Archive for July, 2008

Polgar-Soiree

Thursday, 31. July 2008


cafecentral

Das Polgar-Programm steht. Ich habe aus den 424 Feuilletons der ersten drei Bände seiner Kleinen Schriften ganze 26 ausgewählt. Es war eine rechte Quälerei, immer wieder zu streichen und zu opfern. Und doch ist das ja immer noch zu viel, denn wollte ich übermorgen alle Texte lesen, käme wieder ein Drei-Stunden-Programm dabei heraus. So überlasse ich die Auswahl und Reihenfolge dem Zufall und der Tagesform des Publikums. Jeder Gast darf ein Los aus dem Zylinder ziehen: 26 Lose mit den Titeln der 26 Texte. Tatsächlich stehen 25 Namen auf der Gästeliste – das letzte Los bleibt dann für mich.

Ulla meint, ich müsse aber doch zu Beginn etwas über Alfred Polgar sagen, den kenne ja schließlich heute keiner mehr. Auch das noch! Ich habe soeben die Biographie von Ulrich Weinzierl ausgelesen (Alfred Polgar. Wien · München: Löcker Verlag, 1985), könnte insofern munter ein gutes Stündchen damit füllen, seine Lebensgeschichte herzuerzählen. Aber bringt das was? Trägt es zum Verständnis oder auch nur zum Genuss der Polgar’schen Erzählkleinodien bei? Wohl kaum. Außerdem schalten die meisten Zuhörer ab, wenn man ihnen Jahreszahlen um die Ohren haut.

Am ehesten geht’s noch so: Ich erzähle von meiner Großmutter mütterlicherseits, Luise Wilhelmine, geborene Leipe, verheiratete und geschiedene Heß, wieder verheiratete und verwitwete Koch, die im Oktober 2005 im gesegneten Alter von gerade 98 Jahren verstorben ist. Zehn Tage nach der Geburt meiner Oma wurde Polgar 34 Jahre alt. So gewinnt man doch ein viel deutlicheres Bild, wann der Mann gelebt hat und wie lang das schon her ist. Neben die Jahreszahlen in den obligatorischen biographischen Zeittafeln schreibe ich mir immer das Alter der Betreffenden. Diese subjektive Zahl sagt ja meist mehr als das objektive Jahr.

Alfred Polak, der sich erst mit 40 offiziell in Polgar umbenennen ließ, wurde am 17. Oktober 1873 als drittes Kind eines jüdischen Klavierlehrers in Wien geboren. Dort besuchte er die Volksschule und anschließend das Leopoldstädter Gymnasium bis zur Untertertia, die er (erfolglos) wiederholen musste, dann lustlos eine Handelsschule. Ein missratener Sohn. Mit 22 trat er in die Redaktion der Wiener Allgemeinen Zeitung ein und schrieb dort unter dem Pseudonym „Alfred von der Waz“, später als Alfred Polgar mit 29 für den Simplicissimus (München), mit 32 für die Berliner Schaubühne (ab 1918 Weltbühne). In seinem 36. Jahr erscheint sein erstes Buch. Den 1. Weltkrieg verbringt er als 41- bis 45-Jähriger im Kriegsarchiv in Wien. Danach sehr produktives Schaffen als Redakteur für verschiedene Zeitungen: mit 47 erste Beiträge zum Tage-Buch, mit 49 zum Tag und zum Morgen (alle Wien). Mit 52, mitten in den „Goldenen Zwanzigern“, verlegt Alfred Polgar seinen Arbeitsschwerpunkt nach Berlin, behält aber seine Wiener Mansarde als Zweitwohnsitz. Seine Feuilletons erscheinen u. a. im Berliner Tageblatt, seine Bücher im Rowohlt-Verlag Berlin. Als 56-Jähriger heiratet er Elise Loewy, geb. Müller (gen. „Lisl“). Noch in der Nacht des Reichstagsbrands verlässt der mittlerweile 59-Jährige Berlin in Richtung Prag, hält sich anschließend aber meist in Zürich auf. Dort Freundschaft mit Carl Seelig, der ihn vergeblich zu fördern sucht. Depression. Paris-Reise mit 62, später dort dauernder Aufenthalt. Mit 64 verliert er durch den „Anschluss“ Österreichs seinen Hauptwohnsitz in Wien, mit 65 die deutsche Staatsbürgerschaft, welche ihm doch erst kürzlich zwangsweise verliehen wurde. Mit 66 flieht er mit Lisl vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris nach Marseille und anschließend zu Fuß über die Pyrenäen nach Lissabon. Kurz vor seinem 67. Geburtstag trifft Polgar in New York ein und reist von dort aus weiter nach Hollywood, wo er mit wenig Erfolg als Drehbuchautor Fuß zu fassen sucht. Im Alter von 72 Jahren wird Alfred Polgar Bürger der Vereinigten Staaten. Mit 75 besucht er erstmals wieder und anschließend mehrfach Europa, mit Stationen in Paris, Zürich, Wien, Salzburg, München, Berlin und Rom. Am 24. April 1955 stirbt Polgar im Alter von 81 Jahren nach einem Kinobesuch in einem Hotelzimmer in Zürich.

Die „Abenteuer“ dieser Biographie, so scheint es, waren ausschließlich durch äußere Katastrophen bedingt: zwei Weltkriege, Vertreibung ins Exil, Armut und Entwurzelung. Wäre dies nicht „dazwischen gekommen“, hätte Alfred Polgar seine Welt, das Café Central in der Wiener Herrengasse 14, vermutlich nie verlassen. Er hätte dort Schach und Bridge gespielt, geistreiche Frauen wie Ea von Allesch umflirtet und seine unübertrefflich feinnervigen Theaterkritiken geschrieben – und wäre heute nahezu vergessen, wie Luise Wilhelmine, meine Oma.

15 Kilo Buch

Wednesday, 30. July 2008

weltbuehne

Bei meiner Beschäftigung mit Hans Siemsen und Alfred Polgar, zwei literarischen Flaneuren und Meistern der „Kleinen Form“ aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts, bedauerte ich in den vergangenen Wochen wieder einmal, die legendäre Berliner „Wochenschrift für Politik – Kunst – Wirtschaft“ jener Zeit nicht zur Hand zu haben: Die Weltbühne.

Ich erinnere mich noch gut, dass Ende November 1978, ich erlebte mein erstes Weihnachtsgeschäft als Buchhandelsgehilfe bei Baedeker in Essen, die Männer im Wareneingang ächzend und fluchend ein paar außergewöhnlich schwere Pakete auf den Packtisch wuchteten. Die kamen aus Königstein im Taunus und enthielten den Nachdruck aller vom 14. April 1918 bis zum 7. März 1933 erschienen 778 Hefte der Weltbühne. Der Preis für die 16-bändige Ausgabe in rotem Leineneinband betrug damals 580 DM – für ein solches Riesenwerk mit über 26.000 Seiten durchaus angemessen, Maß genommen hingegen am schmalen Gehalt einer ungelernten Hilfskraft leider unerschwinglich.

Dass sich der Athenäum-Verlag überhaupt zum Wagnis eines solchen Mammut-Reprints entschloss, verdankt sich vermutlich der Pioniertat eines in mancher Hinsicht damals revolutionären Konkurrenten, der den konventionellen Verlegern und Sortimentsbuchhändlern seit 1969 Feuer unterm Hintern machte. Der Vertrieb und Verlag Zweitausendeins in Frankfurt am Main hatte nämlich im Vorjahr (1977) mit einer Sensation aufgetrumpft und Die Fackel von Karl Kraus nachgedruckt, zwölf Bände mit insgesamt 10.000 Seiten, zum Spottpreis von 148 DM und mit überraschendem Erfolg. Bis dahin war das Verlagsgeschäft mit Reprints ausschließlich Sache von ein paar spezialisierten Fachverlagen gewesen, wie z. B. Georg Olms (Hildesheim), Kraus Reprint (Nendeln / Liechtenstein) oder K. G. Saur (München), die hauptsächlich für Bibliotheken produzierten, in entsprechend niedrigen Auflagen und zu Preisen, die selbst die Möglichkeiten betuchter Privatkunden oft überstiegen.

Seither sind drei Jahrzehnte ins Land gegangen und die Buchhandelslandschaft hat sich gründlich verändert. Erstens werden heute umfangreiche Periodika-Sammlungen und Nachschlagewerke der Vergangenheit raumsparend auf CD-ROM angeboten, mit dem zusätzlichen Vorzug komfortabler Recherche-Funktionen. Als 1999 der Deutsche Taschenbuchverlag in München das Grimmsche Wörterbuch in 33 Bänden zum Preis von 1.200 DM offerierte, wurde dies noch als verlegerische Großtat gewertet. Mittlerweile gibt es längst, wieder mal bei Zweitausendeins, den Digitalen Grimm auf einer Silberscheibe für nur 49,90 €; und wer selbst die noch sparen will, wird im Internet blitzschnell auf dem Server der Universität Trier fündig.

