Archive for November, 2009

Verloren

Friday, 27. November 2009

Seit Langem schon ersehne ich eine einfache technische Lösung für folgendes Problem. Die besten Einfälle kommen mir unterwegs. Offenbar hat das Gehen genau jene altbekannte fördernde Wirkung auf den Fluss meiner Gedanken, die schon die alten Peripatetiker so zu schätzen wussten. (Ich weiß, ich weiß, die unmittelbare Ableitung ihres Namens vom griechischen Wort für „umherwandeln“ gilt längst als widerlegt. Man kann diese Art etymologischer Spielverderberei auch zu weit treiben. Bücher à la 1000 verbreitete Irrtümer über … gehen mir längst schon ganz entschieden auf den Keks. Da feiert die Besserwisserei fröhliche Urstände, Hänschen Schlau kann sich auf der Party seines Chefs nach Strich und Faden unbeliebt machen und die Umstehenden gähnen sich ‘nen Wangenkrampf.)

Papier und Bleistift trage ich für den dringendsten Fall der Fälle zwar auf allen meinen Wegen bei mir, aber das Hervorkramen des Schreibzeugs und das Suchen nach einer geeigneten Schreibunterlage, zumal wenn meine Hände mit Schirm- und Taschentragen ausgelastet sind, ist mir in den übrigen neunundneunzig Fällen geistreicher Eingebungen doch zu umständlich. Darum habe ich mir schon vor Jahr und Tag einen handlichen Digital Voice Recorder zugelegt. Gewöhnliche Zeitgenossen hätten dergleichen gar nicht nötig, da längst jedes handelsübliche Handy über Aufzeichnungsmöglichkeiten für Schrift und Stimme verfügt. Da ich aber, wie hier gelegentlich eingestanden, kein Funktelefon mein eigen nenne, war diese Spezialanschaffung nötig. Leider erwies sich das von mir erworbene Aufnahmegerät PA-VR10E als dermaßen kompliziert in der Handhabung, dass ich es bisher noch nie zur Anwendung gebracht habe. Bevor ich es nun aber auf einen Rechtsstreit mit der Firma Sharpe ankommen lasse, gestehe ich umstandslos, dass die Schuld allein bei mir liegt, weil ich zwar ein fleißiger Leser bin, aber mit einer Ausnahme: Bedienungsanleitungen.

Und so ist zu beklagen, dass in den vergangenen Jahren eine Unzahl mindestens talentierter, gelegentlich vielleicht sogar genialer Ideen dem restlosen Vergessen anheim fielen. Dies ist allein schon schlimm genug, für mich als den Verursacher und – durch entgangenen Ruhm – Hauptbetroffenen ebenso wie für den Rest der Menschheit, der vielleicht auch etwas davon gehabt hätte. Noch schlimmer, nämlich geradezu unerträglich waren aber jene Vergessensfälle, bei denen der Schatten einer Ahnung in meinem Gedächtnis zurückblieb, gerade deutlich genug, um seinen Konturen ablesen zu können, dass es sich bei dem Vergessenen um eine wahre Kostbarkeit gehandelt haben musste.

Ein Beispiel aus aktuellem Anlass. Einmal, vor etwa vier Jahren, fischte ich aus dem Wühltisch der Buchabteilung eines hiesigen Kaufhauses ein schmales Bändchen heraus, dessen Autor mir nichts sagte, dessen Umschlag mich nicht sonderlich ansprach, dessen Titel mich aber berührte. Ich schlug es willkürlich auf und las mich sofort fest. Es ging um Golf, um ein Duell zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Lehrer, um eine schöne Frau, die beide mit ihrem Spiel zu beeindrucken suchten. Die Geschichte war so komisch, dass ich laut lachen musste. Was war denn das für ein Roman? Im Klappentext die üblichen, übertrieben hymnischen Zitate aus nicht genau nachgewiesenen Rezensionen, von der „außergewöhnlichen Aura“ war die Rede, die den Texten des Autors durch seine „radikale Selbstironie“ verliehen werde. Ich wollte das Bändchen zum Ramschpreis von 3,50 € erstehen, aber um die Kasse ringelte sich eine lange Warteschlange und ich hatte eine Verabredung, bei der ich mich unter gar keinen Umständen verspäten durfte. So legte ich das Buch zurück auf den Wühltisch, vergrub es sicherheitshalber unter der Dutzendware, die hier sonst noch feilgeboten wurde und beschloss, später wiederzukommen.

Später hieß dann allerdings ganze vier Tage später, denn in diesen vier Tagen ereigneten sich etliche unvorhergesehene private Katastrophen, die mich keine Minute ruhen ließen. Als ich wieder Atem schöpfen konnte, fiel mir zuallererst das Buch auf dem Wühltisch ein. Zu meiner großen Enttäuschung stellte sich heraus, dass es mir ein anderer Kunde weggeschnappt haben musste. Alle Bemühungen, es durch Recherchen in Verlagsverzeichnissen und Bibliographien zu ermitteln, schlugen fehl. Auch meine Erinnerung an die Umschlaggestaltung [s. Titelbild] war zu blass, um bei einem der befragten Buchhändler einen Geistesblitz des Wiedererkennens auszulösen. Ich erinnerte mich sogar an ein Detail aus der Kurzvita des Autors, das ich ebenfalls dem Klappentext entnommen hatte: Er war verhältnismäßig jung bei einem Verkehrsunfall zu Tode gekommen. Nein, es war nicht Rolf Dieter Brinkmann. Auch nicht Jörg Fauser. – Vor wenigen Tagen, durch einen unwahrscheinlichen Zufall, habe ich das Buch nun wiederentdeckt. Es ist tatsächlich grandios! Vielleicht so grandios wie tausend andere verlorene und vergessene Gedankengüter, die mir im Unterschied zu diesem auf immer entzogen bleiben.

Mehr oder weniger

Monday, 23. November 2009

Dass die Informationsflut in einem durch Landflucht der Intelligenz, Zensur und Papierknappheit ausgedörrten Land als vom Himmel der Demokratie gesandter Segen empfunden wird, das konnten wir im Westen Deutschlands nach 1945 erfahren, und nach 1989 noch einmal in dessen Osten. Dass diese Flut aber auch zu einem Problem werden kann, wenn nämlich jede Übersicht verlorengeht und das ununterscheidbare Einerlei von „Fakten, Fakten, Fakten“ (Helmut Markwort vom Magazin Focus) keinen klaren Gedanken mehr ermöglicht, schon erst recht keine Meinungsbildung zur Vorbereitung einer Handlungsentscheidung, das ist den kritischen Beobachtern der Entwicklung unserer Informationsgesellschaft auch nicht verborgen geblieben.

Mein Bedürfnis als Empfänger und Nutzer von Informationen ist in dieser Situation, mit einem qualitativ hochwertigen Input versorgt zu werden. Er muss mein jeweiliges Erkenntnis- oder Erlebnisinteresse so schnell, so gründlich und so richtig wie möglich befriedigen. (Die Unterscheidung von Erkenntnis und Erlebnis führe ich hier mit Bedacht ein, um bewusst zu halten, dass in den medialen Kanälen ja nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung transportiert wird, wobei beides – Stichwort: Infotainment – ineinander übergehen kann.) Um diesem Anspruch zu genügen, gilt es seitens des Lieferanten eine ganze Reihe hergebrachter Kriterien zu erfüllen, von denen einige präzise bestimmt sind (zum Beispiel die Rechtschreibung oder die Überprüfbarkeit von Tatsachenbehauptungen durch nachvollziehbare Quellenangaben), andere immerhin noch mit Vorbehalt von Ermessensspielräumen einigermaßen verbindlich bewertet werden können (wie etwa ein dem Thema adäquater Stil oder eine transparente Struktur des Textes). Als Leser habe ich mit der Zeit verschiedene Methoden zur schnellen Abschätzung der Qualität von Texten entwickelt. So weiß ich, dass ich einer Nachricht in der Süddeutschen Zeitung eher vertrauen kann als einer in BILD. Ich weiß, dass mein persönliches Unterhaltungsbedürfnis im Deutschlandfunk besser befriedigt wird als bei Radio Essen. Und im Internet vertraue ich einem Artikel in Wikipedia eher als einer anonymen Meinung in einem Webforum.

