Original und Fälschung

Manche Menschen sind befremdet über die an Schamlosigkeit grenzende Bereitschaft vieler Blogger, ihr Privatestes öffentlich zu machen, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Sie unterstellen ihnen Narzissmus, Starallüren oder mindestens eine egomanische Weltsicht. Gleichzeitig wundern sie sich über die Arglosigkeit, mit welcher diese eitlen Menschen sich vor aller Welt offenbaren, wo man doch heute vielmehr auf der Hut sein sollte, dass man nicht von Marktforschern, Staatsbeamten, Arbeitgebern oder dem Nachbarn um die Ecke virtuell ausspioniert wird; und zwar selbst dann, wenn man sich bemüht, die Schotten dicht zu halten und so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Die an Exhibitionismus grenzende Selbstpreisgabe der Blogger scheint in einem schwer verständlichen Widerspruch zu stehen zu den Warnrufen der Datenschützer. (Hagen Rether hat vor Jahren schon diesen Widerspruch unterhaltsam auf die Bühne gebracht.)

Thomas Assheuer erinnerte jüngst in der ZEIT an eine Prophezeihung des Futurologen und Kommunikations-Theoretikers Marshall McLuhan, der genau diese Paradoxie prophezeit hat. Den Einfall der Medienöffentlichkeit ins Wohnzimmer, die sich in den 1950er-Jahren vollzog, würden die Menschen bald einmal damit beantworten, dass sie sich selbst veröffentlichten. Sie würden dann sein wie Reptilien, die sich auf links drehen, den Panzer nach innen wenden, während die seelischen Weichteile nach außen gekehrt würden. Assheuer erkennt in unserer heutigen Medienwirklichkeit das Eintreffen dieser Vorhersage, wenn „der Handybenutzer von heute […] einen voll besetzten Bus ungefragt über seinen Liebeskummer unterrichtet.“ (Thomas Assheuer: Der Magier; in: Die ZEIT Nr. 30 v. 21. Juli 2011.)

Oder wenn ich meine Nierensteine öffentlich mache, die heute früh von meinem Hausarzt diagnostiziert worden sind [s. Titelbild]. Welche Blöße gebe ich mir denn damit? Und wie kann eine solche Information schlimmstenfalls gegen mich verwandt werden?

Die Intimsphäre ist ein in mehrfacher Hinsicht zwielichtiger Raum. Wer Anspruch auf ihren Schutz erhebt, bekennt sich damit indirekt zu einem Verhalten, das das Licht der Öffentlichkeit scheuen muss; oder zu einem Zustand, der das Empfinden seiner Mitmenschen verletzt. Andererseits verliert bekanntlich manches Vergnügen seinen Reiz, wenn es aus dem Halbdunkel des Privaten ins gleißende Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird. Und es war schon immer eine ureigenste Herausforderung der Kunst, genau diese Ambivalenz des Verbergens deutlich zu machen. (So könnte die abendländische Kunstgeschichte als ein immerwährender Schleiertanz interpretiert werden, bei dem ja der Reiz darin liegt, das Verhüllte zu entblößen und die Blößen zu verhüllen.)

Nichts anderes spielt sich in den Weblogs ab. Man erfährt hier Dinge, die man sich nicht hätte träumen lassen. Ob man sie wissen will, steht auf einem anderen Blatt. Und wieder eine Frage ist, ob sie wahr sind oder bloß gut erfunden. So kann die Ultraschallaufnahme von meiner Niere sehr gut auch eine plumpe Fälschung sein. Aber was ist im Zweifelsfall belastender? Dass ich gesundheitlich beeinträchtigt – oder dass ich ein Schwindler bin?

One Response to “Original und Fälschung”

  1. pur slim Says:

    That is a very good tip especially to those new to
    the blogosphere. Brief but very accurate information… Thanks for sharing this one.
    A must read article!

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