Zweitens aber sind die Preise der Antiquariate – auch dies eine Folge des Internets – gerade für solch platzraubende Monsterwerke im freien Fall. Nur noch ein paar Papiernostalgiker wie ich sind bereit, 55 € zuzüglich Versandkosten für den Athenäum-Reprint der Weltbühne hinzublättern. Gestern traf die Apfelsinenkiste von einem Antiquariat in Kaiserslautern ein. Der Kurierbote ächzte und fluchte, ganz ähnlich wie vor dreißig Jahren die Männer im Wareneingang von Baedeker, obwohl es sich doch „nur“ um die kartonierte Ausgabe handelte. Der Antiquar hatte nämlich ein Dutzend offenbar unverkäufliche Bücher mit in den Karton gestopft. Und zur Entschuldigung schrieb er auf den Rechnungsumschlag: „Danke für die Entsorgung des ,Füllmaterials‘. Anders konnte ich nicht packen.“

Apostroph

Monday, 28. July 2008

apostroph

„Wie geht’s? Wie steht’s?“ Danke der Nachfrage, liebe Leserin, aber es könnte besser stehen und gehen. Ich habe mich nämlich in den letzten Tagen mit einem Problem herumschlagen müssen, das in seiner Unscheinbarkeit und Bedeutungslosigkeit kaum der Rede wert erschiene und das hier auszuwalzen mir zutiefst widerstrebt. Aber wenn die bezaubernde Leserin so anmutig und offenherzig fragt, kann ich unmöglich die Antwort schuldig bleiben. Ich will versuchen, so schnell wie möglich zur Sache zu kommen, muss aber doch leider etwas weiter ausholen, mindestens dies hier vorausschicken.

Erst jüngst habe ich mein Impressum renoviert und dort ein kleines Kapitelchen zum Thema Sorgfalt meines Weblogs eingebaut, als eine Art ethisches Tiefparterre direkt überm Basement der Grundvoraussetzungen. (In der Architektur des Impressums steht die Welt zwar auf dem Kopf und das „Basement“ thront ganz oben, dort wo sich bei den aus Stein gebauten Häusern das Dach befindet. Aber das nur nebenbei.) In diesem vollmundigen Selbstbekenntnis zu gnadenloser Sorgfaltspflicht heißt es gleich eingangs: „Der Betreiber der Website revierflaneur.de ist um Fehlerfreiheit in formaler und inhaltlicher Hinsicht bemüht. Der Text folgt den Regeln zur deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung in der reformierten Form von 1996 (mit den Änderungen von 2004 und 2006).“ Die versprochene Folgsamkeit ist aber, wie sich in tausenderlei kleinen Fällen und Unfällen immer wieder erweist, leicht versprochen und schwer gehalten.

Gnädigste! Wenn Du schon so harmlos und leichtin fragst, wie es um mich bestellt ist, kann ich Dir die erschöpfende Erklärung meines Verdrusses nicht ersparen. Du hast leichtfertig Deine Frage salopp verkürzt, indem Du fragtest: „Wie geht’s? Wie steht’s?“ Hättest Du Dir den Bruchteil einer Sekunde mehr Zeit gelassen und stattdessen ausführlicher gefragt: „Wie geht es? Wie steht es?“ – uns beiden wäre mancherlei erspart geblieben. Dir diese längliche Antwort, mir der Verdruss einer umständlichen Untersuchung.

Meine begnadete Lektorin, ein Geschenk des siebten Himmels, in dem zu schweben mir erst die Gnade eines unverdienten Schicksals gestatten wird, wenn der allerletzte unscheinbare, für gewöhnliche Sterbliche nahezu unerkennbare Fehler in meinen öffentlich gemachten Hirngespinsten das Zeitliche gesegnet hat, merkte nämlich schon bei früherer Gelegenheit an, vor dem Apostroph sei ein Zwischenraum zu setzen: „Wie geht ’s? Wie steht ’s?“ Dafür hatte sie gute Gründe, deren bester auf den Respekt gebietenden Namen DIN 5008 hört, das ist die Deutsche Industrienorm mit den Schreib- und Gestaltungsregeln für die Textverarbeitung. Dort lautet die Regel: „Dem Apostroph am Wortanfang geht im Allgemeinen der regelmäßige Wortzwischenraum voran.“ Aber ’s kam anders.

Seit ich nämlich den unmissverständlichen, eindeutigen und wohlbegründeten Korrekturhinweis meiner Lektorin erhalten hatte, mühte ich mich redlich, ihn zu befolgen – so sehr mir dies aus zugegeben gänzlich irrationalen, nicht DIN-beständigen Gründen widerstrebte. Ich las nämlich so allerlei, Pynchon, Polgar etc. pp., und auf Schritt und Tritt sprangen mir all die macht’s, hat’s, kann’s, will’s, schlägt’s, schreit’s, geht’s und steht’s ins Auge – alleweil ohne den industriell geforderten Zwischenraum. Schließlich meldete ich bei meiner Lektorin Bedenken an, die wieder einmal keine Mühen scheute und die Frage der Lücke der höchsten Instanz für solche Fragen vortrug, dem „Rat für deutsche Rechtschreibung“ in Mannheim. Von dort kam prompt die ebenso freundliche wie salomonische Antwort: „Liebe Frau C., ganz allgemein ist zu sagen, dass der Apostroph im Deutschen eine Auslassung kennzeichnet. Dabei gibt es Gruppen, bei denen der Gebrauch des Apostrophs vorgeschrieben ist und solche, bei denen der Gebrauch freigestellt ist. Zu erster Gruppe gehören beispielsweise Wörter, die bei fehlender Kennzeichnung schwer verständlich wären (In wen’gen Augenblicken). Dem Schreibenden freigestellt ist der Gebrauch des Apostrophs bei Wiedergabe von Auslassungen der gesprochenen Sprache (Das war’n Bombenerfolg!) – vergleiche dazu §96 und §97 im amtlichen Regelwerk. In Ihrem Beispiel wie geht’s handelt es sich um eine Auslassung, die aus der gesprochenen Sprache resultiert. Eine fehlende Kennzeichnung wie bei wie gehts würde nicht zu Missverständnissen führen. Demnach ist ein Apostroph nicht zwingend zu setzen. Die im Duden angegebene DIN-Norm für Textverarbeitung gibt an, dass vor dem Apostroph am Wortanfang ein Leerzeichen steht, dass aber in der umgangssprachlichen Abkürzung für es dieses Leerzeichen meistens weggelassen wird. Ihr Beispiel kann also folgerndermaßen geschrieben werden: wie geht’s oder wie gehts.“ – Meine Söhne sagen in solchen Fällen verquaster Indifferenz immer: „Geht’s noch?“ Und zwar ohne Lücke.

Qual der Wahl

Sunday, 27. July 2008

polgarfliege

Vorbereitungen zur CIII. Literarischen Soiree: Alfred Polgar. – Ich werde mich, das steht schon lange fest, auf Kostproben aus den Kleinen Schriften (Band 1 bis 3) beschränken, die Ulrich Weinzierl unter dem Patronat von Marcel Reich-Ranicki 1982 bis 1984 im Rowohlt-Verlag herausgegeben hat. Aus den insgesamt 424 Feuilletons des Meisters der „Kleinen Form“ gilt es nun, ein bis zwei Dutzend auszuwählen, die für den mündlichen Vortrag geeignet sind und ein wenn schon nicht vollständiges, so doch möglichst facettenreiches Bild seiner großen Sprachkunst ergeben.

Der Zufall will es, dass sich die insgesamt 1.272 Textseiten dieser drei Bände ohne Rest durch 424 teilen lassen. Demnach ist ein durchschnittliches Polgar-Feuilleton exakt drei Seiten lang. Drei Seiten dieser Ausgabe – ich hab’s gerade mit der Stoppuhr in der Hand an dem Text Ein stolzes Mädchen ausprobiert, der genau diesen Umfang hat – lese ich „ohne Not“ in sechs Minuten, was heißen soll: mit einer komfortablen Reserve für bedeutungsschwere Atempausen. Nach meinen langjährigen Erfahrungen als Vorleser muss das Äußerste, was man an Geduld und Aufmerksamkeit einer geneigten und gebildeten Zuhörerschaft abverlangen soll und kann und darf, sich mit einem Zeitrahmen von einer Stunde und dreißig Minuten bescheiden.

Dass es folglich bei der Zusammenstellung meines literarischen Menüs auf genau fünfzehn Gänge hinauslaufen wird, ist nicht mehr als das schlichte Ergebnis einer Rechenaufgabe für die zweite Klasse. Aus dem überreichen Repertoire der Polgar’schen Delikatessen gerade die für eine solche Tafelrunde am besten geeigneten herauszufischen und sie sodann noch in einer idealen Abfolge zu servieren – dazu bedarf es mehr als einer mit Auszeichnung bestandenen Matura des routinierten Küchenchefs.

Ich würde es mir jedenfalls zu leicht machen, folgte ich dem bekannten Rezept des Theaterdirektors im Vorspiel zu Goethes Faust: „Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, / Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. / Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ (Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3. München: C. H. Beck, 1986, S. 11.) Schon eher hilfreich ist dieser Aphorismus von Polgar selbst: „Erfahrung lehrt, daß es beim Dichten wie beim Pistolenschießen immer ein wenig die Hand verreißt. Meist nach unten. Man muß höher zielen, als man treffen will.“ (Kleine Schriften. Bd. 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984, S. 409.)

Ich stehe vor der paradoxen Aufgabe, als Maître de Plaisir und Küchenchef ausschließlich Amuse-Gueules reichen zu dürfen, von denen jedes einzelne jedoch schon Völlegefühle erzeugte, wenn der wahre Genießer es sich langsam und bedächtig auf der Zunge zergehen ließe – und zugleich meine Gäste beschwingt und leichten Herzens in die hoffentlich laue Sommernacht des 1. August entlassen zu wollen. Wie soll das gehen? Aber schließlich ist wahre Kunst ja immer die Bewerkstelligung von etwas Unmöglichem.

Protected: Samstag, 26. Juli 2008: St. Martin

Saturday, 26. July 2008

This content is password protected. To view it please enter your password below:

In eigener Sache

Friday, 25. July 2008

visitenkarte

Nach dem deutschen Telemediengesetz (TMG) vom 1. März 2007 sind Anbieter von elektronischen Informations- und Kommunikationsdiensten, somit auch die Betreiber von Weblogs im Internet verpflichtet, bestimmte personenbezogene Informationen über sich auf ihrer Website zu veröffentlichen, soweit sie ihre Internetpräsenz „geschäftsmäßig“ betreiben (§ 5 TMG). Diese Zusammenstellung von Informationen, landläufig „Impressum“ genannt, müssen leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar gehalten werden.