Und jetzt wird’s langsam spannend. Denn in den beiden ersten Fällen (Presse und Rundfunk) leite ich meine Einschätzung aus einer allgemeinen Bewertung der jeweiligen Quelle ab. Das funktioniert im Internet noch bei Wikipedia, wo mich fachkundige Urteile und eigene Erfahrungen mittlerweile dazu gebracht haben, auf die Nutzung meiner Printlexika nahezu ganz zu verzichten. Aber die große bunte Welt der Foren ist so unübersichtlich und unspezifisch, dass eine Orientierung auf gewohnte Weise unmöglich ist. Hier muss ich mich auf mein eigenes, notwendig flüchtiges Urteil verlassen, indem ich beispielsweise schon aus der Artikulationsfähigkeit eines Autors darauf schließe, wes Geistes Kind er ist. Dass sich hier Fehlbewertungen einschleichen können, sei unbenommen. Aber man wird sehr viel Zeit (und möglicherweise sogar Geld) verlieren, wenn man jedem sekundären Analphabeten vertraut, der im Schutze seiner Anonymität Unsinn stammelt, etwa ein todsicheres Lottosystem zu verkaufen sucht. Solche kriminellen Angebote sollten im Internet sogar ganz unterbunden werden, wenn es denn irgend möglich ist, denn die Meinungsfreiheit findet eben genau da Grenzen, wo sie zu verbrecherischen Zwecken missbraucht wird.

Dies alles rufe ich in Erinnerung, weil ich in den letzten Tagen gleich zweimal über vermutlich gut gemeinte Freiheitskredos gestolpert bin, deren Naivität mich zu energischem Widerspruch reizt. So schreibt ein unbekannter Freund von Wiki-Waste im Kommentar zu meinem Beitrag über das Relevanz-Gebot bei Wikipedia: „Selbst der primitivste Artikel bei Wiki-Waste ist besser als der Artikel, den es gar nicht gibt. Jeder Wiki-Waste-Artikel ist der beste Wiki-Waste-Artikel zum jeweiligen Thema. Und zwar so lange, bis dieser Artikel von jemandem noch besser gemacht wird. (So ähnlich wie Persil.)“ Wenn dies so wäre, könnte man auch sagen: ,Jede Aussage zu etwas ist besser als keine Aussage. Auch eine falsche Aussage ist besser als keine. Und zwar deshalb, weil sie ja berichtigt werden kann.‘ Wenn das so ist, dann würde ich in einem Wiki-Artikel über Arsen erläutern, dass es sich beim Giftverdacht gegen diese Substanz um ein reines Vorurteil handelt. Die bis zur Korrektur des Artikels angefallenen Leichen hätte dann unser anonymer Freiheitskämpfer zu verantworten. Prinzipell und ernsthaft will ich zu der gegenwärtigen Relevanz-Diskussion um Wikipedia aber noch sagen, dass dieses Schmuckstück im Internet seine mühsam errungene Reputation und Glaubwürdigkeit augenblicklich wieder verlieren würde, wenn es Artikel wie die in Wiki-Waste aufbewahrten zuließe.

Ich hätte hierüber nicht erneut geschrieben, wenn mir nicht eine zweite Textstelle zum gleichen Thema, diesmal aus vermeintlich seriöserer Quelle, den Anlass dazu gegeben hätte. Dort heißt es: „Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information. – Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen – sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Nachzulesen ist dieser historische Beweis für die Legitimation zur massenhaften Erzeugung und weltweiten Verbreitung von Datenmüll in einem Internet-Manifest, das 15 Webautoren Anfang September in einem neuen Netzpolitikwiki online gestellt haben. Ich kann auch solch holzschnittartige Argumentationen bloß mit gleicher Münze heimzahlen, zu mehr gebricht es mir an Zeit und guter Laune. Darum dies hier: Mundus vult decipi, „die Welt will betrogen sein“, wie schon der Kardinal Carlo Caraffa Mitte des 16. Jahrhunderts treffend bemerkte. In dieser nicht allzu fernen Zeit besorgten die Betrügerei noch die Mächtigen, heuer hat man es aller Welt selbst überlassen, sich gegenseitig zu betrügen und sich in den Netzen der Unübersichtlichkeit zu verfangen, im World Wide Web. Daran hat sich also doch etwas geändert. (Bezeichnend übrigens, dass einer der wenigen beredten Kritiker des Manifests ein Blogger ist, der sich das Ringen um klare und verständliche Sprache zur Aufgabe gemacht hat.)

Blickweiten (I)

Sunday, 22. November 2009

Noch ein letztes Mal zu Silvia Bovenschen. Im erwähnten TV-Interview fragt Denis Scheck die Autorin nach dem literarischen Initiationserlebnis ihrer Jugendzeit, so wie etwa ihm selbst Arno Schmidt klargemacht habe, dass Sprache noch etwas anderes könne als nur Informationen transportieren. Bovenschen verweigert die Antwort mit der etwas kruden Erklärung, in ihrem Falle seien das in verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedliche Bücher gewesen. Es hätte sie doch wirklich nicht viel Mühe gekostet, ein paar Beispiele für diese verschiedenen Lebensalter und die zugehörigen Bücher preiszugeben und so die Neugier des Fragers und seines Publikums mindestens durch eine Geste guten Willens wenn nicht zu stillen, so doch zu beschwichtigen. So aber wirkt die etwas brüske Verweigerung wie eine Geheimniskrämerei. Zur Not könnte man sie sich noch damit erklären, dass vielleicht mit den Initiationserlebnissen von Silvia Bovenschen in einem solchen Interview kein Staat zu machen ist, weil sie beispielsweise zu wenig originell oder erklärungsbedürftig sind.

Gerade bei Interviewfragen, die unbeantwortet bleiben, kann ich der albernen Versuchung nicht widerstehen, mir auszumalen, welche Antwort ich an der Stelle des Befragten denn gegeben hätte. Ich müsste dann im Vorschulalter, bei Wilhelm Busch, Karl May und, horribile dictu, Wilhelm Matthießens Das rote U beginnen und nach einer langen Liste untereinander völlig unverträglicher Namen und Werke vorläufig bei Alfred Polgar, Victor Auburtin und Franz Hessel enden. Ob diese Begegnungen mit ganzen Heerscharen von Vorgängern aber jede für sich als „Initiationserlebnisse“ zu bezeichnen wären, halte ich für mehr als fragwürdig. Inspirationsquellen, das träfe es schon eher.

Denn initiiert wird man doch, bei Licht betrachtet, in seinem Leben nur wenige Male, wenn nicht gar nur einmal. Der klassische Fall ist der Übertritt von der Jugend ins Erwachsenenalter, wenn wir uns von vorwiegend Nehmenden zu Gebenden wandeln; oder eben von Lesenden zu Schreibenden. Dann hätte ich klar und deutlich Franz Kafka nennen müssen, speziell den Roman Amerika, der heute unter dem Titel Der Verschollene gehandelt wird.

Ich setze jetzt mal die Brille ab und wechsele die Brennweite. In der gestrigen ZEIT berichten Florian Illies und Stefan Koldehoff von dem hässlichen Streit, der zwischen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und dem Staat Israel über die Besitzansprüche an Manuskripten Franz Kafkas entbrannt ist. Dieser Streit interessiert mich nicht sonderlich, denn von Kafka ist alles Erhaltene veröffentlicht, kein Autor des 20. Jahrhunderts ist so ausgeforscht wie Kafka. Insofern ist es relativ gleichgültig, wo diese Manuskripte aufbewahrt werden, wenn es nur kein Archiv auf schwankem Grunde ist wie in Köln.

