist schon früher einmal über Georges Simenon geschrieben hat, über dessen Roman Betty, dann auch über Die grünen Fensterläden, was wohl seine bzw. seines Kumpanen Claus Philipp Lieblingsromane von diesem Autor sind. (Tod eines Schauspielers; in Franz Schuh: Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006, S. 170-179.) Soll ich es nun Zufall oder Vorsehung nennen, dass Schuh gerade in diesem Stückle auf die Rolle des Übersetzers zu sprechen kommt? Er zitiert zunächst eine Passage über den Nerz, den Bettys Gatte seiner Frau spendiert, um dann anzumerken: „Simenons Pelzmantelsatz, übersetzt von Raymond Regh, macht winke, winke mit dem Zaunpfahl.“ Lichttupfer auf einem Zaun habe ich fürs Titelbild leider nicht herzaubern können. Stattdessen liefere ich immerhin den Lichteinbruch ins Schlafzimmer meiner Mutter vor der Wohnungsauflösung.

Wälzer (II)

Tuesday, 16. March 2010

waelzer

Erst vor ein paar Tagen habe ich mir im Rahmen einer Lesertypologie die Frage gestellt, woran es liegen mag, wenn Leser es nicht übers Herz bringen, ein einmal gekauftes und „angefangenes“ Buch vor der Zeit aus der Hand zu legen, es vielmehr bis zur letzten Seite auslesen, es sich bis zum bitteren Ende einer womöglich längst schon geahnten Enttäuschung einverleiben müssen. Am Geiz? Ich finde es, bei aller Scheu vor übereilten Verallgemeinerungen, in diesem Zusammenhang interessant anzumerken, dass nach meiner langjährigen sorgfältigen Beobachtung die Liebhaber dicker Bücher bei den zwanghaften „Auslesern“ überrepräsentiert sind.

Was ich völlig vergessen hatte und heute nur dank der selbstverordneten Revision älterer Blogbeiträge entdecke: Ich habe mich, was den bevorzugten Umfang des Lesestoffs angeht, hier vor Jahr und Tag schon einmal geäußert. Aber wie falsch, wie unwahr, oder mindestens doch: wie ungenau waren meine seinerzeitigen Ausführungen! Diesen Artikel würde ich am liebsten löschen, aber ich will ja zu meinen Schwächen und Fehlern stehen. Fast kommt es mir so vor, als würde man den Büchern, wollte man sie zuallererst nach dicken und dünnen unterscheiden, ähnliches Unrecht tun, als bewertete man Menschen nach ihrem Kontostand.

Ob mein Entschluss, Pynchons Against the Day in der deutschen Übersetzung gründlich zu lesen und zudem noch in meinem Weblog ausführlich zu kommentieren, ursprünglich aus diesem schwächelnden Artikel Wälzer (I) resultierte, wie das negative Ergebnis einer arithmetischen Gleichung? Ich fürchte es fast. Bekanntlich kam dieses bestenfalls manierierte, schlimmstenfalls hirnverbrannte Vorhaben vor fast einem Jahr zum Stillstand. Was wäre wohl daraus geworden, hätte ich mich stattdessen für die Exegese von Jonathan Littells Die Wohlgesinnten entschieden? Wir wissen es nicht und werden es nie erfahren.

Beide Bücher verstauben nun in meinen Regalen. Längst haben die emsigen Verlagsmaschinerien wieder eine Vielzahl dicker Romane in die Buchhandlungen geklotzt. Und wieder war ich hin- und hergerissen [s. Titelbild]. Soll ich mir nun das Haupt- und Lebenswerk von David Foster Wallace (1962-2008) gönnen, die endlich erschienene Übersetzung von Infinite Jest? Schließlich hatte ich ja anlässlich seines Todes von eigener Hand den bisher einzigen Nekrolog in diesem Weblog erscheinen lassen. Oder soll ich mich auf 2666 einlassen, das Meisterwerk des Chilenen Roberto Bolaño (1953-2003)?

Wie schon bei Pynchon und Littell zähle ich mal wieder die Wörter. Für Bolaño komme ich auf 390.000 und für Wallace (die „Anmerkungen und Errata“ mitgerechnet) auf 520.000 Wörter. Für Unendlicher Spaß spricht, dass ich hier das amerikanische Original immerhin zum Vergleich heranziehen kann; und tatsächlich habe ich mir schon im Januar vorigen Jahres, perfektionistisch wie ich bin, die Paperback-Ausgabe von Little, Brown and Company zugelegt. Für 2666 hingegen lässt sich anführen, dass mich dessen erstes Kapitel (von insgesamt fünf) bereits in einer Leseprobe erreicht und aufs Höchlichste entzückt hat. Wieder einmal eine schwere Entscheidung. Eins steht aber jetzt schon fest: Zu solch einem mikroskopischen Leseprotokoll wie bei Pynchons Gegen den Tag lasse ich mich nicht noch einmal verführen. Und sollte ich gar beider Bücher nach hundert Seiten überdrüssig werden, hindert mich nichts, sie in die staubige Stubenecke zu pfeffern. Fort mit Schaden! Nichts ist unersetzlicher als die über dürftiger Lektüre verschwendete Zeit.

Dieda (II)

Monday, 15. March 2010

selection

Die fatalen Generalisierungen – die Spießer, die Großkopferten, die Proleten, die Türken, die Glatzen, die Amis, die Muchels, die Männer, die Juden, die Ärzte etc. ad lib. et inf. – waren Angriffspunkt und Zweifelsfall meiner Zeitkritik im Juni 2008, als ich nur halb im Scherz auf der Suche nach der Wurzel allen Übels die gleichmacherische Begriffsbildung als möglichen Hauptübeltäter dingfest machen wollte. Wer mit vager Geste am gemütlichen Biertisch meint, „Dieda!“ in einen Topf werfen zu dürfen, der ist unter ungemütlicheren Umständen auch bereit, „Dieda!“ mit präzisem Fingerzeig ins Gas zu schicken [s. Titelbild, Selektion an der Rampe in Birkenau].