Ab wann eine Website als „geschäftsmäßig“ gilt, ist allerdings in der Rechtsprechung bisher umstritten; und somit auch die Frage, ob privat betriebene Websites impressumspflichtig sind. Im Zweifelsfall raten Juristen, sich an die Vorgaben des § 5 TMG zu halten. Nun verdiene ich mit meinem Weblog keinen einzigen Eurocent. Ich erhebe von den Lesern keine Gebühren und schalte keine Werbung auf kommerzielle Angebote. Allerdings empfehle ich in meinen Texten gelegentlich Bücher und andere Medien. Ist dies vielleicht schon eine „geschäftsmäßige Tätigkeit“, selbst wenn ich von den Herstellern und Anbietern dieser Angebote für meine Empfehlung nicht entlohnt werde? Ich will da lieber auf Nummer sicher gehen und habe deshalb ein Impressum veröffentlicht, das den Mindestanforderungen des TMG entspricht.

Bei dieser Gelegenheit habe ich dort zugleich ein paar weitere „Grundsätze“ und „Spielregeln“ veröffentlicht, die für mein Weblog, für mich und für seine Nutzer gelten: eine Definition der Inhalte und Absichten dieser Website; mein Bekenntnis zur Sorgfalt bei der Erstellung der Inhalte; die Begrenzung meiner Haftung, insbesondere auch für Inhalte, auf die ich durch Links verweise; Regeln für den Umgang mit Kommentaren; meinen Anspruch auf das Urheberrecht an den von mir hier veröffentlichten Texten; und schließlich eine Erklärung zum Datenschutz.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Ich habe mir sagen lassen, dass es Beutelschneider gibt, gewerbsmäßige Abmahnvereine, die nur darauf lauern, einem harmlosen Blogger wie mir nicht vorhandenes Geld aus der leeren Tasche zu ziehen. Und auch vor übelwollenden Konkurrenten im unüberschaubaren Webspace müsse man auf der Hut sein, die sich durch ein ehrliches Wort auf den Schlips getreten fühlen und auf Rache sinnen.

Da ich mir aber keine unnötige Blöße geben und weiterhin ganz unbefangen auf Schlipse meiner Wahl treten möchte, wann immer mir dies im Rahmen der Meinungsfreiheit möglich und in der Sache angezeigt erscheint, habe ich einen Arbeitstag geopfert und mich notgedrungen dieser Pflicht entledigt. Meine treuen Leser bitte ich zu entschuldigen, dass ich ihnen heute keinen unterhaltsameren Lesestoff anbieten kann. Dafür wird der Lesestoff der Zukunft vielleicht aber umso interessanter.

Habent sua fata libelli (I)

Thursday, 24. July 2008

polgarzeichnung

Während in den vergangenen Wochen meine Begeisterung für Alfred Polgar beim Lesen ständig wuchs, schrumpfte im gleichen Maße – die Mathematiker nennen dies wohl „umgekehrt proportional“ – mein ursprünglich fester Vorsatz: mich keineswegs in Versuchung führen zu lassen, die sechsbändige Dünndruck-Ausgabe seiner Kleinen Schriften über ZVAB zu ordern. Der Vorsatz tendierte schließlich gegen Null, und was dies für den Grad meiner Verehrung von Polgar bedeutet, mögen die Mathematiker ausrechnen. Auf dem Weg zu diesem Moment der Umkehr taten mir die ersten drei Bände der Taschenbuch-Ausgabe, Musterung, Kreislauf und Irrlicht, beste Dienste, in denen ich skrupellos annotierte und die ich ohne Rücksicht auf Soßenspritzer auch neben den Spaghettiteller legen durfte. Arbeitsexemplare eben.

Vor drei Tagen war ’s dann um mich geschehen. Ich durchsuchte das Angebot der Antiquariate nach einer möglichst gut erhaltenen Erstausgabe der Sammlung, erschienen von 1982 bis 1986 (WG 53), wobei mir deren erste Hälfte vollauf genügen sollte. Die Buchrezensionen und erst recht die Theaterkritiken, die in den Bänden vier bis sechs zusammengetragen sind, waren mir nicht so wichtig, und was Letztere betrifft, kann ich vielleicht sogar ganz auf sie verzichten. Denn zu dramatischer Literatur und Bühnenkunst habe ich nun mal ein gestörtes Verhältnis, genauer gesagt: gar keines. Der Balken in meinem Auge ist aus dem Holz der Bretter geschnitzt, die die Welt bedeuten. Shakespeare? Ich muss immer wieder nachschauen, wie sich der noch mal schreibt.

Und tatsächlich wurde ich beim Mausrädchendrehen schnell fündig. Für nur 50 € erwirbt der staunende Sammler 1.272 Textseiten Polgar, fein ausgestattet, in königsblauem Leineneinband, auf augenfreundlich-chamoisfarbenem Dünndruckpapier und nahezu verlagsfrisch. Lediglich die Schutzumschläge seien, so der Antiquar, am Rücken „leicht aufgehellt“. (Was er verschweigt: dass die sonst so edlen Bücher nicht fadengeheftet, sondern gelumbeckt sind; doch diese Barbarei war Mitte der 1980er-Jahre bei deutschen Verlegern ja leider längst Usus.) Die Polgarbände haben also beim Vorbesitzer in der Sonne gestanden? Aber da gehören sie ja schließlich auch hin! Das Vergnügen, in diesen edlen Büchern zu lesen, kostet mithin knapp vier Eurocent pro Seite: ein Spottpreis! Mit einer Tankfüllung für 50 € fahre ich per Smart von Essen nach Oldenburg und zurück. Was soll ich in Oldenburg? Da bleibe ich doch lieber smart in meinem königsblauen Ohrensessel sitzen und lese in den königsblauen Polgar-Bänden.

Dann hieß es noch in der Beschreibung des Antiquars: „Beiliegt: Verlagskorrespondenz zu der Ausgabe.“ Ein kleines Schmankerl obendrein? Da war ich aber gespannt! – Die „Verlagskorrespondenz“ erwies sich als ein maschinenschriftlicher Brief der Presse- und Informationsabteilung des Rowohlt-Verlags an Herrn Thilo Koch, 7201 Hausen ob Verena: „Sehr geehrter Herr Koch, mit Ihrem Schreiben vom 14. 10. 86 bitten Sie um die Zusendung der Polgar-Bände 4, 5 und 6. – Wir müssen an Ihr Verständnis appellieren, aber leider sind wir nicht in der Lage, Ihrem Wunsch zu entsprechen, da bei der sehr geringen Auflagenhöhe uns keine Freiexemplare für den Rezensionsversand zur Verfügung stehen. Es kommt jedoch immer wieder vor, daß einzelne Titel nicht in den Rezensionsversand gegeben werden – wir bedauern das selbst. Mit freundlichen Grüßen.“

Damit wäre also auch die Provenienz meiner drei heute eingetroffenen Polgar-Bände geklärt. Thilo Koch, der prominente deutsche Fernsehjournalist, Washington-Korrespondent und Buchautor (u. a. Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte, 1961) starb vor knapp zwei Jahren in Hausen ob Verena. Die Erben machen die Bücher des Alten zu Geld, nur zu verständlich bei den steigenden Spritpreisen. Und so flattert das Brieflein auf meinen Schreibtisch. Gibt man „Thilo Koch“ und „Polgar“ in Google ein, findet man gerade mal eine einzige relevante Belegstelle: Tucholsky war ein großer Journalist, auf andere Weise auch Polgar.“ Das schrieb Koch in einem Essay unter dem Titel Ein Journalist und das Vaterland (in: Die Zeit, Nr. 36 v. 5. September 1957). Ob Thilo Koch deshalb so dringlich die Bände 4 bis 6 der Polgar-Ausgabe haben wollte, um seinen fragwürdigen Satz aus dem Jahr 1957 noch einmal zu prüfen? Und um uns vielleicht anschließend zu erklären, was er mit „auf andere Weise“ präzis gemeint hat? Wohl kaum. Ihn störte einfach die Unvollständigkeit dieser Werkausgabe in seinem sonnenbeschienen Bücherschrank. Und das kann ich sogar nachempfinden.

[Fortsetzung: Habent sua fata libelli (II).]

Skrivekugle

Wednesday, 23. July 2008

skrivekugle

Vor einigen Jahren erfuhr ein beruflicher Vielschreiber in der Schweiz zufällig, dass sein Tagewerk durch eine völlig neue technische Erfindung erheblich vereinfacht werden könnte. Da seine Sehkraft durch das viele Lesen sehr gelitten hatte und das Schreiben mit dem modernen Hilfsmittel nach einer Woche Übung, wollte man der Reklame glauben, der Tätigkeit der Augen gar nicht mehr bedürfe, trat er mit dem Erfinder, einem Herrn Malling-Hansen in Kopenhagen, in Korrespondenz und bestellte wenig später den Skrivekugle genannten Apparat.

Der experimentierfreudige Mann hieß Friedrich Nietzsche, man schrieb das Jahr 1882. Sein anfänglicher Optimismus wurde allerdings bald gedämpft. Die Maschine traf in beschädigtem Zustand ein, blieb auch nach der langwierigen Reparatur durch einen örtlichen Mechaniker überaus labil, von einer bequemen Handhabung konnte nicht die Rede sein. Zwar gelang es Nietzsche, seine Minutenanschlagszahl von anfänglich 15 mit der Zeit auf rund 100 zu steigern, aber das blinde Finden der Buchstaben bereitete ihm bis zuletzt einige Mühe, die das Schreibtempo verlangsamte. Nachdem die Skrivekugle, „delicat wie ein kleiner Hund“, immer wieder „viel Noth“ gemacht und schließlich einen nicht mehr behebbaren „Knacks weg“ hatte, kapitulierte er vor der Tücke des Objekts und kehrte reumütig zu Soennecken’s Kurrentschriftfeder Nr. 5 zurück.