Aber am Rande dieses Artikels wird eine Seite aus einem Dokument faksimiliert, die meine Aufmerksamkeit fesselt. Es handelt sich um eine Inventarliste des Archivs von Kafkas Freund Max Brod, das heute in einer Zürcher Bank verwahrt wird, in einem Schließfach mit der Nummer 6588. Dort sind auch „Fotokopien von Briefen Theodor Lessings an Max Brod (insgesamt 5 Briefe 1922-1933)“ aufgelistet, von deren Existenz ich bis heute nichts wusste (vgl. ZEIT Nr. 48 v. 19. November 2009, S. 48). Theodor Lessing ist im Unterschied zu Kafka ein noch immer verschollener und vergessener Autor, trotz der Bemühungen seines Biographen Rainer Marwedel und mehrerer Verlage, von Rütten & Loening über Matthes & Seitz bis hin zum Superbia-Verlag, die mit viel Fleiß und Idealismus trachteten, sein so außergewöhnliches wie vielseitiges Werk nach dem Krieg wieder bekannt zu machen. Lessings Korrespondenz ist teilweise im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien e. V. in Potsdam aufbewahrt. Ich vermute, dass die fünf Briefe an Max Brod den Theodor-Lessing-Forschern bislang unbekannt waren. Bin ich vielleicht der Erste, der nun beiläufig auf sie aufmerksam wird? Und wem könnte dieses Wissen nützen? – Ich setze die Brille wieder auf und gehe mit D. P. in den Wald, wo ich diesen Zufallsfund augenblicklich vergesse. Auf einer Bank [s. Titelbild] geht mir stattdessen ein Satz aus einem Brief Kafkas an Max Brod durch den Kopf, den ich im gleichen Artikel gelesen habe: „Ich kenne andeutungsweise die Schrecken der Einsamkeit, nicht so sehr der einsamen Einsamkeit, als der Einsamkeit unter Menschen.“

Unversöhnt

Saturday, 21. November 2009

Erst nach Beendigung meines WerWeißWasLektüreberichts entdeckte ich das Interview, das Silvia Bovenschen dem womöglich momentan gewieftesten Literaturpropagandisten unterm Tarnkäppchen der Kritik in Feuilleton, Funk und Fernsehen, Denis Scheck (* 1964), auf der Frankfurter Buchmesse gewährt hat und das man nun in voller Länge online anhören, -sehen und -staunen kann.

Zu Beginn gleich ein Gutes, was über dieses Gespräch zu sagen ist: Es ist lang! Das ist insofern erfreulich, weil es den nötigen Raum lässt für allerlei Randständiges, das nicht unmittelbar und schnurgerade auf die Frage abzielt, ob sich die Neunzehneurofünfundneunzig für das vorgestellte Buch denn nun lohnen oder nicht. Und gerade diese Nebensächlichkeiten an der Peripherie sind die unerwarteten Tinten- oder meinetwegen – schließlich geht es ja um einen Krimi – Blutkleckse, die das zuvor gemachte Bild vom Buch und mehr noch von seiner Autorin um ein paar überraschende Akzente bereichern. Gerade auf der Buchmesse werden ja unzählbare, unerträgliche, unnötige Un-Gespräche geführt, zwei- bis vierminütige Small Talks, die im ganz wörtlichen Sinne im Vorbeigehen entstanden sind, aber auch insofern, als sie nur ein Aneinandervorbeireden dokumentieren, im Rhythmus eines gut gelaunten, scharf beschleunigten Aneinandervorbeifragens und -antwortens.

Hier aber findet die Autorin fast eine halbe Stunde lang Zeit und Gelegenheit, etwas über das Interieur ihres Elternhauses zu erzählen, über grottenschlechte Impressionisten an den Wänden und über die unterschiedlichen Bücherstapel auf den Nachttischen von Mama und Papa Bovenschen, hie Proust und Daphne du Maurier traulich vereint, dort zwei Stapel über die Kunst der Hethiter [s. Titelbild], worin sie die katholische und die protestantische Variante des Bildungsbürgertums repräsentiert sieht; und schließlich findet sie Zeit zu einer längeren declaration of human faults, die ich gern einmal als kleine Kostprobe in ganzer Länge wiedergeben will.

Scheck hatte gefragt, ob wir wirklich so dämlich und beschränkt seien wie die Menschen in Bovenschens Roman, wofür sie dort von den vier Außerirdischen zu Recht verworfen werden, worauf die Autorin erwidert: „Na ja, wenn ich mir das so anschaue, was in einigen Weltgegenden und zuweilen auch bei uns so passiert, denke ich, mit dieser Gattung kann nicht sonderlich viel los sein, und dann kommt es mir auch so vor, als wären wir eher so eine ,Panne der Evolution‘ als die ,Krönung‘ irgendeiner ,Schöpfung‘ … und ich denke, diese Schwärze ist auch in mir. Also, ich will das nicht leugnen: Ich habe die pessimistischsten Annahmen über die Natur des Menschen. – Aber ich habe natürlich auch … ich habe eine Liebe zu vielen Dingen, ich habe eine Liebe zu vielen Menschen, ich finde, dass es so etwas gibt wie Schönheit. Und das besteht unversöhnt in mir, nebeneinander, ich will da auch nichts versöhnen, und vielleicht geht all mein Schreiben darauf hinaus, und das literarische Schreiben gönnt mir im Unterschied zum theoretischen oder essayistischen die Möglichkeit, das nebeneinanderher laufen zu lassen, also da nicht ,einerseits – andererseits‘ sagen zu müssen oder ,dialektischerweise‘ oder irgendsowas, ja? Sondern ich kann das nebeneinander hart stellen, und dann kann sich jeder das heraussuchen, wozu er neigt. Also ich kann das in mir nicht versöhnen – das ist eine private Antwort, die ich ihnen da gerne gebe – und will es inzwischen auch nicht mehr in mir versöhnen.“ (Denis Scheck: Interview mit Silvia Bovenschen vom 16. Oktober 2009 © ARD.)

Ganz werde ich den Verdacht nicht los, als sei diese Melancholie, die hier beschrieben ist, schon dem Kind Silvia Bovenschen einverleibt gewesen. Über dieses, so Bovenschen wörtlich, „eklige“ Kind sagt sie rückblickend einen Satz, der in seiner Unbarmherzigkeit kaum zu überbieten ist und der im angeregten Geplaudere über ein anregendes Buch am Rande einer maßlosen Messe wohl unterging, weshalb ich ihn hier für die Ewigkeit retten möchte. Sie sagt den Satz: „Ich hätte mich nicht gehabt haben mögen.“

[Titelbild von Noumenon v. 13. Juli 2007: “A rather close up photograph of Eflatunpinar’s main part. Eflatunpinar is a Hittite site found in modern Beyşehir district of Konya/Turkey.” GNU Free Documentation License.]

Relevanz

Wednesday, 18. November 2009

Mein liebstes Nachschlagewerk zum Allgemeinwissen, die gemeinnützige Wikipedia, sammelt wieder einmal Spenden. Wer dem Aufruf folgt, darf auch gern einen Kommentar hinterlassen: „Haben Sie einen Gedanken, den Sie der Welt mitteilen möchten? Sie können bis zu 200 Zeichen eingeben.“ Wikimedia Deutschland freut sich über Spenden in jeder Höhe, die Beträge von 25, 50, 75 und 100 € sind voreingestellt, es darf aber auch gern ein bisschen mehr sein.

Schaut man sich die Kommentarliste im Spendenticker etwas genauer an, dann stolpert man immer wieder einmal über einen vermeintlichen Knauser, der gerade eben 1 € locker macht. Tatsächlich dient diese eher symbolische „Spende“ aber nur als Eintrittsgeld für jene kritischen Zeitgenossen, die die Gelegenheit nutzen, ihren Frust über die gegenwärtige Entwicklung bei Wikipedia abzuladen. So schreibt heute ein anonymer Spender, es gehe dort neuerdings zu „wie bei Aschenputtel: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Relevanz bei Wikipedia, Platz für Irrelevanz bei Wiki-Waste.“

Wiki-Waste? Diese streitbare Website im Wiki-Format versteht sich als eine Art Schrottplatz für alles, was aus der deutschsprachigen Wikipedia rausgeschmissen wurde. Gut, das klingt zunächst in meinen Ohren sympathisch, bin ich doch jeder Verschrobenheit und Fliegenbeinzählerei gegenüber prinzipiell aufgeschlossen. Allerdings hat mir die Wikipedia gegenüber den meist bierernsten Print-Enzyklopädien gerade deshalb imponiert, weil sie eben auch abgelegenste Forschungsgegenstände respektiert und zudem ein weites Herz hat für jede Art von Scherz, Satire und Ironie, vorausgesetzt, dass eine tiefere Bedeutung dabei nicht ganz aus dem Blick gerät. So findet sich dort selbstverständlich ein ausführlicher Artikel über die putzigen Nasenschreitlinge (lat. Rhinogradentia), und wer nach der berühmten Steinlaus (lat. Petrophaga loriori) sucht, beißt ebenfalls nicht auf Granit. Um was für Artikel handelt es sich nun aber, die nach dem Urteil der empörten Streiter wider die Zensur bei Wikipedia vor die Tür gesetzt wurden? Wer das unbedingt wissen will, der wird nun bei Wiki-Waste fündig. Ob er dort glücklich wird oder wenigstens fröhlich, das möchte ich allerdings bezweifeln.