Dass dergleichen schreckliche Vereinfachungen und Vereinheitlichungen im Umgang mit den Mitmenschen überhaupt in Betracht kommen können, um dann eine für viele verführerisch bequeme Denkgewohnheit zu werden, setzt eine Hypertrophie der menschlichen Gemeinwesen voraus, ist eine Folge der Verstädterung. Wo man sich nicht mehr mit Namen kennt; wo man das passierende Gegenüber nurmehr im Ausnahmefall grüßt; wo das Erscheinungsbild der anderen im öffentlichen Raum das von anonymen Fremden ist – da bedarf es zur Orientierung eben solch grobschlächtiger Zusammenfassungen der wimmelnden Individuen unter beliebiges Akzidentia.

Der Begriff der Masse drängt sich hier in den Vordergrund. Wann immer ich mich diesem Begriff nähere, beschleicht mich das schlechte Gewissen, Elias Canettis theoretisches Hauptwerk Masse und Macht (1960) immer noch nicht gelesen zu haben. Seit fast dreißig Jahren steht dieses Buch in meinem Regal, sogar in einem vom Autor im Oktober 1973 signierten Exemplar. Vermutlich hat mir Canetti mit den Ausführungen über dessen Entstehungsgeschichte in seiner Autobiographie so viel Respekt eingeflößt, dass ich mich an diesen spröden Brocken nicht mehr wohlgemut herantraue. Zudem wären ja auch die anderen Klassiker zum Thema „Masse“ – von Gustave Le Bon (1895), Siegfried Kracauer (1927), José Ortega y Gasset (1930), Hermann Broch (1948) und David Riesman (1950) – noch einmal vorzunehmen und im Hinblick darauf abzuklopfen, ob sie für meine Fragestellung etwas hergeben: „In welchem Verhältnis steht das neuzeitliche Phänomen der Masse und dessen Wahrnehmung durch das Individuum zu des letzteren Bereitschaft, andere Individuen ihrer Einzigartigkeit zu entledigen und sie anonymisierend, typisierend und schließlich generalisierend diffusen Gruppen zuzuschlagen?“

Was für ein vertracktes Wort „Masse“ im Sprachgebrauch über das Soziale ist, das hat mir jüngst noch H. G. Adler deutlich gemacht, bei dem ich las: „Der Nationalsozialismus verwandelte den Menschen aus einer zur Autonomie berufenen und berufbaren Persönlichkeit bedenkenlos in einen behandelten Gegenstand. Darin war die nationalsozialistische Herrscherklasse unbedingte Anhängerin ihrer materialistisch denkenden und empfindenden Zeit, die schon vorher und auch außerhalb dieses Machtbereiches von Menschen und Völkern mit einem pseudokollektivistischen Ausdruck als von ,Masse‘ zu reden wagte. Das Phänomen ,Masse‘ als eine beliebige Vielzahl von Menschen psychologisch zu untersuchen, müssen wir uns versagen, aber wir weisen darauf hin, daß in dem Augenblick, wenn man von Menschen als ,Masse‘ zu reden beginnt, das menschliche Bewußtsein gestört ist, mag auch der aktuelle Zustand des Menschen zulassen, sich als ,Masse‘ bezeichnen und behandeln zu lassen, während die gleichen Menschen gegen den viel weniger beleidigenden Ausdruck ,Vieh‘ sich sofort verwahren würden.“ (Das geistige Antlitz der Zwangsgemeinschaft; in: H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 121.) – Erstaunlich übrigens, dass im aktuellen Wikipedia-Artikel über „Masse (Soziologie)“ Wilhelm Reichs The Mass Psychology of Fascism (1933) keine Erwähnung findet.

Dass sich im Rassenwahn meiner Vorfahren die distanzierte „Zusammenfassung“ von Mitmenschen zum Zwecke ihrer Auslöschung vollzogen hat, also mit einer Konsequenz, die an Schrecklichkeit bisher nicht übertroffen wurde, nämlich bis zur Konzentration der Enteigneten im Lager und bis zum Hineinpressen der Entkleideten in die Kammern, das hat den Blick auf die dürftigen, scheinbar harmlosen Ursprünge des generalisierenden Taxierens leider nicht geschärft. Im Gegenteil! Wenn ich zwischen dem Holocaust und der Gleichmacherei der Rhetorik über die Hartz-IV-Empfänger, die Kinderlosen oder die Steuerbetrüger ad lib. et inf. einen Zusammenhang herstelle, dann ziehe ich mir leicht den Vorwurf zu, die Banalisierung des Bösen zu betreiben. Nichts liegt mir ferner.

Otto N. (II)

Sunday, 14. March 2010

footprint

Am 22. April 2008 schrieb ich unter der Titelzeile Otto N. (I): „Den nächsten Spiegel kaufe ich frühestens in 26 Wochen. Bis dahin werde ich regelmäßig montags, unter der Headline ,Otto N.‘, von der ganz individuellen, originellen, exzentrischen Auswertung dieser ,Mittelmäßigkeit‘ zehren können. Nur 13 €-Cent als Vorabinvestition für jeden dieser Blog-Beiträge – da kann ich doch wahrlich nicht meckern! – Danke, Spiegel!“