Die Episode ist deshalb heute noch von Interesse, weil sie den Philosophen ganz nebenbei zu einer Einsicht brachte, die für technische Innovationen an Hilfsmitteln und Werkzeugen des Schreibens und Lesens ganz allgemein auch heute noch zutrifft. Als sein Freund Heinrich Köselitz von der Anschaffung der Skrivekugle erfuhr, schrieb er an Nietzsche: „Nun möchte ich gern sehen, wie mit dem Schreibapparat manipulirt wird; ich denke mir, daß es viel Übung kostet, bis die Zeilen laufen. Vielleicht gewöhnen Sie sich mit diesem Instrument gar eine neue Ausdrucksweise an – mir wenigstens könnte es so ergehen; ich leugne nicht, daß meine ,Gedanken‘ in der Musik und Sprache oft von der Qualität der Feder und des Papiers abhängen.“ – Darauf antwortet Nietzsche: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Wann werde ich es ueber meine Finger bringen, einen langen Satz zu druecken!“ (Zit. nach Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Carl Hanser Verlag: München · Wien, 2000, S. 505.)

Dieser Tage erschien ein brillantes Essay von Nicholas Carr, das die Auswirkungen des Internets auf unser Lesen und Schreiben und damit schließlich auch auf unser Denken zum Thema hat. (Is Google Making Us Stupid?; in: The Atlantic Monthly, Vol. 301, No. 6, July/August 2008). Carrs kritische Einwände, gut fundiert durch aktuelle medizinisch-psychologische Studien, haben der Internet-Community reichlich Diskussionsstoff geliefert. Alex Rühle beschließt seinen Artikel in der heutigen SZ über Carrs Essay mit dem Satz: „Interessant wäre es nun noch, gemeinsam durch einige Blogs zu flanieren, die sich an Carrs These abarbeiten, wir stünden an einem evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt, da das tiefe, entspannte Denken, das Lesen eines langen Textes, dieses richtige Lesen, bei dem man das Buch über Tage mit sich herumträgt, ins Cafe, an den Fluss, ins Bett, und mit den Figuren zu leben beginnt, dass uns all das bald schon gar nicht mehr möglich sein werde […].“ Genau dies habe ich in den nächsten Wochen oder auch Monaten im Unterschied zu Rühle vor, der sich entschuldigt: „[…] aber zum einen habe ich seit 20 Minuten keinen Youtube-Clip mehr angeschaut und Sie müssen ja sicher auch längst weiter.“ (Abgelenkt von der Ablenkung; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 170 v. 23. Juli 2008, S. 11.)

Nein, nein! Keineswegs! Ich bin nicht in Eile.

Interview mit a. p.

Tuesday, 22. July 2008

musil

Ihm sei „so zu Unmute“, dass er „in den Spiegel spucken“ möchte. So beschrieb Alfred Polgar seine Gemütsverfassung, nachdem er von Robert Musil ungefragt interviewt worden war. (Alfred Polgar: Was so ein Interviewer alles anstellt; in: Die literarische Welt, II. Jahrgang, Heft 11, 1926, S. 7; hier u. im Folgenden zit. nach Irrlicht. Kleine Schriften, Bd. 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 367-369.)

Musil hatte zuvor, ebenfalls in der noch jungen Literarischen Welt des gleichfalls noch jungen Willy Haas, ein blitzgescheites Essay über den ihm so nahen und zugleich so fernen Caféhausliteraten veröffentlicht, sein Interview mit Alfred Polgar, das vieles in einem ist: Konfrontation, Schmeichelei, Infragestellung und Verbeugung vor einem mindestens gleichrangigen, aber doch so anders gearteten literarischen Phänomen – und zudem eine der klügsten Äußerungen dieser Zeit über die (wieder mal) noch so junge journalistische Gattung Interview.

Die beiden Texte sind, wenn man sie zusammen sieht, ein Glücksfall sowohl für die Musil- wie für die Polgarrezeption. Hier schlagen zwei grundkonträre Eggheads der Goldenen Zwanziger aneinander und der Ton, der dabei herauskommt, klingt lange nach, wenngleich – oder vielmehr gerade weil – er sich im Pianissimo entfaltet: allergediegenstes Edelmetall eben. Nicht umsonst hat Ulrich Weinzierl dieser Begegnung in seiner Polgar-Biographie ganze zwei Seiten eingeräumt.

Robert Musil beschreibt seine erste Begegnung mit Polgar, „auf einer Straße mit Bäumen, mitten in Wien“, durch eine Dame auf offener Straße vermittelt: „Ich konnte im Dunkel nicht mehr von ihm ausnehmen als eine schlanke Gestalt, die als jung auf mich wirkte, obgleich ich wußte, daß ich selbst um etliche Jahre jünger war […] und ich weiß auch durchaus nicht, wie er fortging, denn miteinemmal fehlte er ebenso rasch, wie er gekommen war.“ So Musil. Und der Satz, der sich daran anschließt, hat geradezu Ewigkeitswert: „So ist es bis heute geblieben.“

Alfred Polgar fühlte sich nach eigenem Bekenntnis, wenn man seiner kurzen Replik auf dieses „Interview“, das niemals geführt wurde, glauben darf, anschließend „wie auseinandergenommen und nicht mehr zusammenzusetzen, aufgetan, abgetan.“ Und zuvor schreibt er: „Der seelische Zustand, in den ein solches Interview versetzt, ist analog dem körperlichen, der sich einstellt, wenn man künstlich zum Erbrechen gereizt wird.“ Für den Gereizten mag dies ja überaus unangenehm sein. Uns Zuschauern des Vorgangs beschert er aber, wie auch schon das vorhergehende Kitzeln mit bunter Feder in der Kehle des Opfers, ein überaus reizvolles, nuancenreiches Farbenspiel.

Ivn istn, eivn istn!

Monday, 21. July 2008

polgar

Jetzt muss ich mich um 180 Grad drehen, oder vom Äußersten ins Innerste wenden, indem ich vom Größten aufs Kleinste umsattle. Gerade mal zehn Tage bleiben mir noch zur Vorbereitung meiner CIII. Literarischen Soiree. Für solche Rezitationsabende eignen sich nach langjähriger Erfahrung Romane nur mäßig, schon gar nicht solche Wälzer wie Pynchons Gegen den Tag. Mit zweien habe ich ’s mal versucht, Nabokovs König Dame Bube und Die Besessenen von Gombrowicz in Fortsetzungen gelesen und dann beschlossen: Nie wieder! Es gelingt ja nicht, zwei bis drei Dutzend Zuhörer über einen Zeitraum von einem halben Jahr jeweils zum Monatsersten vollständig zu versammeln. Ein paar fehlen immer, die Konkurrenz des Fernsehprogramms ist übermächtig. Dann hat man als Veranstalter die leidige Pflicht, das Verpasste in Kurzfassung nachzutragen. Kurzum: Romane sollen die Leute gefälligst selbst lesen.

Geradezu ideal geeignet zum Vortrag auf einer solchen Literarischen Soiree ist die „Kleine Form“, wie sie Anfang des vorigen Jahrhunderts für den freien Raum unterm Strich in den Zeitungsfeuilletons ersonnen und von Männern wie Kurt Tucholsky, Franz Hessel, Victor Auburtin, Anton Kuh und – ja: auch Hans Siemsen kultiviert wurde. Der unbestritten größte Meister dieser „Kleinen Form“ heißt Alfred Polgar. Ihm werde ich am 1. August vor einem hoffentlich aufmerksamen und empfänglichen Publikum huldigen.

Der Wälzerschreiber aus dem näheren, oder, je nach Sichtweise, ferneren Umkreis der Genannten, Robert Musil, der mich mit seinem viel gerühmten und wenig gelesenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften schon wiederholt zu optimistischen Lektüreanläufen provoziert hat, von denen der weiteste Sprung bis zur Seite 429, bis zum 92. Kapitel gelang; jener Zeit raubende Musil also, der ein ganz gegensätzliches Ziel verfolgte, bemäkelte an der Kurzprosa allgemein, dass es ihr leicht falle, „bedeutend zu tun, so ungefähr auf einem schmalen Raum, der nicht zu viel Prüfung gestattet.“ (Robert Musil: Nachlaß, Mappe IV, 3 Sig, 15087 Series Nova, S. 20 f.; hier zit. nach Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Eine Biographie. Wien · München: Löcker Verlag, 1985, S. 137.) Und speziell zum konkurrierenden „Meister der Kleinen Form“ stellt er in seinem Tagebuch folgende Frage: „Aber solche Skizzenbücher ermüden; siehe Polgar. Warum ermüden sie mehr als Romane?“ (Robert Musil: Tagebücher. Hrsg v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, S. 896.)

Ich kann mir nicht helfen, aber beim Lesen solcher ermüdeten und müden Mäkeleien drängt sich mir ein Verdacht auf: Da neidet der verkannte Fleißarbeiter Musil seinem Mitbewerber um den Königsthron der Prosaschriftstellerei, mit einem Geringen von Schreib- und Lesezeit einen mindestens gleich großen Effekt zu erzielen. Polgar als Schöpfer einer zukunftsweisenden literarischen Gattung benötigt hierzu nur einen Bruchteil von dem Papier, das der späte Romancier Musil für sein magnum opus durch die Druckmaschinen laufen lässt. Und dann kommt Musil nicht einmal zu Rande mit seinem maßlosen Großvorhaben. Der Mann ohne Eigenschaften blieb bekanntlich Fragment. Alfred Polgars tausend Werklein hingegen sind allesamt eines im doppelten Sinn: vollendet.