Ein paar Kostproben gefällig? Dem Rotstift zum Opfer fiel beispielsweise der Artikel über das „Pallindrom“, einfach deshalb, weil es sich „Palindrom“ schreibt, da beißt nun mal keine Steinlaus den Faden von ab. Kymbrisch ist eine Sprache? Nein, aber Kymrisch ist eine Sprache. Interessanter wird’s schon, wenn ansonsten unbekannte Personen oder Körperschaften durch einen beauftragten oder selbst erstellten Wikipedia-Artikel auf sich aufmerksam zu machen versuchen, aus Eitelkeit oder Geschäftsinteresse Popularität vortäuschen oder erlangen wollen oder gar sich selbst oder ihre Produkte auf diesem Wege kostenlos zu bewerben trachten. Eine ganze Reihe von gelöschten Beiträgen in Wiki-Waste riecht verdächtig nach dieser Sorte Schleichwerbung, z. B. die über Zenvo Automotive, den „TapgitarristenMathias Sorof oder den Engelberger Klosterbrotverfeinerer Heinrich Hess, dessen Nachfahren meinetwegen emsige Genealogen sein mögen, aber wen juckt’s?

Ins Straucheln komme ich aber mit meinen Vorbehalten gegen den Eifer der Wikiwastianer, wenn ich einen so rührend emsigen Artikel wie den über Akashlina lese. Der Autor ist erkennbar kompetent und der behandelte Gegenstand kann bei der Fülle der Belegstellen unmöglich gänzlich irrelevat sein. So wird sich doch wohl in Dreiteufelsnamen jemand finden, der den Text und auch das Gedicht von [s. Titelbild] Jibanananda Das (1899-1954) in verständliches Deutsch überträgt, oder?

Lass‘ sie atmen

Tuesday, 17. November 2009

Worüber ich einmal gebloggt habe, das vergesse ich so schnell nicht. Vor ein paar Tagen tauchte der Name der kubanischen Bloggerin Yoani Sánchez (* 1975) wieder in den Medien auf (vgl. Peter Burghardt: Neue Angst. Kubas berühmteste Bloggerin wird entführt, beleidigt, geschlagen; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 262 v. 13. November 2009, S. 15). Im Mai vorigen Jahres hatte ich über Sánchez berichtet, weil sie vom US-amerikanischen TIME magazine auf seine „Liste der 100 einflussreichsten Leute der Welt“ gesetzt worden war.

Das Castro-Regime macht der couragierten Kritikerin im eigenen Lande nach wie vor mit allen Mitteln das Leben schwer. Neulich beschrieb sie in einem Interview, welche Mühen es sie kostet, überhaupt einen Beitrag in ihrem eigenen Blog zu publizieren: „Grundlegend ist, dass ich wegen der langsamen Internet-Verbindungen auf Kuba vor allem offline arbeite. Weil ich zu Hause legal keinen Internet-Zugang haben darf, schreibe ich Texte auf meinem PC, speichere sie auf einem USB-Stick und stelle sie dann in einem der öffentlich zugänglichen Internet-Cafés online – und das möglichst schnell, weil es für mich ziemlich teuer ist. Am Anfang konnte ich den Blog noch selbst verwalten. Ende März vergangenen Jahres wurden von der Regierung aber Filter installiert, die das unmöglich machten.“ (Ole Schulz: „Die Revolution ist gestorben“. Interview mit Yoani Sánchez; in: Focus Nr. 14 / 2009 und online.)

Vor ihrem Haus treiben sich immer wieder finstere Gestalten herum, die sie einschüchtern wollen. Am Freitag, dem 6. November 2009 kam es nun zu einem massiven Übergriff, bei dem Sánchez um ihr Leben fürchtete. Unbekannte Täter wollten sie daran hindern, an einer Anti-Gewalt-Demonstration teilzunemen, die an diesem Tag in Havanna stattfand. Sie zerrten sie und ihren Begleiter Orlando Luis Pardo in ein Auto. Was dort geschah, beschreibt das Entführungsopfer auf ihrem Blog so: „Im Auto war schon Orlando, unbeweglich gemacht durch einen Karategriff, der ihn mit dem Kopf am Boden festhielt. Einer setzte sein Knie auf meine Brust, der andere schlug mir vom Vordersitz aus in die Nierengegend und auf den Kopf, damit ich den Mund öffnete und das Papier freigäbe. In einem Augenblick hatte ich den Eindruck, ich würde nie mehr aus jenem Auto herauskommen. ,Bis hierher haben wir es dir durchgehen lassen, Yoani. Jetzt ist Schluss mit deinen Mätzchen,‘ sagte der, der neben dem Fahrer saß, wobei er meinen Kopf an den Haaren hochzog. Auf dem Rücksitz lief ein seltsames Schauspiel ab: Meine Beine nach oben gestreckt, mein Gesicht gerötet vom Blutdruck und am ganzen Körper Schmerzen, auf der anderen Seite befand sich Orlando, in Schach gehalten von einem professionellen Schläger. In einem Akt der Verzweiflung schaffte ich es, diesen Mann durch seine Hose hindurch an den Hoden zu packen. Ich krallte meine Nägel hinein, da ich glaubte, er würde meine Brust bis zum letzten Seufzer abquetschen. ,Bring mich schon um‘ rief ich ihm zu, mit dem letzten Atemzug, der mir blieb, und derjenige, der vorne mitfuhr, riet dem Jüngeren: ,Lass sie atmen!‘“ (Nach der deutschen Übersetzung von Iris Wißmüller aus Yoani Sánchez‘ Blog Generation Y.)

Schließlich wurden beide mit körperlichen und seelischen Verletzungen wieder freigelassen. Offenbar hat die internationale Popularität der Freiheitskämpferin die Auftraggeber dieses Kidnappings dann doch vor der letzten Konsequenz zurückschrecken lassen.

Der Mut und die unverbrüchliche Treue zu den eigenen Überzeugungen, die mit wachsendem Druck von außen eher noch erstarken, müssen das Herz jedes freiheitsliebenden Menschen erfreuen. Kaum war der erste Schreck überwunden, da meldete sich Yoani Sánchez im Web zurück. Und wieder applaudierten ihre zahllosen anonymen Sypathisanten in Kuba und aus aller Welt in den Kommentaren des Internet, machten ihr Mut und feuerten sie an. Dieser Aufstand begeistert nicht nur durch seine Gewaltfreiheit, sondern auch durch seinen Humor. Im Handumdrehen wurde das Verbrechen in einem Comic dargestellt; und der Lebensgefährte der Bloggerin, der Journalist Reinaldo Escobar (* 1947), fordert einen mutmaßlichen Agenten des kubanischen Staatssicherheitsdiensten namens „Rodney“ [s. Titelbild] zum Duell – aber ganz unblutig, nur mit Worten.

Was? Weiß? Ich?

Monday, 16. November 2009

Na, um das gleich vorauszuschicken: Nachdem ich das Buch aus der Hand gelegt hatte, blieb leider, leider doch eine kleine Enttäuschung, wie nach einer verpassten Chance. Der ganz großartige Wurf ist Silvia Bovenschen mit ihrem in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Kriminalroman Wer Weiß Was leider dann doch nicht gelungen.

Vielleicht liegt das daran, dass sie dem Buch zu viel aufgebürdet hat. Es sollte Rätsel sein („Wer hat’s getan?“), Milieustudie und Gesellschaftskritik, Vielfältigkeitsprüfung einer begabten Charakterzeichnerin und intelligente Parodie auf die Gattung. Es sollte uns das alte Thema von Schuld und Freiheit des Willens, Sühne und Vergebung noch einmal in vollem Ernst nahebringen, um es fast im gleichen Atemzuge durch den Kakao zu ziehen. Und es sollte dies alles in einem streng berechneten, um kein Wort verlegenen und doch kein Wort verschwendenden, wahrhaft meisterlichen Tonfall tun.

Vielleicht ist es symptomatisch, dass der ansonsten sorgsam lektorierte Roman zum Ende hin dann doch ein paar Fehlerchen aufweist (ein überzähliges „sie“ auf S. 256, Z. 22; „im panisch verschlechtertem [!] Zustand“, S. 262, Z. 8/9; „Gott sein [!] Dank“, S. 270, Z. 32), gipfelnd in dem schrecklich falschen Satz: „Diese Frau, überlegte sie jetzt, die in ihrem strengen schwarzen Kostüm vor mir sitzt, sorgsam gekleidet und gepflegt, doch nur, um eine textile und kosmetische Sperre zwischen ihr [!] leibliches [!] Sein und das [!] der anderen zu errichten, macht den Eindruck“ usw. – Ich vermute mal, an der Stelle von „zwischen etwas errichten“, was ja unbedingt den Dativ nach sich ziehen muss – „zwischen ihrem leiblichen Sein und dem der anderen zu errichten“ – hat hier ursprünglich ein anderes Verb gestanden, z. B. „zu setzen“ oder „zu stellen“.