Das ist nun auch schon wieder fast zwei Jahre her. Ich habe keineswegs allwöchentlich 26 Montagsglossen zu meinen individuellen, vielleicht gar individualistischen Abweichungen von Otto Normalverbrauchs Verhaltensunauffälligkeiten verfasst. Statt hier mit Otto N. (XXVII) einen dann fälligen oder längst überfälligen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Normdeutschen zu ziehen, kehre ich nun erstmals wieder zu diesem im weiteren Sinn demoskopisch-statistischen Thema zurück. Und tatsächlich gibt es einen aktuellen Anlass, mich erneut mit den Schrecknissen der Normalität auseinanderzusetzen. Axel Hacke berichtet in seiner jüngsten Glosse Das Beste aus aller Welt über einen Test, dem er sich unterzogen hat: „Auf der Internetseite der Grünen Jugend Kreis Gütersloh habe ich meinen ökologischen Fußabdruck errechnet. Der ökologische Fußabdruck ist die Fläche, die ein einzelner Mensch benötigt, um auf der Erde leben zu können. Also: Ein durchschnittlicher Deutscher braucht für seinen Lebensstandard 4,8 Hektar, ein Inder aber nur 0,7. Ich musste Fragen nach meiner persönlichen Lebensführung beantworten, wie viel ich also Auto fahre, ob ich Energiesparlampen benutze, wie groß meine Wohnung ist, dann dauerte es ein paar Sekunden, Ergebnis: ,Zur Deckung deines Lebensstils benötigst du 5,1 Hektar … Würden alle Menschen leben wie du, bräuchte die Menschheit 2,7 Erden. Du liegst im Bereich des deutschen Durchschnitts, aber weit entfernt von einem nachhaltigen Lebensstil.‘“ (Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 10 v. 12. März 2010, S. 50.)

Warum Hacke ausgerechnet den Online-Rechner der Grünen Jugend Kreis Gütersloh gewählt hat, um die Größe seines ökologischen Fußabdrucks zu ermitteln, das bleibt rätselhaft. Vielleicht um der Originalität halber? Ich komme unter dieser Adresse nach Beantwortung der 33 teils reichlich befremdlichen Fragen auf einen Anspruch von 2,5 globalen Hektaren (gha), und es wären 1,3 Planeten erforderlich, wenn man Kants Kategorischen Imperativ auf meine Lebensführung übertragen würde.

Wesentlich seriöser erscheint mir z. B. der Footprint-Rechner des österreichischen Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. Dort werden die vier großen Lebensbereiche Wohnen, Ernährung, Mobilität und Konsum unterschieden und getrennt abgefragt. Im Gesamtergebnis komme ich diesmal auf 3,2 gha, wobei ich im Bereich Mobilität am besten abschneide (0,00 gha), immerhin noch unterdurchschnittliche Werte bei Wohnen und Ernährung erreiche (0,77 bzw. 0,81 gha) und lediglich beim Konsum über dem Durchschnitt liege (1,62 gha).

Dass ich aber bei aller vermeintlichen Beschränkung und radikalen Abweichung von der herrschenden Normalität dennoch einem Lebensstil fröne, zu dessen dauernder Befriedigung eine 1,8-fach größere Erde erförderlich wäre, wollten es mir alle 6,8 Milliarden Menschen auf der Welt gleichtun – das ist allerdings ernüchternd! Ich frage mich sogar, ob es unter den Existenzbedingungen einer deutschen Großstadt überhaupt möglich ist, meinen ökologischen Fußabdruck so weit zu reduzieren, dass er eins zu eins mit den maximalen Produktivitätskapazitäten unseres Globus zusammenpasst.

(I) ff.

Saturday, 13. March 2010

solitaersignal

Anlässlich der Titelrevision (und -amputation um die überflüssige Datumsangabe) musste ich feststellen, dass ich viele Male eine (I) hinter einen Titel gesetzt habe, ohne irgendwann eine (II) darauf folgen zu lassen. Offenbar versprach ich mir von dem angeschnittenen Thema noch weitere nahrhafte und appetitliche Tortenstücke. Doch drängten sich allzu bald andere Themen in den Vordergrund und ich vergaß, dass ich da eine Fortsetzung angekündigt hatte, die ich bis heute schuldig geblieben bin. Nun will ich die Gelegenheit ergreifen, diese zwei Dutzend Artikel daraufhin zu überprüfen, ob sich auch aus der Distanz eine Fortführung ihres jeweiligen Themas lohnt – oder ob ich sie als Solitäre stehenlassen und dann konsequent die Nummerierung (I) löschen soll.

Und dies sind die Überschriften der Auftaktartikel, die noch darauf warten, durch adäquate Nachfolger zu bloggologischen Sequels veredelt zu werden: Otto N., Dieda, Wälzer, Lichtblicke, Heute, Habent sua fata libelli, Aus der Mitte, Findling, Webstalking, Pedifest, Popularität, Nichts ist älter, Selbstbeschreibung, Verwechslung, Erstlesealter, Vorlesepein, Robinsontag, Homo immobilis, Blickweiten, Abwege, Texttraum, Q’s Gequatsche, Manchmal und Lesertypologie. – Na, bin ich nicht fleißig?

In den kommenden Tagen werde ich mir diese potenziellen Rohrkrepierer einen nach dem anderen vorknöpfen und auf ihre konkrete Welthaltigkeit und abstrakte Sinnhaftigkeit hin abklopfen. Erweist sich deren Aussage im Einzelfall als ideelle Eintagsfliege, dann wird ihr Zickzackflug augenblicklich abgeklatscht und stillgelegt. Trägt aber der Gedankenflug aus dem usprünglichen Einfall über den inspirierten Urmoment hinaus, dann wäre ich doch der Letzte, einem solchen Sebstläufer den nötigen Entfaltungsraum vorzuenthalten. Dann mögen (II) ff. sehen, wo sie ihren Weg und ihr Ziel finden.

An diesem Beispiel wird vielleicht besonders gut nachvollziehbar, warum ich das Weblog als schriftliche Ausdrucksform so reizvoll finde. Es gestattet mir als work in progress zu jedem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme alter Motive, fordert mich dazu heraus, mich immer wieder mit älteren Gedanken aus neuerer Sicht zu konfrontieren und sie fortzuspinnen, sooft sie über den Tag hinaus Lebenskraft behaupten.

Die Nummerierung – mal in Klammern, mal ohne, mal in römischen, mal in arabischen Zahlen – wurde bei Gelegenheit dieser Revision übrigens vereinheitlicht. Ab sofort sind Fortsetzungsartikel immer durch römische Zahlen in Klammern kenntlich gemacht. Und wenn meine Zeit es zulässt, werde ich demnächst am Ende jedes einzelnen Fortsetzungsartikels zu allen anderen Artikeln der Serie, älteren wie früheren, verlinken.