Um aber immerhin auch Musil nicht Unrecht zu tun, will ich zum Abschluss doch darauf hinweisen, dass von ihm eines der schönsten zeitgenössischen Essays über Polgar stammt, vorzüglich geeignet, wenngleich leicht gekürzt, zur Einleitung in meine geplante Soiree. Es heißt Interview mit Alfred Polgar und ist zuerst erschienen am 5. März 1926 in Die literarische Welt. Dieses Essay ist als Einstimmung auf den Meister selbst deshalb besonders tauglich, weil es den Bogen spannt von meiner letzten, der CII. Literarischen Soiree, indem es so beginnt: „Eines Tages sagte ich mir, das Interview ist die Kunstform unserer Zeit; denn das großkapitalistisch Schöne am Interview ist, daß der Interviewte die ganze geistige Arbeit hat und nichts dafür bekommt, während der Interviewer eigentlich nichts tut, aber dafür honoriert wird. – Außerdem ist es entzückend, daß man bei einem Interview einen Menschen in einer Weise ausfragen kann, die man sich selbst verbitten würde. […] Man muß ihn in Schrecken versetzen, einschüchtern; dann fragt man ihn im Namen der Kulturverpflichtung mit Erfolg um Dinge, die er niemals freiwillig preisgeben würde. – Das Schlimmste, was vorkommen mag, ist, daß er die Antwort verweigert.“ (Zit. nach Robert Musil: Gesammelte Werke II. Prosa und Stücke · Kleine Prosa, Aphorismen · Autobiographisches · Essays und Reden · Kritik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1978, S. 1154 f.)

Kölnreise

Wednesday, 16. July 2008

daphne

Sehr selten und immer seltener, kaum aus besonderem Anlass oder triftigem Grund, sondern aus einer aufflackernden Laune juveniler Abenteuerlust heraus, weil mir der Schalk im Nacken sitzt und ich mich zu seinem Gaul machen will, wo ich üblicherweise doch immer im bequemen Herrensattel meine Prinzipien reite, also in einer recht eigentlich masochistisch grundierten Stimmungslage bequeme ich mich zu dem Entschluss, eine Reise anzutreten.

Ist der Tag der Abreise dann plötzlich da wie heute, schimpfe ich mich einen Toren und alten Trottel, der sich diesen Tag verderben musste in einem lange schon zurückliegenden, im Rückblick unerklärlichen Moment der Schwäche. ,Worauf habe ich mich da bloß wieder eingelassen!‘ Der schwarzgallige Verdruss wird allein dadurch erträglich, dass dieser Tag ja zugleich der Tag der Rückkehr ist. Und der tatsächliche Aufbruch ist mir überhaupt nur möglich durch die Aussicht auf die erfreulich nahe Rückkehr. Ohne diese frohe Erwartung müsste ich im letzten Moment noch unweigerlich stornieren.

Wie es in Köln so war? Zauberhaft – auch dank meiner staunenden Begleitung.

Die Reise galt meinem alten Freund Kamillus: dem großen Bibliophilen. Sie galt seiner kleinen, aber in jeder Kleinigkeit so bedachtsam und geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Kalk. Sie galt dem Schrägstand seiner Augenbrauen bei konzentriert gesuchten Formulierungen, die dann in solch bewundernswerter Präzision über seine Lippen kommen, der Rechtschaffenheit seines gründlich erwogenen Urteils – das ich freilich nicht immer teile – und dem im Alter noch immer so präsenten, so vielseitigen Wissen. Sie galt seiner Lebendigkeit, die gerade vor dem Hintergrund einer tiefen, allgemeinen Resignation erst ihre Strahlkaft gewinnt. Sie galt zuletzt auch, fast schäme ich mich, es zu bekennen, seiner erlesenen Bibliothek, von der umgeben zu sein mir stets aufs Neue ein fast körperlich spürbares Gefühl intensiver Lust bereitet.

Der geplante Höhepunkt der Reise war jener Augenblick, als ich Hans Siemsens Tigerschiff in eigenen Händen hielt, seine „Jungensgeschichten“ mit den zehn handsignierten Originalradierungen von Renée Sintenis, einer ihrer bekanntermaßen schönsten Arbeiten für den Buchdruck, erschienen 1923 im Querschnitt-Verlag in Frankfurt, im Impressum zusätzlich von Siemsen und Sintenis signiert, eins von nur 250 nummerierten Exemplaren, als 26. Flechtheim-Druck erschienen. Zauberhaft – aber vorbei. Ich bin wieder daheim.

Sturm

Tuesday, 15. July 2008

bastille

In der Mitte oder am äußersten Rand (oder gar noch jenseits von ihm); ganz oben an der Spitze der High Society oder tief unten im Abgrund, bei den Bettlern in der Gosse; drinnen in der warmen Stube oder draußen vor der Tür, in bitterer Kälte – diese Ortsangaben bezeichnen ganz konkret die soziale Stellung des einzelnen Menschen, seit Menschengedenken.

Die Gegebenheit solcher individuellen Unterschiede als Ungerechtigkeit zu empfinden, sie zu hinterfragen und notfalls mit Gewalt zu bekämpfen ist eine verhältnismäßig neue Entwicklung in der Geschichte der Menschheit. Zwar hat es Sklavenaufstände wohl immer schon gegeben, dass sich aber ihre Anführer nicht nur auf ihren Hunger, sondern auf den Weltgeist beriefen, ist gerade mal 219 Jahre her.

Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht galten bis zum 14. Juli 1789 wahlweise als natürlich oder gar gottgewollt. Dass die Nachkommen von Adam und Eva mit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies für alle Zeiten verdammt seien, auf dem Bauch zu kriechen und Staub zu fressen, das hatten die Propagandisten der Nutznießer des christlichen Glaubens seit Jahrhunderten von der Kanzel gepredigt. Dass sie so lange Gehör und Glauben fanden, verdankten sie der existenziellen Angst ihrer Zuhörer vor dem Tod und der Reklame für ein besseres, zudem noch ewiges Jenseits.

Der Riss, der seit dem denkwürdigen Tag vor 219 Jahren durch das schöne Bild von der Gottgegebenheit der ungleichen Zustände hienieden geht, ist nie wieder geheilt. Dabei verdankt er seine symbolische Kraft einer ganz ähnlichen Mythologie, wie sie zuvor die Religionen für sich zu nutzen wussten. Auch der angebliche Ausspruch der Königin Marie Antoinette – „S’ils n’ont pas de pain, qu’ils mangent de la brioche.“ – der in seiner infamen Dummheit und feudalen Arroganz wirkte wie Öl, ins Feuer der hungernden Massen gegossen, diese ätzende Sentenz war nachweislich ein Mythos, ein klug ersonnener und auf Wirkung spekulierender Propagandatrick aus der Feder von Jean-Jacques Rousseau.

Der Sturm auf die Bastille, die Befreiung der Gefangenen aus einer grausamen Festung, in der sich die soziale Hierarchie der Gesellschaft noch einmal auf makabre Weise widerspiegelte, in der je nach Vermögenslage der Angehörigen „draußen“ die Unterbringung der Gefangenen von den privilegierten Zimmern unter den Zinnen bis in die höllischen Zellen im Keller eingerichtet wurde – dieser Sturm eines mit geladenen Waffen und heiligem Zorn versehenen Volkes war in seiner Symbolik ein historischer „point of no return“. Seither ist der messianische Gedanke ins Diesseits zurückgekehrt. So lange es noch Gefängnisse gibt, ist die Menschheit nicht frei.

Für den Tag?

Monday, 14. July 2008

wildwuchs.JPG

 

Einerseits sind Weblogs eine feine Sache. Sie ermöglichen elenden Skribenten wie mir, die bislang bloß für die muffige Schublade produzierten und mangels Massenkompatibilität ihres Geschreibsels auf dem traditionellen literarischen Markt kaum eine noch so kleine Leserschaft erreichen konnten, auf bequeme Weise mindestens potenziell, von weit über einer Milliarde Menschen weltweit gelesen zu werden.

Andererseits sind Weblogs „von ihrer Machart her“ fatal. Auch ein noch so großer Bildschirm zeigt dem User täglich nur den aktuellsten Beitrag des Diaristen, wohingegen der ständig wachsende, im besten Fall ebenso lesenswerte Rest wortwörtlich in der Versenkung verschwindet, nur nach emsigem Scrollen an die Oberfläche geholt werden kann und bald schon auf Nimmerwiedersehen im Archiv landet – und damit doch wieder in einer muffigen Schublade. Allein das Heute zählt, ganz ähnlich wie bei der Tagespresse, zu deren Dauerhaftigkeit es ja den bekannten Ausspruch gibt: Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Und wer oder was will schon alt sein?

Mehr als 10.000 Tageszeitungen gibt es weltweit, davon rund 350 in Deutschland. Am Kiosk an der Ecke kann ich gerade mal sechs kaufen, von denen noch zwei aus dem gleichen Verlagshaus stammen. Daheim am PC kann ich hingegen unter 100 Millionen Weblogs wählen, von denen mehr als zwei Millionen in deutscher Sprache verfasst sind. (Damit wird aber auch klar, dass Deutschland, was die Bloggerei angeht, im internationalen Vergleich den Anschluss verpasst hat, wenn unser Anteil an der Weltpresse stolze 3,5 % beträgt, wohingegen kaum 2,0 % der weltweit ins Netz gestellten Weblogs von hier kommen.) Was sagen solche Zahlenspiele aus über die Zukunft der noch immer taufrischen, jungfräulichen Mitteilungsform? „Garnüscht“, wie der Blogger Kannitverstan aus Kreuzberg-Mitte mir nach einem kräftigen Rülpser versichert.