Das ist freilich nur eine dumme Kleinigkeit, aber sie deutet doch darauf hin, dass Autorin und Verlag zuletzt unter Zeitdruck gearbeitet haben. Ich möchte mir, weil ich anfänglich so positiv voreingenommen für Wer Weiß Was war, mit gutem Willen ausmalen, was aus dem Buch hätte werden können, wenn die Autorin die Courage und Geduld aufgebracht hätte, ihren Verlag gegen alle Abmachungen zu vertrösten, um noch ein Vierteljährchen auf die Fertigstellung und den letzten Schliff zu verwenden.

Aber so funktioniert der Literaturbetrieb bekanntlich nicht. Da wird knapp kalkuliert, mit der Zeit – und leider auch mit den Mitteln für die Ausstattung. Dieses Buch ist, was den materiellen Aspekt betrifft, wieder ein trauriges Beispiel für billiges Blendwerk. Gegen Pappdeckel als Einbandmaterial will ich ja gar nichts sagen, aber dass die Fadenheftung wie so oft nicht dransitzt, das schmerzt. Schon nach meiner ersten, wahrlich schonenden Lektüre ist das Buch schiefgelesen und wird auch so bleiben, wie jeder Kenner weiß. Aber die Laien sind in der überwältigenden Überzahl und lassen sich von den völlig überflüssigen Lesebändchen beeindrucken. (In diesem Fall ist’s gar ein goldenes.) Ach, das ist so traurig und steht in eklatantem Missverhältnis zur – bei allen kleinen Einschränkungen – hohen Qualität des Inhalts. Was kann man da nur tun? Was weiß ich!

[Titelbild: Porträtfoto Silvia Bovenschen von Jürgen Bauer im Umschlag ihres vorletzten Buches Verschwunden. © S. Fischer Verlag.]

Glück und Pech

Monday, 16. November 2009

Heute las ich zum zweiten Mal bei „Generationen betrachten“ in Oberhausen. Knapp zwanzig Zuhörer, darunter nur drei oder vier Männer. Die Kundenzahlen in den Buchhandlungen, wo zwei Drittel der Romanleser Leserinnen sind, weisen in die gleiche Richtung: Die kulturelle Schwindsucht breitet sich vom maskulinen Rand des Humanen her aus. Auch insofern bin ich mal wieder eine der Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Etwas mulmig ist mir dabei schon vor diesen Damenkränzchen.

Immerhin freut mich, dass ich es offenbar nicht allen recht machen konnte, sonst hätte ich an mir selbst zweifeln müssen: Vier Besucherinnen verabschiedeten sich unter vernehmbaren Missfallenskundgebungen in der Pause. Ich würde zu viel reden und zu wenig lesen, sowas stelle man sich doch nicht unter „Vorleseabend“ vor. Und dafür acht Euro Eintritt! Das passte nun allerdings so zauberhaft zu Johann Peter Hebels Kalendergeschichte vom Seltsamen Spazierritt, die ich eingangs zum Besten gegeben hatte, dass ich mit einem Schmunzeln zur Tagesordnung übergehen und meinen letzten Programmpunkt, Hans Carl Artmanns zotige Geschichte How much, schatzi?, vom Leder ziehen konnte.

Ich hatte die Veranstaltung unter den Titel „Glück im Unglück“ gestellt, als mir noch kein Schimmer aufgegangen war, was ich lesen würde. Tatsächlich verlegte ich mich bei der Textauswahl dann auf meine brandaktuellen Favoriten respektive Neuentdeckungen: Emmanuel Bove (durch Harald Wiesers Vermittlung in Menschen und Masken), Gisela Elsners Schrauben-Text (leicht gekürzt) und Was ist denn? von Raymond Carver. Gern hätte ich auch aus dem Krimi der Bovenschen gelesen, aber welches der fünfzig kurzen Kapitelchen hätte ich da auswählen sollen? Nein, dieser Roman wirkt nur als ein Ganzes. Immerhin habe ich die distinguierte Dame ausführlich vorgestellt und hoffe, dass es mir gelungen ist, die eine oder andere Zuhörerin für Silvia Bovenschen in toto zu interessieren.

Auf der Hinfahrt mit Bus und Bahn kämpfte ich immer noch gegen eine hartnäckige Art von Kopfschmerz, die mich schon seit zwei Tagen belästigte, vermutlich witterungsbedingt, denn nach ein paar winterlich kalten Tagen hatte es sich plötzlich wieder erwärmt. Nachdem ich mein Gepäck im Veranstaltungsraum an der Goebenstraße abgeladen hatte, blieb noch etwas Zeit und ich ging an die frische Luft. Nur wenige Schritte entfernt entdeckte ich den Altmarkt mit seiner Siegessäule. In stiller Zwiesprache mit der freundlichen Nike über mir [s. Titelbild] löste sich mein Kopfgrimmen in Rauch auf und verschwand mit den vorbeiziehenden Wolken hinterm Horizont.

Wie üblich trug mich dann mein frei assoziiertes Geplauder durch den Abend wie ein gut aufgepumptes Schlauchboot. Anschließend auf der ungemütlichen Heimfahrt, mit Besoffenen und streitlustigen Raufbolden in einem Abteil, graue Melancholie. Auch das wie üblich. Alles Sinnen und Trachten liegt ja dazwischen: hier der goldene Kranz der Siegesgöttin weit über unseren wehen Häupten, dort das lakritzig-klebrige Pech, von Aasvögeln erbrochen, in der Gosse zu unseren wunden Füßen.

Im Jungle

Sunday, 15. November 2009

Die „linke Wochenzeitung“ (Selbsttitulierung) Jungle World, die sich 1997 nach einem Redakteursputsch in der Jungen Welt ausgründete, gehört zu jenen sich als „kritisch-undogmatisch-antiimperialistisch-linksliberal-unorthodox“ verstehenden Medien, die ich regelmäßig, wenngleich nur sporadisch lese, um mich über den jeweils aktuellen Zustand der Debattenkultur in Deutschland zu unterrichten.

Heute stolperte ich dort zufällig in einer Einlassung des Aachener Politikwissenschaftlers Dr. Richard Gebhardt (* 1970) zur neuesten Provokation des Kölner Kardinals Joachim Meisner (* 1933) über ein bemerkenswertes Statement zu einem Thema, das mich andernorts auch einmal beschäftigt hat: Passt das von Gerhard Richter gestaltete Südquerhausfenster im Kölner Dom zu einem christlichen Sakralbau? Gebhardt schreibt dazu: „Das von Gerhard Richter geschaffene Domfenster war nicht nach dem Geschmack des Erzbischofs. Es passe eher in eine Moschee, meinte er. […] Der Kölner Kardinal ist ein Wiederholungstäter. Empörte Proteste werden ihn auch fortan nicht beeindrucken. Vielleicht aber der Umstand, dass ein Blick auf das von Richter gestaltete Fenster wöchentlich mehr Menschen in den Dom lockt als alle Predigten des Erzbischofs im ganzen Jahr.“

Mal abgesehen davon, dass ich nie verstehen werde, warum ein kritischer Geist bei einem Heimspiel seine begrenzten Kräfte darauf verschwendet, seine gleichgesinnten Leser zu beifälligem Kopfnicken zu veranlassen, immer wieder und wieder den billigen Konsens beschwörend, der in diesem Falle heißt, dass der Herr Meisner ein so makelloses Feindbild abgibt, wie man’s schon lange nicht mehr hatte; abgesehen auch davon, dass das Missfallen des Kardinals nicht auf ästhetische Bewertungen gründete, also mitnichten, wie Gebhardt schreibt, ein Geschmacksurteil war, sondern vielmehr ein theologisch hergeleitetes; und schließlich auch abgesehen von der durchaus bezweifelbaren, erkennbar schadenfrohen Annahme, Meisner sei durch den Zulauf zu beeindrucken, den das von ihm ungeliebte Fenster im Gegensatz zu seinen Predigten findet, denn man könnte zum Beispiel fragen, ob sich dieser Zulauf nicht zu einem beträchtlichen Teil dem Protest des Kardinals gegen dieses Glasfenster verdankt – abgesehen also von all diesen Unschärfen und Oberflächlichkeiten in Gebhardts Argumentation interessiert mich vor allem die Frage: Was bedeutet das Fenster?