Titelrevision – und plötzlich ganz viel Raum

Thursday, 11. March 2010

arbeitsplatz

Eine kleine Bemerkung in eigener Sache. Aus Gründen, die mir mittlerweile selbst nicht mehr einleuchten, habe ich die Titel meiner Webartikel in diesem Blog von Anfang an so aufgebaut: Wochentag, Komma, Tagesdatum, Monatsname, Jahreszahl, Doppelpunkt, Titel, ggf. Nummerierung (in Klammern oder ohne, in römischen oder arabischen Zahlen).

Schon nach der ersten Veröffentlichung eines Beitrags am 25. März 2008 war mir klar, dass ich hier eine Redundanz produzierte, denn unter meinem Titel Dienstag, 25. März 2008: Netzschach steht in kleiner Schrift, vom System automatisch generiert, noch einmal: Dienstag, 25. März 2008. (Zumindest wenn man den Artikel im Archiv aufruft; aber auch in der aktuellen Ansicht wird das Publikationsdatum angezeigt, allerdings ohne den Wochentag.)

Manchmal neige ich leider zu „Sturness“, und so trotzte ich allen behutsamen Nachfragen besorgter Freunde, warum ich denn und ob ich nicht. Das sei doch eigentlich nicht nötig, das mit dem Datum zu Anfang des Titels. – „Schon gut, schon gut!“ So endeten für gewöhnlich vonseiten der banausischen Mäkler an den Existenzgrundlagen meines Blogs diese Dispute, und dessen über alle Zweifel erhabener Schöpfer zog sich in seinen Schmollwinkel zurück.

Die bitteren Folgen solcher Halsstarrigkeit bekam ich alle Tage (und besonders an den Donnerstagen im September = 19 Buchstaben + 1 Leerzeichen) zu spüren, wenn nämlich für meine Titel nur noch wenig Platz blieb in dieser einen Titelzeile. Das zwang mich zu einer geradezu asketischen Verknappung beim traurigen Rest meiner Überschriften, eine Not, die ich mir lange genug als Tugend verkaufte. Jetzt ist aber Schluss mit diesen Sperenzchen!

Ab sofort verzichte ich auf die Datumsangabe in der Titelzeile und streiche sie auch rückwirkend aus den mittlerweile 550 „alten“ Artikeln. (Das kann trotz der praktischen QuickEdit-Funktion bei WordPress ein paar Tage dauern.) Ab sofort darf ich also auch längere Titel verwenden! Dabei fühle ich mich etwa so, als hätte ich zwei Jahre lang mit einem Knebel im Mund sprechen müssen, der jetzt in seiner monströsen Überflüssigkeit vor mir auf dem Tisch liegt. Ich muss mich nun wohl bezähmen, die neu gewonnene Freiheit nicht über Gebühr zu strapazieren.

Lesertypologie (I)

Wednesday, 10. March 2010

typen

Menschenklassifikationen sind ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Es gibt teusendundein Kriterium der Klassifizierung, da sind der Phantasie des Menschensammlers wahrlich keine Grenzen gesetzt. Aus verständlichen Gründen interessiert mich besonders eine Typologie meiner Mitmenschen, nämlich die nach ihrem Verhalten als Leser.

Im Hinblick hierauf sind zunächst grundsätzlich Nichtleser von Lesern abzugrenzen, welch letztere dann etwa in Gelegenheits- und Vielleser geschieden werden können, oder in freiwillige und Zwangsleser. Bevor man in einem weiteren Schritt, was vielleicht am nächsten liegt, nach der Art der Lektüre fragt, z. B. die Gruppen der Krimileser, Leser historischer Sachbücher oder Gedichtleser bildet, gibt es aber noch einige andere Merkmale zur Unterscheidung, die die spezielle Art und Weise des Lesens betreffen. Hier gibt es eine Reihe von spezifischen Eigenarten, die mir bei meiner Beobachtung des Leserverhaltens in meiner weitläufigen Bekanntschaft und früher auch bei meinen Kunden immer wieder begegnet sind.

So gibt es gar nicht wenige Leser, die ein Buch grundsätzlich bis zur letzten Seite, also zu Ende lesen, es „auslesen“, wie man auch sagt, ganz gleich, ob es ihnen gefällt oder nicht. Diese Leser scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie die Lektüre mittendrin abbrechen. Vielleicht geben sie die Hoffnung nicht auf, dass das Buch doch noch eine überraschende Wendung zum Guten nimmt, unterhaltsamer wird oder tiefsinniger, ganz nach ihren jeweiligen Erwartungen. Ist es zum Beispiel ein Roman, dessen Handlung voller Widersprüche und logischer Fehler steckt, dann erhoffen sie sich einen genialen Clou, der im Nachhinein diesen ganzen Blödsinn plausibel werden lässt.

Ich habe immer schon vermutet, dass es sich bei diesem Typ in der Regel um einen auch sonst zu Sparsamkeit neigenden Menschen handelt, der schlecht verträgt, bei einem nur zur Hälfte konsumierten Produkt nicht ganz auf seine Kosten zu kommen. Interessanterweise bevorzugen nach meiner Beobachtung solche Leser dicke Bücher: je dicker, desto besser. (Ob der Umkehrschluss gilt, dass Liebhaber dicker Bücher grundsätzlich Geizkragen sind? So weit würde ich nicht gehen. Überhaupt sollte man, wenn man sich mit Klassifikationen und Typologien beschäftigt, immer auf der Hut sein vor leichtfertigen Verallgemeinerungen.)