Ratgeber, wie man als Blogger Klickzahlen generiert, gibt es zuhauf. Wer sich auf das ungewisse Abenteuer namens Weblog einlässt, auf die alltägliche, weltöffentliche Schreiberei zum Tag und für niemand, ob in Kreuzberg-Mitte oder Essen-Huttrop, der sollte nicht auf Klickzahlen schielen, sondern mit festem Blick die Qualität seiner Elaborate im Auge haben.

Wenn es auch merkwürdig klingen mag: Gerade dieses scheinbar so „schnelllebige“ – früher habe ich ein solches Wort mal als Oknei aufgespießt – neue Medium wird sich, davon bin ich überzeugt, auf Dauer als ein „selbstselektierender Vorratsdatenspeicher“ erweisen, in dem sich die Spreu zentnerweise von den wenigen triebfähigen Weizenkörnern scheidet. Zum guten Schluss setzt sich nach aller Erfahrung stets beständige Qualität gegen schnell verderbliche Massenware durch.

Heute (I)

Tuesday, 08. July 2008

stromkasten

Heute ist der 190. Tag des Jahres und der 2.454.656 julianische Tag. Die beiden Zahlen geben an, wie viele Tage seit dem 1. Januar 2008 n. Chr. bzw. seit dem 1. Januar 4713 v. Chr. vergangen sind. Seit dem 1. Januar 1970 tickt zudem der Sekundenzeiger der Unix-Uhr und hat soeben um 10:08:20 Uhr die Zahl 1.215.504.500 erreicht. Nächstes Jahr steht übrigens die 1234567890 an, und zwar am Samstag, dem 14. Februar 2009, um 00:31:30 Uhr.  Und am 19. Januar 2038 um 3:14:08 Uhr könnte der PC, auf dem ich dies schreibe, Schwierigkeiten bekommen, denn eine Sekunde später ist die Unixzeit nicht mehr als 32-Bit-Binärzahl darstellbar. Pling!

Heute ist der 18.990ste Tag meines Lebens. Die abendländische Kalenderkonvention will es, dass ich am kommenden Freitag meinen 52. Geburtstag feiere. Auf den Tag genau eine Woche später wäre ein weitaus „runderes“ Geburstags-Jubiläum zu begehen, aber das Dezimalsystem hat sich aus astronomischen Gründen nur halbherzig bei unseren Zeitmaßen durchsetzen können. Auch an diesem hehren Ziel ist die Französischen Revolution gescheitert. Knirsch!

Heute ist die Sonne um 5:25 Uhr aufgegangen, um 13:37 Uhr erreicht sie ihren Zenit und um 21:48 Uhr geht sie unter. Von Wolken ungetrübt beschienen hat sie diesen Tag bisher aber nur für gerade einmal 20 Minuten. Die für den Tag angekündigte Lufttemperatur soll zwischen 11 °C und 18 °C liegen, aktuell beträgt sie 17,3 °C, die Luftfeuchtigkeit 67 % und der Luftdruck 1006,4 hPa. Der Wind kommt gegenwärtig mit einer Geschwindigkeit von 19,3 km/h (3 Beaufort) aus west-südwestlicher Richtung (exakt aus 248°). Von den für heute prognostizierten 2,6 l/m² Niederschlag sind bis jetzt (11:15 Uhr) genau 0,254 l/m² in Form von feinem Regen gefallen. Plitsch!

Heute meldet die Zeitung vom Tage wie alle Tage die Nachrichten von gestern. Die deutsche Delegation um Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gerät beim G-8-Gipfel in Tōyako (Japan) wegen des hierzulande geplanten Ausstiegs aus der Nutzung der Kernenergie zunehmend in Bedrängnis. In Österreich scheitert nach nur anderthalb Jahren die große Koalition aus ÖVP und SPÖ unter Kanzler Alfred Gusenbauer. In der afghanischen Hauptstadt Kabul hat ein Selbstmordattentäter beim bisher schwersten Anschlag seit dem Sturz der Taliban vor der indischen Botschaft 41 Menschen mit sich in den Tod gerissen. SPD-Chef Kurt Beck will nach eigenem Bekunden bei seinem Fahrrad-Urlaub an der Mosel keine Umfrageergebnisse lesen. Ray Manzarek, ehemals Keyboarder der Rockgruppe The Doors, hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass deren legendärer Bandleader Jim Morrison seinen Badewannentod vor 37 Jahren in der Rue Beautreillis 17 in Paris nur vorgetäuscht habe und in Wahrheit seither unerkannt auf den Seychellen lebe. Nintendo triumphiert mit Wii in der Gunst der Computerspielkids über Sonys Playstation und die Xbox 360 von Microsoft. Hollywoodstar Nicole Kidman (Eyes Wide Shut) hat eine 2,9 Kilo schwere Tochter zur Welt gebracht, die dem Vernehmen nach demnächst im australischen Sydney auf die Vornamen Sunday Rose nach katholischem Ritus getauft werden soll. Aus den 2,5 bis 3 Kilo Asche, die ein menschlicher Leichnam nach der Kremierung hinterlässt, fertigt das Schweizer Unternehmen Algordanza unter dem extremen Druck von 60.000 bar und bei Temperaturen von bis zu 2.500 °C zum Preis von 10.600 € einen Diamanten für die Ewigkeit. (Alle Tatsachen sind nachzulesen in der Süddeutschen Zeitung Nr. 157 v. 8. Juli 2008.) Raschel!

Heute werde ich eine Bestellung beim „Bärendienst Buchversand“ in München aufgeben, einen Blogbeitrag für Westropolis verfassen, Blumenkohl essen, meinen Steuerberater anrufen, um mit ihm einen Besuchstermin zu vereinbaren, die restlichen 2,346 l/m² Regen abwarten, um anschließend ein Foto von einem Damenbein auf einem Stromkasten für diesen Würfelwurf zu schießen, die restlichen 16 Aufsätze über Sonderlinge und Sonderfälle der Weltliteratur in Werner Morlangs Buch So schön beiseit (Zürich: Nagel & Kimche, 2001) lesen und mit der Lektüre von Thomas Pynchons zuletzt erschienenem Roman Against the Day beginnen (dt. Gegen den Tag. A. d. Am. v. Nikolaus Stingl u. Dirk van Gusteren. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2008). – Und zuletzt werde ich mich wie stets unzufrieden zu Bett begeben. Seufz!

[Fortsetzung: Heute (II).]

Lichtblicke (I)

Monday, 07. July 2008

simenon

Einerseits ist die Erfindung des Weblogs ja ein Segen für die Menschheit. Endlich ist das Grundrecht eines jeden Bürgers in jedem demokratisch verfassten Staat Wirklichkeit geworden, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.

Andererseits ist diese Errungenschaft des frühen 21. Jahrhunderts aber auch ein Fluch, indem sich nämlich leider zeigt, dass die wenigsten der vielen Bürger, die sich dieses neuen Sprachrohrs bedienen, mit ihm umzugehen verstehen; weil 99 von hundert Bloggern nicht schreiben können; weil das, was sie der Welt zu sagen haben und was in seiner Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit, wenn sie denn schreiben könnten, vielleicht lesenswert wäre, aber leider in der Form, in der sie es dieser Welt nahe zu bringen suchen, völlig unlesbar ist: ein Ärgernis.

Und damit nicht genug. Die Schlampigkeit der Weblog-Sprache scheint wie eine Seuche auch auf die Internet-Texte der arrivierten Printmedien überzugreifen. Was zum Beispiel die Autoren des Spiegel, der einmal für sich beanspruchte, ein Leitmedium zu sein, Tag für Tag in der Online-Version dieses Wochenmagazins an Fehlern produzieren, geht auf keine Kuhhaut. Dabei rede ich noch nicht einmal von Feinheiten des Stils, von inhaltlicher Stringenz oder gar von journalistischer Kunstfertigkeit. Was ich beklagen muss, sind eklatante Defizite bei der Beherrschung von Orthografie, Interpunktion, Syntax und Grammatik. Und schlimmer noch: Dieser allgemeine Verfallsprozess scheint unaufhaltbar zu sein, denn jeder unerkannte Schreibfehler verfestigt sich im Leser zu einer vermeintlichen Richtigschreibung, bis es bald keine verbindliche Rechtschreibung der deutschen Sprache mehr gibt, sondern nur noch ein einziges sprachliches Chaos, ein Kauderwelsch sekundärer Analphabeten.

Eben las ich bei Zeit online Franz Schuhs Kritik eines neu übersetzten Romans von Georges Simenon, Tante Jeanne. Der Rezensent zitiert aus dieser Übersetzung (von Inge Giese) den Satz: Sie war sich zu dick und „musste all dieses weiche Fleisch mit sich herumschleppen, das sie anekelte und nicht als ihr eigenes empfand.“ Schlimm genug, dass dem Lektorat eines Verlages, der sein Renommee hauptsächlich seiner Sorgfalt bei der Neuübersetzung von Klassikern der Kriminalliteratur verdankt, ein solcher Lapsus unterläuft – nun muss ihn auch noch ein sonst so wacher Kritiker wie Schuh unbesehen reproduzieren! – So dachte ich und fühlte mich wieder einmal sehr allein mit meiner Pingeligkeit.

Doch dann sah ich, dass zu diesem Artikel ein Leser-Kommentar (von einem gewissen „elmore“ alias jst) eingegangen war. Und der lautete so: „Lieber Franz Schuh, ich kenne Sie als sprachbewussten Kritiker und Autor. Diogenes lässt viele Bücher neu übersetzen und wird dafür oft gelobt, meist zu Unrecht. Hammett und Chandler etwa sind jetzt durch die Bank schlechter als früher – was soll man auch von Übersetzern wie Karasek oder Rowohlt erwarten? Bei einem der von Ihnen zitierten Sätze aus der neuen Tante Jeanne hätten Sie eigentlich stutzen sollen: ‚Sie war sich zu dick und »musste all dieses weiche Fleisch mit sich herumschleppen, das sie anekelte und nicht als ihr eigenes empfand«.‘ Fällt Ihnen (oder sonst einem Leser dieses Kommentars) an diesem Relativsatz nichts auf? So wenig, wie der Übersetzerin oder einer Lektorin des Diogenes Verlags? – Fragt, mit freundlichem Gruß, Ihr jst“ – Wenn das kein Lichtblick ist!