Dass es nichts darstellt, in dem bunten Mosaik aus 10.512 farbigen Glasquadraten kein gegenständliches Motiv erkennbar ist und auch keine abstrakte Form, wie zum Beispiel ein Kreuz oder ein Muster, das sieht jeder Betrachter auf den ersten Blick. Ergäbe sich etwa ein Ornament, so wäre die Gedankenverbindung des Kardinals halbwegs verständlich, der hier aus unerfindlichen Gründen eine Nähe zur Gestaltung islamischer Moscheen zu erkennen meint. Allerdings hat schon Nicola Kuhn seinerzeit im Tagesspiegel mit Recht darauf hingewiesen, Meisner offenbare mit dieser Assoziation „seine Ahnungslosigkeit, was christliche Kunstgeschichte betrifft. Nicht nur im Islam, auch hier gibt es das Ornament seit jeher. Die vom Kardinal offenbar bevorzugte Gegenständlichkeit ist eine Variante der Kirchenfensterkunst. Zugleich watscht er die Muslime und die maurische Formensprache ab. Als sei ornamentale Kunst beliebiger als figürliche Glasmalerei – und weniger wert.“

Aber wir können das Ornament getrost abhaken, hier ist keins zu erkennen. Nun könnte sich hinter der Anordnung ja dennoch eine Regelmäßigkeit verbergen, wenn etwa jede Farbe einer Zahl oder einem Buchstaben entspräche und sich aus der Zahlenfolge ein Code ergäbe, zum Beispiel für das menschliche Genom. Aber der Künstler hat deutlich gemacht, dass dem nicht so sei und die Anordnung rein zufällig. Er habe lediglich dort eingegriffen, wo sich zufällig doch erkennbare Muster einstellten, zum Beispiel habe sich durch eine Häufung von weißen Quadraten in einer Ecke eine Eins ergeben. Den Vorwurf, sein Werk passe besser in eine Moschee, wies Richter befremdet zurück. Er habe keine Beziehung zum Islam und hätte niemals einen solchen Auftrag angenommen. Richter gab zu, dass seine Fenstergestaltung nicht katholisch sei. „,Aber wie sähe eine katholische Gestaltung aus, die nicht plagiatorisch die Historie beschwört und nicht kunstgewerblich ist?‘, fragte er. Auch wenn er im Domfenster den Zufall als überwältigende Macht darstelle und nicht als göttliche Vorsehung, befinde sich das Fenster dennoch im sakralen Rahmen am richtigen Platz. Richter erklärte, er fühle sich als Spross des Christentums, der ,ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches‘ nicht leben könne.“ (Welt online v. 31. August 2007.) – Vielleicht glaubt ja Richter eben an den Zufall als an die höhere Macht? Wie gelangte aber dann sein Glasbild in den Dom zu Köln? Doch nicht etwa durch Vorsehung?

Dumme Fragen

Monday, 09. November 2009

Gute Interviews können auf zweierlei Weise zustande kommen. Der Königsweg führt naturgemäß über die minutiöse Vorbereitung des Interviewers auf seinen Gesprächspartner, getreu dem alten Satz von Hesiod folgend, dass vor den Erfolg die Götter den Schweiß gesetzt haben. Sodann gehört der Mut dazu, Fragen zu stellen, die den Interviewten aus der Fassung bringen oder ihn, sofern es sich um einen Prominenten handelt, doch mindestens dazu verleiten, mehr von sich preiszugeben als das längst allseits vertraute Bild, das er sich mit der Unterstützung seiner Imageberater zugelegt hat. Wenn dann noch souveräne Spontaneität in der unmittelbaren Gesprächssituation hinzukommt, und zwar idealerweise auf beiden Seiten, beim Frager und beim Befragten, dann entsteht eins jener kleinen Kunstwerke, die über den Tag hinaus eine ästhetische Geltung behaupten. (Wer Beispiele solcher meisterhaft geführten Interviews sucht, der wird auf der Website des in dieser Hinsicht Maßstäbe setzenden André Müller fündig.)

Die andere, ferner liegende, darum im Ergebnis jedoch nicht weniger beachtliche „Herstellungstechnik“ eines lesenswerten Interviews geht gerade von den entgegengesetzten Voraussetzungen aus. Hier stolpert der Fragensteller seinem bedauernswerten Opfer vor die Füße wie, bestenfalls, ein harmloser Banause, im schlimmeren Falle aber wie ein gemeingefährlicher Ignorant. Das Wenige, was er über sein Gegenüber in Erfahrung gebracht hat, stammt aus der Wikipedia, wovon er noch die Hälfte vergessen, die andere Hälfte falsch verstanden hat. Was einem solchen Interviewer an Kenntnissen mangelt, sucht er meist durch Keckheit auszugleichen. Oft finden wir diese Konstellation, wenn ein junger Nachwuchsjournalist auf einen Intellektuellen im Greisenalter losgelassen wird. Das Aneinandervorbeireden kann in solchen Scheindialogen zu grotesken Verzerrungen führen, auf dass das Ergebnis schon wieder reizvoll ist. Wenn dann noch eins unserer aufstrebenden Lifestyle-Magazine den Mut oder die Instinktlosigkeit besitzt, ein solchermaßen entgleistes Gespräch zu publizieren, dann kann auch dies, wo nicht für bare Münze, so doch für wahre Kunst genommen werden. (Wie kommt es nur, aber oft erinnern mich Interviews der beschriebenen Machart an die Bilder von Otto Dix.)

Jüngst haben Sacha Batthyany und Mikael Krogerus für die Zürcher Zeitungsbeilage Das Magazin (# 45 v. 6. November 2009) an der Bar des Hotels Kempinski in Berlin ein Interview mit dem ungarischen Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész geführt, der heute seinen achtzigsten Geburtstag feiert. Gleich schon zu Beginn ihres Fragespiels unterläuft den beiden „Recherche-Journalisten“ der erste Schnitzer: Sie werfen das Konzentrationslager Buchenwald und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in einen Topf. „Sie waren 15, als Sie über Auschwitz nach Buchenwald deportiert wurden. Wussten Sie, wo Sie hinkommen werden?“ – „Nein. Neunzig Prozent der ungarischen Juden hatten keine Ahnung von den Konzentrationslagern.“ – „Wann haben Sie verstanden, was das [also Buchenwald] für eine Art Lager war?“ – „Bei der Ankunft haben wir noch nichts verstanden. Auch die Erwachsenen nicht. Sie ahnten überhaupt nicht, was passieren würde. Nicht mal bei der Selektion verstanden sie, was der Arzt mit ihnen machte. […]“ Kertész spricht also in seiner Antwort von seiner Ankunft in Auschwitz, da war er übrigens erst 14 ½ Jahre alt. Noch wird nicht ganz klar, dass Frager und Antworter aneinander vorbeireden. Später fragen die beiden dann: „Werden Sie nicht jeden Tag durch Ihre KZ-Tätowierungen an diese Zeit erinnert?“ Und nun erkennt Kertész, dass seine jugendlichen Gesprächspartner augenscheinlich ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben: „Ich hatte eine Nummer, eingenäht in meine Uniform, aber keine Tätowierung. Tätowiert wurde man nur in Auschwitz, nicht in Buchenwald, da müssen Sie besser recherchieren.“ Und dann spürt er, wie oberflächlich das Interesse dieser jungen Leute ist: „Hören Sie, was ist so interessant daran, über so ekelhafte Themen zu sprechen? Mit jungen Leuten würde ich viel lieber über etwas Schönes sprechen. Über Kunst oder schöne Frauen.“ Dazu fällt den „jungen Leuten“ nichts besseres ein, als den alten Mann der Verdrängung zu bezichtigen: „Ist es unangenehm, darüber zu sprechen?“ Das fragen sie allen Ernstes jenen Schriftsteller, der es wie kaum ein anderer seiner Leidensgefährten verstanden hat, alles ans Licht zu bringen, was er in der Hölle des Konzentrationslagers erleben musste. (Und später entblöden sie sich nicht, Kertész als Ignoranten vorzuführen, der den Namen Heidi Klum noch nie gehört hat: „Sie wollten doch über schöne Frauen reden.“)