Was nun mich selbst als Leser betrifft, so gebe hier gleich offen und ehrlich zu, dass ich mich keineswegs verpflichtet fühle, ein Buch auf Teufel komm raus zu Ende zu lesen, bloß weil ich einmal die Nase hineingesteckt habe. Ich gestehe weiter, dass ich in meinem langen und wechselvollen Leserleben weitaus mehr Bücher zu lesen begonnen, als zu Ende gelesen habe. Die Gründe, warum ich die Lektüre unterbreche, oft genug dann ganz abbreche, sind sehr vielfältig. Mal hält das jeweilige Buch nicht, was die Kritik versprach. Oder es mag zwar in seiner Art ganz ausgezeichnet sein, entspricht aber momentan nicht meinem Bedürfnis. Vielleicht passt es auch bloß atmosphärisch nicht zu meiner augenblicklichen Stimmung. Dann wieder geht mir ein scheinbar unbedeutendes Detail so sehr gegen den Strich, dass ich das Buch sofort aus der Hand legen muss, wenn es hart kommt mitten im Satz. Oder aber es ereignet sich in meinem wirklichen Leben eine Trivialität, die mich zunächst nur für Stunden oder Tage aus dem Lesen eines ganz passablen Buches herausreißt. Ich bin fest entschlossen, sobald die Gelegenheit wieder günstiger ist, zu diesem Buch zurückzukehren. Das Lesezeichen steckt an der richtigen Stelle zwischen den gelesenen und den ungelesenen Seiten. Und doch finde ich nicht mehr zurück in die Zusammenhänge der Geschichte. Mit diesem und jenem Namen vermag ich keine konkreten Vorstellungen mehr zu verbinden. Ich blättere zurück und versuche, den Faden wieder aufzunehmen, stoße auf Passagen, die mir nun völlig fremd erscheinen und so vorkommen, als hätte ich sie beim ersten Lesen irrtümlich überschlagen. Schließlich gebe ich auf und greife nach einem anderen Buch, auf dessen Beginn ich ohnehin eigentlich schon neugieriger war als auf die Fortsetzung des angebrochenen, das mir nun entsetzlich fade erscheint, wenn ich nur von Ferne daran schnuppere. So treu ich als Liebhaber von Menschen bin, so untreu bin ich als Genießer von Büchern.

[Wird fortgesetzt.]

Manchmal (I)

Monday, 08. March 2010

adler

Manchmal zweifle ich, ob dieses Projekt, mein Weblog, nicht etwa bloß eine Ablenkung von etwas anderem ist, ein Platzfüller, ein Mittel, den Tag zu bestreiten. Manchmal frage ich mich, ob das Schreiben daran, seit nun bald zwei Jahren und nahezu täglich, auch nur wieder eine Sucht ist, oder mindestens eine Gewohnheit, jedenfalls eine zwanghafte Widerholung ohne Aussicht auf ein natürliches Ende, also ziellos wie das Rauchen von Zigaretten oder das Überfliegen der Tageszeitung. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, diese liebe Gewohnheit von heute auf morgen aufzugeben, wie ich schon so viele Gewohnheiten, liebe und weniger liebe, im Laufe meines unfassbar langen Lebens aufgegeben habe, um die Zeit, die dadurch frei wurde oder besser leer, mit etwas anderem zu füllen, das vielleicht weniger ziellos sein und ein natürliches Ende immerhin in Aussicht stellen könnte.

Manchmal denke ich an die weit, weit zurückliegende, lange, lange vergangene Zeit zurück, als ich noch auf einer mechanischen Schreibmaschine der Firma Adler tippte [s. Titelbild], deren einziger besonderer Service darin bestand, gelegentlich durch Umschaltung des Farbbandes ein Wort in roter Schrift schreiben zu können, ein Luxus, der sich aber bald erstens als entbehrlich und zweitens als unökonomisch herausstellte, weshalb ich nach der nahezu restlosen Abnutzung der schwarzen und der nahezu spurlosen Schonung der roten Hälfte des Farbbandes nun ein konventionell rein schwarzes Band kaufte, ohne rote Halbspur, denn das konnte man umdrehen, wenn die obere Hälfte abgenutzt war, es hielt also doppelt so lange vor und war zudem auch in der Anschaffung etwas billiger.

Manchmal erinnere ich mich in diesem Zusammenhang auch an die verschiedenen Techniken, die gegen das unvermeidliche Übel des Vertippens seitens der Schreibwaren- und -maschinenhersteller in Anschlag gebracht wurden, nachdem ja zunächst das Durchixen das Mittel der Wahl gewesen und lange geblieben war; aber diese urtümlichen Verhältnisse liegen ja geradezu im Paläolithikum der mechanisierten Schreibtechnik, und so bin ich jetzt gerade tatsächlich gerührt, dass im aktuellsten Rechtschreibduden das Verb durchixen noch vorkommt, als „ugs. für auf der Schreibmaschine mit dem Buchstaben x ungültig machen“. (Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim ∙ Leipzig ∙ Wien ∙ Zürich: Dudenverlag, 2006, S. 341. – Genau zwölf Seiten vorher steht übrigens der „Doppelklick“.) Manchmal denke ich, dass die enormen technischen Erleichterungen des Korrekturvorgangs beim Schreiben – vom Tipp-Ex-Streifen über Tipp-Ex flüssig über das Korrekturband und die Speicherschreibmaschine mit Zeilendisplay – paradoxerweise der Sorgfalt der Schreibenden und damit der Qualität ihrer Ergebnisse eher abträglich waren. Manchmal bin ich insofern ganz froh, diese mühselige Schule der Berichtigung mit meist nicht ganz sauberem Ergebnis durchgemacht zu haben und hoffe, dass sie mich zu einer Schreibdisziplin erzogen hat, die zuletzt mein Geschriebenes veredelt – und zuallerletzt dem Leser das Lesen erleichtert.

Manchmal trauere ich aber gar jener Zeit nach, als die Fehler auf dem Papier noch untilgbare Spuren hinterließen. Dann hieß es eben einfach: Auf ein Neues! Und manchmal, um endlich zu einem vorlufigen Schluss zu kommen, hoffe ich, dass die Spuren, die ich auf der Oberfläche (des Papiers, der Monitore) hinterlasse, zwar oberflächlich nahezu fehlerfrei sein mögen, sich aber irgengendwann, genauer betrachtet, als ein einziger großer Fehler erweisen, allerdings mit keinem noch so deckfähigen Liquid Paper zu tilgen.