[Dieser Beitrag ist meiner Lektorin Michaela Coerdt gewidmet. – Fortsetzung: Lichtblicke (II).]

Heßling (II)

Sunday, 06. July 2008

inesschmied

Heinrich Manns neben Professor Unrat vielleicht bekanntester Roman Der Untertan (1918) ist der erste Band einer Trilogie: Das Kaiserreich. Die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II. Der unsympathische Protagonist dieses und des Folgebandes, Die Armen (1917), heißt Diederich Heßling. Im dritten Teil, Der Kopf (1925), taucht er dann nicht mehr auf.

Verständlicherweise habe ich mich schon früh für den Romanzyklus und diesen wenig ruhmreichen Namensvetter interessiert. Im Laufe der Jahre erwarb ich alle drei Bücher in halbwegs gut erhaltenen Erstausgaben und ließ sie von einer Künstlerin dieses Handwerks nach meinen Vorstellungen neu binden: den Untertan – „Roman des Bürgertums“ – in Schweinsleder, die Armen – „Roman des Proletariats“ – in grobes Leinen und den Kopf – „Roman der [geistigen] Führer“ – in Seide. Den letzten Band, der nicht wie die ersten bei Kurt Wolff in Leipzig, sondern im Paul Zsolnay Verlag (Berlin · Wien · Leipzig) erschienen ist und ein etwas größeres Format hat, ließ ich entsprechend zurechtstutzen. Die Einbandillustration der Armen von Käthe Kollwitz löste die Buchbinderin vom Deckel ab und klebte sie als Frontispiz gegenüber der Titelseite bei. (Abbildungen der bibliophilen Schmuckstücke siehe hier.)

Ob Heinrich Mann den Namen Heßling selbst ersonnen hat oder ob er ihm im Frühstadium der Niederschrift von seiner argentinischen Geliebten, Verlobten und Muse Inés „Nana“ Schmied (siehe Titelbild) eingegeben wurde, das lässt sich vermutlich nicht mehr klären. Am 3. September 1906 schreibt sie an den Autor: „Der Name Unterthan für Dein Buch gefällt mir sehr, aber nenne bitte Diderich [!] Heßling nicht Demmling. Demmling klingt gesucht, man muß an dumm denken, aber Heßling klingt, finde ich, so philisterhaft gehässig, muffig. Ich freue mich auf Deinen Roman!!“ (Zit. nach Heinrich Mann 1871-1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Hrsg. v. Sigrid Anger. Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag, 1977, S. 125.)

Was für eine Kanaille dieser Diederich Heßling ist, hat Heinrich Mann in seinem zuerst 1911 in der Zeitschrift Pan veröffentlichten Essay Reichstag deutlich gemacht: „Die Geschlechter müssen vorübergehen, der Typus, den ihr darstellt, muß sich abnutzen: dieser widerwärtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseres Wissen und politischen Selbstkasteiers.“ (Zit. nach Heinrich Mann: Macht und Mensch. München u. Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1919, S. 21 f.)

Wenn man mit einem solchen Familiennamen geschlagen ist, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sein Leben als Gegenentwurf zu diesem larvenhaften Unmenschen zu planen. Bisher ist mir dies, soweit ich es überblicken kann, ganz gut geglückt. Und erst recht in der Zukunft, soweit ich sie überschauen kann, werde ich wohl eher auf der Seite der Armen stehen als auf der der Untertanen.

Protected: Ceroplastik

Saturday, 05. July 2008

This content is password protected. To view it please enter your password below:

Heßling (I)

Saturday, 05. July 2008

kaiserreich

Aussuchen kann man sich seine Namen bekanntlich nicht, weder den Familien- noch den Vornamen. Was Letzteren betrifft, haben immerhin die Eltern in den Grenzen des Namensrechts Wahlfreiheit. Dem vom Schicksal und seinen Erzeugern Benannten steht es aber frei, seinen Namen „anzunehmen“ – oder unter ihm zu leiden. Ist das der Fall, dann kann er bei der zuständigen Behörde eine Namensänderung „aus wichtigen Gründen“ beantragen. Was im Sinne des Gesetzes als „wichtig“ anerkannt ist, wird in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (NamÄndVwV) geregelt.

Mein Familienname könnte gleich aus drei guten Gründen einen solchen Änderungswunsch rechtfertigen. Unter Nr. 35 der Verwaltungsvorschrift heißt es nämlich: „Familiennamen, die anstößig oder lächerlich klingen oder Anlass zu frivolen unangemessenen Wortspielen geben können, rechtfertigen regelmäßig Namensänderung. Bei der Prüfung der Anstößigkeit oder Lächerlichkeit des Familiennamens ist der sachliche Maßstab allgemeiner Erfahrungen anzulegen.“ Nun wurde schon in Knabenjahren mein Familienname von manchem Mitschüler zum nahe liegenden „Hässlich“ verballhornt und bescherte mir so eine „allgemeine Erfahrung“, ein Wortspiel, das manch anderem Träger dieses Namens Ungemach bereitet hätte.

Weiter heißt es in der zitierten Nr. 35: „Besondere Gründe, die etwa in der Person, dem Beruf oder der Umgebung des Antragstellers liegen, sind zu berücksichtigen.“ Da ich neuerdings meinen Beruf und meine Berufung als kritischer Beobachter der Literatur suche und mich somit notgedrungen von Kennern dieser Materie umgeben sehe, verleitet mein Familienname Kontrahenten, so ihnen denn keine besseren Argumente gegen meine streitbaren Ausführungen mehr einfallen, zu dem ebenfalls nahe liegenden Hinweis auf eine bekannte Romanfigur der deutschen Literaurgeschichte: auf Diederich Heßling in Heinrich Manns Der Untertan, den literarischen Inbegriff des deutschen Spießers.

Und drittens schließlich könnte ich noch Nr. 38 der NamÄndVwV anführen: „Bei Familiennamen mit »ss« oder »ß« sowie bei Familiennamen mit Umlauten ergeben sich häufig Schwierigkeiten durch abweichende Schreibweisen ein und desselben Namens. Können diese Schwierigkeiten nicht nach den Vorschriften des Personenstandsrechts in einer für den Namensträger befriedigenden Form beseitigt werden, so ist eine Namensänderung im Allgemeinen gerechtfertigt. Entsprechendes gilt, wenn der Namensträger durch die Schreibweise seines Familiennamens mit »ß« oder mit einem Umlaut im Ausland nicht nur unwesentlich behindert ist.“

So weit die Rechtslage. Indes liegt mir nichts ferner, allenfalls vielleicht noch eine Schönheitsoperation oder das Tragen eines Toupets, als eine Änderung meines Namens zu beantragen. Ich liebe meinen Namen, ich identifiziere mich mit ihm, er benennt mich passend wie kein anderer in seiner Widersprüchlichkeit und seinen vielfältigen Konnotationen, in den Geschichten, die sich um ihn ranken, in den Rätseln, die er mir aufgegeben hat, und in den vorläufigen Lösungen, die ich für diese Rätsel gefunden habe. (Wird fortgesetzt.)

Wälzer (I)

Friday, 04. July 2008

walzer

Seit ein paar Monaten habe ich die „Meister der kleinen Form“ für mich entdeckt. Besser spät als nie – es war so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Nun steht mir ein genussvoller Lesesommer bevor, mit Alfred Polgar, Franz Hessel, Victor Auburtin, Anton Kuh, Richard A. Bermann und Hans Siemsen.

Früher faszinierten mich besonders dickleibige Romane, schwergewichtige Wälzer. Deren großer Nachteil ist freilich, dass sie furchtbar viel Lese- und damit Lebenszeit für sich beanspruchen. Um Arno Schmidts Zettels Traum zu bewältigen, muss man schon einen ganzen langen Sommer opfern. Und als Bettlektüre eignet sich das über acht Kilo schwere Buch leider auch nicht. Außerdem erschien mir irgendwann der sportliche Ehrgeiz, solche literarischen Zentralmassive erklimmen zu müssen, besser geeignet für ein beschauliches Rentenalter. So habe ich Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Gertrude Steins The Making of Americans bislang nur angelesen und dann umgehend „für später“ zurück ins Regal gestellt.

Beneidenswert schienen mir immer jene Berufsleser, deren Lebensumstände es zulassen, ihren Tag keinem anderen Vergnügen als dem Wörterfressen zu widmen. Ich stellte mir Rolf Vollmann als den Glücklichsten der Glücklichen vor, der in seinem zweibändigen „Roman-Verführer“ Die wunderbaren Falschmünzer seine Leseerfahrungen aus aberhunderten teils überaus umfänglichen Prosawerken der Weltliteratur zusammengefasst hat. Der Tübinger Literaturkritiker gibt zur Orientierung für den Leser im Register zu jedem Roman dessen Wortmenge an, die meisten liegen zwischen 50.000 und 250.000 Wörtern, einige wenige Spitzenreiter bringen es auf über 400.000. Diese Zahl vermittelt naturgemäß nur einen ungefähren Eindruck von der Zeit, die man für die Lektüre ansetzen muss. Denn erstens ist das Lesetempo von Leser zu Leser unterschiedlich; und zweitens lesen sich manche Romane „flüssiger“ und damit schneller als andere.