Dann wird es interessant. Ninck und Batthayany befragen Kertész zu seiner Meinung über andere Bücher „über diese Zeit“. Er rühmt Celans Todesfuge, „die wunderbaren Essays von Jean Améry“, Ist das ein Mensch? von Primo Levi (den sie falsch Levy schreiben) und das schmale Werk des Polen Tadeusz Borowski. „Doch der Rest ist Kitsch […]. Das Lagerleben als Story, das geht nicht.“ Und was mit den Filmen sei? Mit dem berühmtesten Film zum KZ-Thema, Schindler’s List? Und jetzt macht der große Schriftsteller die beiden naiven jungen Männer für einen Moment sprachlos: „Schindler’s List? Der schlimmste Film von allen. Das ist alles scheissfalsch, ich kann das nicht anders sagen. […] Der Ausgangspunkt ist falsch. Dieses positive Denken. Spielberg erzählt die Geschichte aus dem Blick eines Siegers. Am Ende laufen die Leute in einer Reihe und singen, als ob die Menschheit gesiegt hätte. Der Ausgangspunkt eines KZ-Films kann nur der Verlust sein, die Niederlage der europäischen Kulturzivilisation. Das ist die Wahrheit: Holocaust-Erlebnisse sind universelle Erlebnisse. Der Holocaust ist kein deutsch-jüdischer Krieg, wer das denkt, der kommt zu nichts. Der Holocaust ist ein universelles Versagen aller zivilisatorischen Werte, und lange Zeit dachte ich, wir hätten daraus etwas gelernt. Aber ich lag falsch.“

Ja, wir lagen falsch. Und noch in diesem läppisch missglückten Interview wird genau dies deutlich.

[Titelbild: Zwei unbekannte Häftlinge blicken im Januar 1945 durch den Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers Auschwitz. – Laurence Rees: Die Nazis. München / Zürich: Diana Verlag, 1997, S. 190. – © Novosti.]

Wer weiß?

Saturday, 07. November 2009

Ich noch nicht, denn ich bin gerade einmal auf Seite 147 angelangt, habe somit noch nicht die Hälfte des wunderbaren Kriminalromans gelesen, der mich seit Anfang des Monats bei Laune hält. (Bettlektüre.) Ich habe zwar schon ein paar Ideen, wer der Mörder sein könnte, oder auch die Mörderin, wie ich mich beeile ausdrücklich zu ergänzen, denn ich habe „die feministische Sprachreform vollzogen“, die auf Seite 10 in Erinnerung gerufen wird. Zwar könnte ich mich trotzdem bewusst von solchen formalen Zwängen distanzieren, aber nach dem, was die Autorin an anderer Stelle über den beliebten „Verstoß gegen die political correctness“ geschrieben hat – „er war einmal witzig, als das Korrekte im Übermaß verordnet wurde, aber jetzt, wo es das Bemühen darum kaum noch gibt, spricht der Verstoß gegen die Verstoßer“ (Verschwunden. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008, S. 33) – bin ich verunsichert, ob mein Trotz gegen die feministische Sprachreform doch schon wieder chauvinistisch ist.

Die Autorin ist mir nicht erst durch dieses Buch aufgefallen. Schon durch die durchweg hymnischen Besprechungen ihrer Betrachtungen zur Idiosynkrasie, Über-Empfindlichkeit, war ich auf sie aufmerksam geworden (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000). Als dann vor drei Jahren ihre Notizen über das Unvermeidliche erschienen, Älter werden, da machte ich das Buch meiner Gefährtin zum Geschenk, die es mit Gewinn gelesen hat und darauf Wert legt, dass dies kein Buch über das Alter sei, sondern eben, wie der Titel ja ausdrücklich sagt, ein Buch übers Älterwerden (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006). Ich selbst habe aus Gründen, die zu erklären mich jetzt überfordern würde, beide nicht sehr umfänglichen, aber auf den ersten Blick hochkonzentrierten Bücher nicht gelesen. Aber sie stehen auf dem langen Bord meiner demnächst zu lesenden Bücher weit vorn und sind neuerdings noch ein gutes Stück weiter vorgerückt – weil nämlich Wer Weiß Was, das jüngste Buch der Autorin, mich schon nach den ersten Seiten im Sturm erobert hat (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2009).

An Silvia Bovenschen (* 1946), von der hier – Liebhaber der höchsten Humorkunst werden es längst erkannt haben – die Rede ist, berückt mich allerhand: ihr Feinsinn; die grazile Technik; der erkennbare Fleiß beim Feilen an Details; nicht zuletzt die nie schlummernden Selbstzweifel, die sie davor bewahren, sich von den Fliehkräften ihrer beachtlichen Originalität aus der Bahn tragen zu lassen. Mancher Leser, der über die Liste der „Figuren“ auf den Seiten 7 und 8 des Kriminalromans stolpert und sich fragt, ob er sich einen Roman mit dreißig namentlich genannten Personen zumuten will, nicht gerechnet die beiden Tiere und vier nicht näher spezifizierte Wesen, die auf die überwiegend unglaubwürdig klingenden Namen Ertzuj, Iopö, Jkln und Kurt hören sollen … mancher von diesem Entree abgeschreckte Leser mag das Buch also gleich wieder aus der Hand legen, womit er sich freilich um einen Hochgenuss brächte, soviel kann ich schon nach 147 Seiten sagen. Auch der Schutzumschlag ist bestimmt nicht jedermanns Sache, ich mochte ihn selbst dann nicht, als ich herausgefunden hatte, dass seine Urheberin Sarah Schumann (* 1933) mit der Autorin die Wohnung teilt und eine international renommierte Künstlerin im Gefolge des Surrealismus ist. (Darf man so sagen?)

Dass ich hier auf eine Goldader gestoßen bin, dringend nun auch die älteren Bücher der Silvia Bovenschen lesen muss und jene, die noch nicht zu meiner Bibliothek gehörten, beschaffen – das wurde mir noch zusätzlich bestätigt, als ich bei der Recherche nach Informationen über die Autorin und ihr Werk auf so sympathische Internetseiten stieß wie die Website und das Blog von Jürgen Bräunlein, der ein sehr aufschlussreiches Portrait von Silvia Bovenschen geschrieben hat; oder das erstaunliche Monnier Beach Blog der Buchhandlung Reul in Kevelaar, wo eine Appetit machende Rezension von Verschwunden verschwände, wenn ich sie nicht hier ans Licht zerrte.

Und nun nehme ich, wie der als schweigsam und sanft bekannte Bibliothekar Simon Menzel in Bovenschens Buch, meine Brille ab und reibe mir die Augen, als sei plötzlich nach diesem gewollten Ausbruch eine tiefe Müdigkeit über mich gekommen.

[Schluss folgt zum Schluss. – Titelbild: Porträtfoto Silvia Bovenschen von Jürgen Bauer im Umschlag des besprochenen Buches. © S. Fischer Verlag.]

Entropologie

Thursday, 05. November 2009

In den 1970er-Jahren, als es zum guten Ton gehörte, wenigstens näherungsweise Bescheid zu wissen, wenn die Rede vom Strukturalismus war, machte ich mich daran, das bekannteste Werk seines Hauptvertreters zu lesen, Traurige Tropen von Claude Lévi-Strauss.

Was ich an Neugier und gutem Willen zu viel hatte, mangelte mir nur zu oft an Ausdauer. Und so legte ich auch dieses wichtige Buch nach einem knappen Drittel aus der Hand, um mich einer anderen „Pflichtlektüre“ zuzuwenden.