H. G.

Sunday, 07. March 2010

hgadler

Immer wieder zieht es mich zu den negativen Kraftzentren meines Denkens zurück, deren es freilich noch einige mehr gibt als die klassische Zwillingsgestalt des Bösen im Zwanzigsten Jahrhundert: Auschwitz und Hirsohima. Wenn ich wie unlängst durch einen unangemessenen Beifall für eine Nichtigkeit aufgeschreckt bin, muss ich geradezu triebhaft in die entgegengesetzte Richtung laufen. So machte ich dieser Tage endlich mit meinem längst gehegten Vorsatz Ernst, mich dem großen Werk von H. G. Adler (1910-1988) anzunähern.

Dieser wahrhaft unentbehrliche Zeitzeuge der Shoah hat in seinem in der dritten Person verfassten Nachruf bei Lebzeiten (1970) zu seinem Vornamen erklärt: „H. G. steht für Hans Günther, dies die Namen zweier jung verstorbener Brüder der Mutter, die alle drei zu verleugnen er nie wünschte, ohne doch noch diese Namen voll zu führen, nachdem Adolf Eichmanns Vertreter für das ,Protektorat Böhmen und Mähren‘ in den Jahren 1939 bis 1945 eben so geheißen hatte.“ (H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 8.)

H. G. Adler war als Jude seit Anfang 1942 im Ghetto Theresienstadt interniert, wurde im Oktober 1944 für zwei Wochen nach Auschwitz verbracht und sodann bis Kriegsende als Zwangsarbeiter in Buchenwald interniert. Schon in seiner Zeit in Theresienstadt plante Adler, seine Beobachtungen im Lager für die Nachwelt festzuhalten und machte sich erste Notizen zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die Objektivierung seiner Wahrnehmungen erleichterte ihm nach eigenem Bekenntnis entscheidend das seelische Überleben in der Hölle der Lager. Gleich nach seiner Befreiung machte er sich an die Arbeit und verfasste sein Hauptwerk Theresienstadt 1941-1945 (Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie. Tübingen: Mohr / Siebeck, 1955).

Dieses Buch ist viel mehr als nur ein Buch über das Wesen der Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager, und es leistet auch mehr als die Analyse dieser künftig immer bestehenden Option der Entmündigung, Entwürdigung und Entseelung des Menschen, deren Methoden und Techniken. Es erlaubt, zwar auf sehr schmerzvolle Weise, einen tiefen Blick in die Abgründe der conditio humana, eine sowohl präzise als auch differenzierte Gesamtschau menschlicher und unmenschlicher Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Man lese nur die Kurzbeschreibungen der 14 „Charaktere nach Typen“, die der hellsichtige Beobachter H. G. Adler, „bei allen Vorbehalten gegen schemtische Einteilungen“, in Theresienstadt unterscheiden konnte: „Gebrochene, Ängstliche, Betäubte, Gedankenlose, Pessimisten, Realisten, Optimisten, Illusionisten, Aktive, Brutale, Opportunisten, Willensstarke, Helfer, Gütige.“ (H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. M. e. Nachw. v. Jeremy Adler. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 669 ff.)

In seinem bereits erwähnten Nachruf bei Lebzeiten beklagte sich Adler unverhohlen darüber, dass ein beträchtlicher Teil seines Werkes, gerade viele erzählende Schriften und die meisten seiner zahllosen Gedichte, trotz seiner hartnäckigen Bemühungen um einen Verlag unveröffentlicht geblieben waren. Dies war auch unmittelbar vor seinem Tod nicht anders, als Jürgen Serke „die Mißachtung dieses universalen Geistes“ einen Skandal nannte, „für den die deutschen Verlage verantwortlich zeichnen. Ein Skandal, in dem die anerkannten Größen der Nachkriegsliteratur, die immer wieder auf Adlers künstlerische Einzigartigkeit hingewiesen haben, wie Dummköpfe dastehen […].“ (Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien / Hamburg: Paul Zsolnay Verlag, 1987, S. 327.) Immerhin erschien zwei Jahre später der Roman Die unsichtbare Wand aus dem Nachlass, der 35 Jahre auf diese Veröffentlichung gewartet hatte. – Ich werde in näherer Zukunft einige Lesezeit darauf verwenden, H. G. Adler genauer kennenzulernen. Und ich werde über diese Begegnung gelegentlich hier berichten.

[Titelbild: H. G. Adler 1969; aus: Serke, a. a. O., S. 343.]

Protected: Löweneckerchen

Friday, 05. March 2010

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Hercooles

Thursday, 04. March 2010

wuschel

Ich liebe gute Interviews, ganz gleich in welcher Form: live, im Fernsehen, im Rundfunk, gedruckt in Zeitschriften oder Büchern, auch im Internet als Audio- oder Videopodcast. Leider sind gute Interviews sehr selten; und sehr gute Interviews gibt es beinahe nicht, so rar sind sie. Um dem Leser eine Enttäuschung zu ersparen, gestehe ich zweierlei gleich vornweg, hier im ersten meiner obligatorischen fünf Absätze: Dieser Eintrag handelt nicht von einem wirklich guten Interview. Und schon gar nicht verrate ich, welche sehr guten oder auch nur guten Interviews mir in meinem langen Hörer-Seher-Leser-Leben bisher begegnet sind. Solche Best-of-Listen sind schließlich ein kleines Vermögen wert. Und wenn ich schon hier in meinem Weblog meine Beobachtungsgabe, Fabulierfreude und Spekulationslust, meinen kritischen Verstand und meine emsige Kreativität zum Nulltarif verschleudere, dann geht mein Altruismus doch nicht so weit, auch die Früchte meiner Erfahrung und Sammelwut für lau auf dem Marktplatz des globalen Dorfes unter die Leute zu bringen.