Ganz will ich mich ja in diesem Jahr auch nicht auf die „Kleinmeister“ beschränken, zumal man ihre hochkonzentrierten „Stückle“ (Peter Altenberg, auch einer von ihnen) nicht hintereinander wegsaufen sollte, denn dann wird einem bald schwindelig und man kommt ins Torkeln, zwischen den Zeilen. Der Zufall will es, dass der Bücherfrühling zwei voluminöse Romane auf meinen Tisch geschmettert hat, die mich aus sehr unterschiedlichen Gründen interessieren: Thomas Pynchons Gegen den Tag und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten. Gemäß Vollmanns Wortzählung bringt es Pynchon auf 440.000 und Littell auf 420.000 Wörter.

Ich habe probehalber mal ein paar Seiten in beiden Romanen gelesen und ermittelt, dass ich durchschnittlich pro Seite zwei Minuten Lesezeit veranschlagen muss. Wenn ich täglich zwei Stunden in diese beiden Romane investiere, müsste ich Ende August mit ihnen „durch“ sein. Und was sind schon zwei Stunden für einen Exzentriker wie mich, der im Unterschied zur Normausfertigung seines deutschen Zeitgenossen keine einzige Minute, und erst recht nicht dessen durchschnittliche drei Stunden täglich vor der Glotze verschwendet? Da bleibt mir ja noch eine weitere Stunde, in der ich mir das eine oder andere Schnäpschen aus der Destille der „Meister der kleinen Form“ genehmigen kann. – Ach, ist das herrlich! Wie freue ich mich auf diesen Lesesommer.

[Fortsetzung: Wälzer (II).]

Protected: Gentilino

Wednesday, 02. July 2008

This content is password protected. To view it please enter your password below:

Der Unverschollene

Wednesday, 02. July 2008

verbindungen

Ich würde ja gern über K. schreiben. Übermorgen wird er hundertfünfundzwanzig, zur Freude der Verleger, zur Erleichterung der schlechten und zum Verdruss der guten Kritiker und Rezensenten. Erstere sind froh, dass sie ein paar Spalten füllen können mit Gemeinplätzen, zu K. fällt ja jedem etwas ein, und nur den K.-Lesern fällt auf, dass es immer die gleichen Gemeinplätze sind, und K.-Leser gibt es zum Glück der schlechten Kritiker und Rezensenten, von denen es viele gibt, nur sehr wenige; dafür aber sehr viele K.-Kenner, die nämlich von K. nur die gebetsmühlenhaft wiederholten Gemeinplätze kennen und immer wieder wissend mit ihren hohlen Häuptern nicken, wenn sie sich derart als K.-Kenner bestätigt finden.

Als ich fünfzehn Jahre alt war, fiel mir zufällig mein erster K. in die Hände. Pro Woche bekam ich drei Mark Taschengeld, und da ich ein jugendlicher Asket war, keine Freundin hatte, nicht rauchte und nicht in Kneipen ging und wenig Sinn darin sah zu sparen, weil ich nicht beabsichtigte, noch lange zu leben, kaufte ich mir von meinem Taschengeld wöchentlich ein Taschenbuch, denn die schmalen Bände kosteten damals zwei Mark und achtzig Pfennige. Die restlichen zwanzig Pfennige warf ich einem Bettler in den Hut, der dann immer murmelte, ohne den Blick zu heben: „Vergelt ’s Gott.“ Mein Taschengeld erhielt ich montags, ich dosierte die Lektüre so, dass ich jedes Buch pünktlich am darauffolgenden Sonntagabend ausgelesen hatte.

Meine Auswahl traf ich nach den Prospekten der Taschenbuchverlage, meine Anregungen entnahm ich dem Radio. Nebenher hörte ich Hörspiele, die gelegentlich von kundigen Kommentaren gesäumt waren. Ich bin einigermaßen sicher, dass mich ein solcher Kommentar nach Günter Eichs Hörspiel Träume dazu verführte, an einem Montag im Mai des Jahres 1972 K.s Amerika zu kaufen. Seit Carlo Collodis Pinocchio, den ich mit sieben Jahren las, hatte mich kein Buch annähernd stark ergriffen. Ich werde es jetzt nicht überprüfen, ich bin auch so sicher, dass ich schon damals nicht der Erste war, dem die Ähnlichkeit auffiel zwischen diesen beiden Büchern: Pinocchio und Der Verschollene, wie Amerika heute heißt. Was K. angeht, kann man mit keiner auch noch so geringfügigen, nebensächlichen Erkenntnis mehr der Erste sein. Ja, man kann auf diesem ausgelaugten Felde noch nicht einmal mit einem Irrtum der Erste sein. Hier wächst und gedeiht nichts mehr.

Und darum bereitet den guten Kritikern und Rezensenten K.s hundertfünfundzwanzigster Geburtstag so großen Verdruss. Sie wissen nämlich, dass es unterm Licht dieser schwarzen Sonne nichts Neues mehr gibt, für alle Zeit. Sie befinden sich in der gleichen Verlegenheit wie die geladenen Gratulanten vor der Geburtstagsfeier eines Nabob: Was schenkt man jemandem, der schon alles hat? Der naheliegende Ausweg, dass man ihm vielleicht neue, zumal junge Leser zuführen könnte, unter Verzicht auf die ohnehin hoffnungslose Bemühung, etwas Neues zu K. zu sagen, erweist sich bei näherer Betrachtung leider auch als unbegehbar, aber weniger, weil dies kaum glückte, sondern deshalb, weil es ein Misserfolg wäre, wenn es wider Erwarten in diesem oder jenem Falle doch gelänge. Es würde den jungen Leuten ja nur schaden auf ihrem weiteren Lebensweg.

So gern ich über K. schreiben würde, fällt mir vorläufig zu ihm nicht mehr ein als einem anderen K., der schrieb, dass ihm zu H. nichts mehr einfiele. Aber noch bleiben mir ja zwei Tage Bedenkzeit, eine letzte Gnadenfrist. Und ansonsten spende ich immerhin diese zwei Groschen für ein „Vergelt ’s Gott!“

Steckschuss

Tuesday, 01. July 2008

olden

Bei den Recherchen zu meiner „Eccentrics“-Serie stieß ich neulich in meinen Bücherkatakomben auf Ulrich Linses Barfüßige Propheten, eine materialreiche Monagraphie über „Erlöser der zwanziger Jahre“ (Berlin: Siedler Verlag, 1983). Als ich darin blätterte, fielen mir zwei mittlerweile auch schon wieder vergilbte Zeitungsblätter vom 24. Mai 1986 in die Hände. Damals hatte die taz unter der zeitgemäßen Headline Berliner Bhagwan 1932 einen langen Aufsatz über den messianischen Gründer der „Evangelisch-Johannischen Kirche“, einen gewissen Joseph Weißenberg, nachgedruckt.

Dessen Autor, der Rechtsanwalt und Schriftsteller Rudolf Olden, ertrank am 18. September 1940 mit seiner dritten Ehefrau, der Psychoanalytikerin Ika Halpern, im Atlantik. Nachdem ihm in der Nacht nach dem Reichstagsbrand, von Freunden gewarnt, noch mit knapper Not die Flucht zunächst nach Prag und später über Paris nach London gelungen war, schiffte er sich am Freitag, dem 13. September 1940 in Liverpool mit 400 weiteren Passagieren auf der „City of Benares“ ein, um einem Ruf als Dozent an die „School of Social Research“ in New York zu folgen. Fünf Tage später wurde die „City of Benares“ vom „erfolgreichsten deutschen U-Boot des 2. Weltkriegs“, dem legendären U-48 auf dessen achter Feindfahrt, durch einen G7e-Torpedo versenkt.

Im Jahr vor seiner Flucht ins Exil hatte Olden noch sein letztes Buch herausgeben können, Das Wunderbare und Die Verzauberten, eine Sammlung von kuriosen Berichten über die „Propheten in deutscher Krise“, über den Aberglauben und Fanatismus jener durch Inflation, Massenarbeitslosigkeit, politische Instabilität und Gewalt auf den Straßen geprägten Zeit, als Quacksalber, Heilsbringer und selbsternannte Messiasse infolge der Erlösungsbereitschaft ihrer perspektivlosen Mitmenschen ein leichtes Spiel hatten (Berlin: Rowohlt Verlag, 1932).

Dank der für Büchersammler und Freunde abwegiger Gedankengänge so überaus erfreulichen Erschließung des antiquarischen Buchmarktes war es ein Leichtes, in Besitz dieser reizvollen Sammlung über die „Nachtseiten des Lebens“ (Klappentext) zu kommen. In diesem Fall hatte ich sogar das Glück, ein Exemplar zu moderatem Preis zu ergattern, dessen Antlitz das tragische Schicksal seines Herausgebers auf geradezu magische Weise inkrustiert ist. In der Beschreibung des Antiquars heißt es wörtlich: „Ab S. 98 etwa 50 S. mit starker Beschäd[igung] in der Bindung, Kugeldurchschuß. Die Luftgewehrkugel liegt noch bei.“

Wer schießt mit einem Luftgewehr blindlings auf eine Bücherwand? Ein ärgerliches Versehen? Und warum dringt die Kugel ausgerechnet in dieses Buch ein, bohrt ein Loch in den Rücken genau an der Stelle, wo die Worthälfte „Wunder-“ zu lesen ist? Oder war dies eine gezielte Übeltat? Kriminologisch ganz korrekt hat sich der Antiquar ja übrigens nicht ausgedrückt: Es handelt sich hier nicht um einen Durch-, sondern um einen Steckschuss. Und was vielen als eine „starke Beschädigung“ und insofern wertmindernd erscheinen mag, empfinde ich als eine große Bereicherung. Die beiliegende Luftgewehrkugel ist die kleine Schwester von G7e. Wo man Bücher beschießt, da beschießt man am Ende auch Menschen.