Heute, dreißig Jahre später, blätterte ich zum ersten Mal wieder darin und zäumte das Pferd diesmal von hinten auf. Ich las die letzte Seiten des letzten Kapitels, das in der deutschen Übersetzung mit dem Titel „Die Rückkehr“ überschrieben ist und war erschüttert über die luzide Prophetie, die dieser Ethnologe und Philosoph hier in einer erbarmungslos unmissverständlichen Sprache zu Papier gebracht hat:

„Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen. Abgesehen davon, daß diese Rolle dem Menschen keinen unabhängigen Platz verschafft und daß sein überdies zum Scheitern verurteiltes Bemühen darin besteht, sich vergeblich gegen den universellen Verfall zu wehren, erscheint der Mensch selbst als Maschine – vollkommener vielleicht als die übrigen –, die an der Auflösung einer ursprünglichen Ordnung arbeitet und damit die organisierte Materie in einen Zustand der Trägheit versetzt, der eines Tages endgültig sein wird. Seitdem der Mensch zu atmen und sich zu erhalten begonnen hat, seit der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung der atomaren Vorrichtungen, hat er – außer wenn er sich fortgepflanzt hat – nichts anderes getan als Millionen von Strukturen zerstört, die niemals mehr integriert werden können. Ohne Zweifel hat er Städte gebaut und Felder bestellt; doch handelt es sich auch hier nur um Maschinen, die dazu bestimmt sind, Trägheit zu produzieren, und zwar in einem Tempo, das in keinem Verhältnis zur Menge an Organisation steht, das die gebauten Städte und die bestellten Felder implizieren. Was die Schöpfungen des menschlichen Geistes betrifft, so besitzen sie Sinn nur in bezug auf ihn, und sie werden im Chaos untergehen, sobald dieser Geist verschwunden sein wird. […]“ (Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. A. d. Frz. v. Suzanne Heintz. Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1970, S. 366 f.)

Ich zitiere den Schluss nicht bis zum Ende, das nicht zu ertragen ist. Am vergangenen Wochenende ist Claude Lévi-Strauss im Alter von hundert Jahren in Paris gestorben.

[Titelbild: Umschlaggestaltung für das zitierte Buch von Hannes Jähn (1934-1987).]

Was? Von wem?

Tuesday, 03. November 2009

Fragt man mich nach meinen Lieblingsbüchern oder, noch schlimmer, meinem einen allerliebsten Lieblingsbuch, dann verweigere ich prinzipiell die Antwort und liefere ersatzweise eine Beschreibung dessen, was Bücher an sich haben müssen, um sich aus der Vielzahl der Bücher, die ich lesend prüfe, als besonders beglückende hervorzuheben. Im Regelfall ist Lesen für mich eine, wenngleich meist angenehme, Art von Arbeit, nach der ich, wenn ich sie abgeschlossen, das betreffende Buch also bis zum Ende gelesen oder aber als ungenießbar aus der Hand gelegt habe, ein Gefühl der Erleichterung verspüre: Geschafft! Ganz selten aber fällt mir ein Buch zu, bei dem ich schon nach wenigen Seiten den irrationalen Wunsch verspüre, dass es nie zu einem Ende kommen möge. Ich drossele dann sofort mein Lesetempo, lese jeweils nur eine kleine Portion, gönne mir pro Tag bloß ein paar Seiten und finde ein außergewöhnliches Vergnügen darin, wann immer ich ein solches Buch wieder zur Hand nehme, mir zunächst die beim vorigen Mal gelesenen Seiten erneut zu Gemüte zu führen, wobei ich, auch das macht ja die besondere Qualität dieses Buches aus, stets überrascht bin, dass ich beim ersten Lesen längst nicht alle Feinheiten seiner Machart durchschaut noch alle Einzelheiten seines Inhalts angemessen gewürdigt habe.

Lange, zu lange musste ich zuletzt auf diese ebenso beglückende wie seltene Erfahrung warten. Ich war schon geneigt zu glauben, meine Ansprüche seien mittlerweile zu hoch, um noch einmal in den Genuss eines Buches kommen zu können, das die beschriebene Wirkung auf mich haben würde. Seit ein paar Tagen nun lebe ich mit einer Lektüre wie im Rausch.

Das Buch, das ich lese, ist ein Kriminalroman. Ich habe vor etlichen Jahren eine Phase durchlesen, in der ich Krimis im Dutzend verschlang. Einige wenige – von der Highsmith, von Boileau und Narcejac, von Patrick Quentin – hinterließen aus verschiedenen Gründen einen bleibenden Eindruck. Etlichen bei meinen Freunden beliebten, von ihnen vielfach gelobten Autoren dieses Genres versuchte ich mich mehrfach anzunähern, ohne etwa mit Georges Simenon, Raymond Chandler, Friedrich Glauser oder Boris Akunin so recht warm werden zu können.

Auf jene Krimileser, denen es darum ging, im Verlauf der Handlung möglichst frühzeitig den Täter zu erraten, sah ich mit leichter Geringschätzung herab. Literaturgenuss ist doch kein Ratespiel! Ein Kriminalroman soll bekanntlich vor allem spannend sein. Was das betrifft hielt ich es aber eher mit Krimis, bei denen ich mit einem längst bekannten Täter zittern musste, der mit allen Mitteln seiner Entlarvung zu entgehen versucht. Wie er da immer weiter in die Enge getrieben wird und in hoffnungslosen Situationen, in denen der Leser längst alles verloren glaubt, trotzdem noch einen Ausweg findet, wenngleich natürlich nur für ein weiteres kurzes Weilchen – das konnte, wenn es vom Autor meisterlich betrieben wurde, schon einen unvergleichlichen Genuss bereiten.

In dem Kriminalroman, der mir jetzt den so lange entbehrten Hochgenuss bereitet, steht nun aber die Frage nach dem Täter, genauer: der Identität des Mörders, steht jenes konventionelle Whodunit überraschenderweise im Vordergrund.

[Wird fortgesetzt und aufgeklärt.]

Protected: Fadenschein

Monday, 02. November 2009

This content is password protected. To view it please enter your password below:

Noface

Sunday, 01. November 2009

Dreizehn Jahre und drei Monate hatten wir auf Rufweite zu diesem Edeka-Laden gewohnt und regelmäßig dort eingekauft.

Doch nein, das ist nicht ganz richtig! Als wir in den Stadtwald zogen, war das Grundstück in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, auf dem der Laden dann bald stand, für ein Weilchen noch ein ungepflegtes Brachland, „Kleppes Feld“ genannt, wo ein Altwarenhändler sein Geschäft betrieb. Für Lebensmitteleinkäufe mussten wir die Hauptstraße bergauf zum Stadtwaldplatz, wo ebenfalls ein Edeka-Laden residierte, oder bergab zum Stiftplatz, wo die Konkurrenz mit niedrigeren Preisen lockte, unter oft wechselnden Firmennamen wie co-op, Depot und vielleicht noch weiteren, die ich längst vergessen habe. (Heute gibt es dort einen Getränkemarkt.)

Dann ergriffen wir die Flucht vor dem Dauerlärm der Hauptstraße, den wir zwar bewusst kaum mehr wahrnahmen, der uns aber dennoch an die nervliche Substanz ging. Nahezu fünf lange Jahre betraten wir „unseren“ Edeka-Laden nicht mehr, weil wir in einem anderen Stadtteil wohnten, wo wir stattdessen Stammkunden bei einem Kaiser’s wurden. Wir gewöhnten uns an ein geringfügig anderes Angebot, an unbedeutend abweichende Preise: hierfür ein paar Cent mehr, dafür ein paar Cent weniger. Und wir vergaßen die Gesichter der Kassiererinnen, die uns so viele Jahre lang nahezu Tag für Tag unser Haushaltsgeld abgenommen hatten, um uns an andere Kassiererinnen zu gewöhnen, die dies mit der gleichen freundlichen Selbstverständlichkeit taten.

Nun sind wir wieder zurückgezogen in die Nähe des Edeka-Ladens der Jahre 1991 bis 2004. Und es ist eine merkwürdige Erfahrung, wie die Zeit hier scheinbar stehengeblieben ist. Die Einrichtung wurde modernisiert, das schon. Manche Produkte wurden aus dem Programm genommen, andere kamen hinzu. Beim dritten, spätestens vierten Besuch hat man sich wieder orientiert. Hinter den Kassen nehme ich die altbekannten Gesichter wahr, wenige neue, was vermuten lässt, dass auch Kassiererinnen ausgeschieden sind, aber an die erinnere ich mich nicht mehr.

Und nun das Erstaunliche: Ich selbst werde nicht wiedererkannt, von keiner einzigen der Kassiererinnen. Habe ich mich etwa äußerlich so sehr verändert? Oder ist diese Asymmetrie der Wahrnehmung ganz natürlich, aus den verschiedenen Rollen von Personal und Kundschaft erklärlich? Vielleicht habe ich ja auch ein ausgesprochenes Inkognito-Gesicht, das im Gedächtnis meiner Mitmenschen kaum Spuren hinterlässt, ein Gesicht wie Noface in dem gleichnamigen, meisterlichen Roman von W. E. Richartz. Diese Erfahrung verunsichert mich. Aber warum? (Und es verunsichert mich zusätzlich, dass ich auch auf diese letzte Frage keine Antwort weiß.)