Damit ich ein Interview gut nenne, muss eine ganze Reihe von Forderungen erfüllt sein. Jede einzelne Frage sollte sowohl den Interviewten als auch den Leser insofern überraschen, als sie sich möglichst weit von den immergleichen Standardmotiven entfernt. Wer einen Regisseur nach den nüchternen Fakten seines Films befragt, nach den Tücken der Finanzierung und den Pannen bei den Dreharbeiten, sollte den Beruf wechseln. Das Interview ist eine literarische Technik, die darauf abzielt, mehr über eine Person ans Licht zu bringen, als diese über sich selbst weiß. Insofern haftet dem Interview etwas von einer Geburt, einer Vergewaltigung oder einer Vivisektion an, je nachdem. Im Idealfall ist nach dem strapaziösen Zwiegespräch deutlich geworden, dass auch auf diese ausgefragte Persönlichkeit das weise Selbstbekenntnis zutrifft: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ (Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage. Leipzig: Haessel, 1872, S. 1.) Daraus erhellt, dass ich niemals mit einem Interview zufrieden sein kann, das mir die befragte Person rundweg sympathisch – oder vollkommen unsympathisch erscheinen lässt. Beide Bilder können nur falsch sein. Und ich erwarte nun einmal von einem Interview, dass es mir einen Menschen näherbringt, indem es ihn wahrer zeigt, als er sich aus eigenem Entschluss geben will oder kann.

Dennoch ist ein schlechtes Interview manchmal lesenswert; nämlich dann, wenn die Überzeichnung des Objekts, seine Selbststilisierung in the public eye so gnadenlos danebengeht, dass es schon wieder Spaß macht, dergleichen Wort für Wort und Satz für Satz zu verkosten. Von einem solchen Fall ist hier zu berichten. Ich meine das Interview, das Eva Karcher neulich für die SZ mit Hans Ulrich Obrist geführt hat.

Obrist (*1968) ist Hercooles. In sechs Spalten der Wochenendbeilage führt er eiskalt vor, was er ist und weiß und kann, nämlich nahezu alles. Nun ist die eitle Manie, sein Licht nicht untern Scheffel zu stellen, sondern im Gegenteil das erschreckte Publikum damit zu blenden, gerade bei jenen Semi-Prominenten weit verbreitet, die zwar Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehaben, aber qua Funktion notgedrungen eher im Verborgenen werkeln und im Hintergrund stehen müssen. Hierzu zählen, um jedes der drei Ressorts mit einem Beispiel zu illustrieren: Ghostwriter, Großerben und Kuratoren. Hans Ulrich Obrist gilt als einer der wirkmächtigsten Kuratoren der Gegenwart. Die SZ nennt ihn den „populärsten Kunstvermittler der Szene“, meint aber vermutlich: den in der Szene populärsten Kunstvermittler. Um seine Popularität nun auch über diese Szene hinaus zu erweitern, stapelte er seine angeborenen und erworbenen Qualitäten so hoch, dass wir dahinter den Menschen gar nicht mehr sehen können. Als gebürtigem Schweizer ward ihm Englisch, Französisch, Italienisch, Schwyzerdütsch und Deutsch sozusagen in die Wiege gelegt, im Gymnasium lernte er dazu en passant noch Spanisch und Russisch. Jetzt steht Portugiesisch auf seinem Stundenplan, weil er momentan von Brasilien „fasziniert“ ist. (Dieses Ekelwort Faszination wäre bald mal einen eigenen Beitrag wert.) Überhaupt folgt Obrist der Obsession, permanent zu lernen, „aber nicht als Zwang, sondern als Impuls“. Damit er sein tägliches Pensum schafft, hat er sich eine strenge Zeitdiät auferlegt: „Früher hatte ich den ,Da Vinci‘-Rhythmus. Wie Leonardo da Vinci […] war ich drei Stunden wach, dann folgten 15 Minuten Schlaf. So war ich zwar nie müde, aber auf Dauer ist es unmöglich, dabei ein soziales Wesen zu bleiben.“ Dann war er eine Zeitlang Espresso-Junkie. Und wofür das alles? Um immer noch größere Ausstellungen mit immer noch spektakuläreren Exponaten in immer noch außergewöhnlicherem Rahmen zu realisieren. Es verwundert nicht, dass dem Kurator zur Benennung seiner Leistungsshows nur ein Begriff aus der Welt des Sports einfallen kann: Marathon. Seine atemlos hechelnde Ausstellungsmacherei versteht er, ausgerechnet, als „Protest gegen den zunehmenden kollektiven Gedächtnisverlust“. Dass vielleicht gerade das überdrehte Spektakel, für das Obrist den Zulieferer spielt, erst besagte Amnesie verursacht, die er beklagt, das scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.

Übrigens interviewt der Interviewte auch selbst, neben Künstlern zuletzt Architekten, Musiker, Komponisten und Wissenschaftler. Nun sind Choreographen, Tänzer und Schriftsteller „an der Reihe“. Leider bleibt ihm in der ganzen Hektik keine Zeit, uns zu erklären, warum er diese Kreativen interviewt, zumal er offenbar nicht nur Kaffee soff wie Balzac, sondern auch korrespondierte wie Voltaire: „Ich habe ein riesiges Archiv unzähliger Briefwechsel und 2000 Stunden Interviews.“ Immer ist nur von Quantitäten die Rede, selbst bei einem so noblen Akt wie dem Buchkauf: „Jeden Tag ein Buch kaufen, das ist ein wichtiges [!] Ritual.“ Zu dieser bei Licht besehen ebenso eitlen wie langweiligen Kraftmeierei passt, dass Obrist Auskünfte über sein Privatleben, um die ihn doch niemand gebeten hat, verweigert und sich (von Marco Anelli) für den Zeitungsabdruck dieses außer Peinlichkeiten aber auch wirklich gar nichts offenbarenden Interviews  im Profil ablichten lässt. (Eva Karcher: Hans Ulrich Obrist über Kunst; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 48 v. 27./28. Februar 2010, S. V2/8.)

Memento

Wednesday, 03. March 2010

judoka

Ab und zu ist es angebracht, sich seiner Vergänglichkeit wieder einmal bewusst zu werden und die Sterblichkeit dieser fleischlichen Hülle, die uns alle egalisiert, nüchtern und scharf wahrzunehmen. Die Zeit, die uns unsere Späße mit frohem Herzen und bei bester Gesundheit zu genießen einräumt, hat eben nur den einen Nachteil, endlich zu sein. Tröstlich ist da bloß, dass der Unterschied zwischen einem nach menschlichem Maß langen zu einem kurzen Leben kaum das Wesentliche ist. Auch hier dürfte Qualität, nicht Quantität das entscheidende Kriterium sein.

Übrigens kann ja die gewaltsame Verkürzung des Lebenswegs auch eine Befreiung bedeuten, wenn nämlich leidvoller Schmerz oder unleidliches Gleichmaß dieses Leben vergällte. Und dies kann nicht nur so sein, rechtbesehen ist es vielleicht sogar der üblichste Ausweg. Wann liest man denn in den Todesanzeigen schon einmal, dass ein Hingegangener lebenssatt hinüberglitt, friedlich im Schlafe verschied?

Ich werde in diesem Sommer 54 Jahre alt, so ich denn so alt werde. Würde es mich bekümmern, wenn nicht? Welche alten Rechnungen hätte ich noch offen? Was bliebe mir noch, dringend zu tun? Braucht mich die Welt? Habe ich ihr noch etwas zu geben, was nur ich allein ihr zu geben vermag? Wie stünden jene da, die mir am nächsten stehen, wenn sie auf meine Anwesenheit hinfort verzichten müssten? Kommt aus solchen Erwägungen der dringende Impuls, dem Tod mit allen Kräften zu widerstehen? Ich fürchte: Nein!

Unser Überlebenswille ist somit vermutlich nicht viel mehr als ein triebhafter Reflex, nichts ausgemacht Menschliches. Menschlicher wäre da schon die Einsicht, wie wenig an jedem von uns gelegen ist, angesichts des Übermaßes unserer Vorhandenheit. Und unser Lebenswunsch wäre insofern bloß eine romantische Reminiszenz aus der Zeit, als man noch annehmen konnte, niemand andres als gerade ich sei fähig, die Dinge zu tun, die gerade ich tun kann.

Und übrigens: Warum soll ich das Nein zum Abschluss des dritten Absatzes eigentlich fürchten? Ist die Negation der vorangestellten Frage nicht vielmehr der Schlüssel zu einer Freiheit, die alle Furcht hinter sich lässt?

Protected: „Gesundheit!“

Wednesday, 03. March 2010

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Zahlenspiele

Tuesday, 02. March 2010

ende

Im Deutschlandfunk befragte heute Michael Langer den Schweizer Soziologen Jean Ziegler (*1934) zu seinem letzten Buch, Der Hass auf den Westen (München: Bertelsmann, 2009). Gleich eingangs des eineinhalbstündigen Dialogs in der Reihe Zwischentöne entspinnt sich eine kuriose Haspelei, die ich vom Band abgeschrieben habe:

Ziegler: „Wir sind jetzt 5,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt …“ – Langer: „Herr Ziegler, noch mehr: 6,7!“ – Ziegler: „Nein, 5,7 sind wir jetzt.“ – Langer: „5,7?“ – Ziegler: „Entschuldigung, dass ich jetzt mit Ihnen … dass ich Ihnen widerspreche. Das sollte man nicht tun, oder?“ – Langer: „Ja … doch, doch! Weiter!“

Leser dieses Blogs wissen, dass Ziegler irrt und vor ein paar Tagen sogar bereits 6,8 Milliarden erreicht wurden. Kaum ist das Gespräch zwei Minuten alt, muss sich der ausgewiesene Fachmann für globale Bevölkerungspolitik, Weltwirtschaft, Neokolonialismus und das Elend der Dritten Welt von einem einfachen Rundfunkjournalisten belehren lassen – und nimmt diese Lehre nicht einmal an! Da Ziegler anschließend hauptsächlich mit Zahlen argumentiert, müssen sein Sachverstand und seine Urteilskraft in der Wahrnehmung eines unbefangenen Hörers durch diesen doch nicht gerade unerheblichen Lapsus schwer diskreditiert sein.

Wenig später macht Ziegler uns darauf aufmerksam, dass „alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren stirbt. Wenn wir anderthalb Stunden reden, werden es über 720 Kinder sein, die verhungert sein werden.“ Auch diese Rechnung irritiert jeden halbwegs fitten Kopfrechner. Wenn alle fünf Sekunden ein Kind stirbt, dann sind das zwölf Kinder pro Minute und in 90 Minuten 1080 Kinder. Nun gut, Ziegler sagt über 720 Kinder, insofern ist seine Behauptung nicht falsch, sondern nur grob ungenau.

Aber es ist vermutlich geschmacklos, die Pedanterie hier zu weit zu treiben. Tatsache ist jedenfalls, dass knapp ein Fünftel der Todesfälle auf der Erde auf Hunger zurückzuführen sind und dass vermutlich mehr als zwei Drittel dieser Hungeropfer Kinder sind. Gleichzeitig kann aber doch Jean Ziegler nicht übersehen, dass die Zahl der Geburten, die gleichzeitig in den anderthalb Stunden seines Radiotalks zu verzeichnen sind, die der verhungernden Kinder um das zwanzigfache übertrifft. Man kann wohl kaum vermeiden, über solche Zahlen zu diskutieren, ohne sich den Vorwurf des Zynismus zuzuziehen. Zweifellos ist der moralische Furor, mit dem Ziegler „die strukturelle Gewalt der kannibalischen Weltordnung“ verflucht, sympathischer als solch morbide Arithmetik. Wenn er sich darauf beschränkt hätte, Immanuel Kant zu zitieren und die multinationalen Konzerne anzuklagen, könnten wir seiner Verzweiflung nur beipflichten. Da er aber mit Zahlen jongliert, und zwar mit Zahlen, die augenscheinlich zu groß für ihn sind, verspielt er seinen intellektuellen Kredit. Das ist bedauernswert, wo doch sein Thema auch uns sehr am Herzen liegt – aber nicht nur dort.

[Titelbild von A. Paul Weber: Das Ende (1939/40)]