Archive for the ‘Bibliotheca Curiosa’ Category

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XVII & Schluss)

Saturday, 28. August 2010

scanpuzzleeins

Ursprünglich hatte ich geplant, hier noch ein paar Bemerkungen über die losen ,Fundstücke‘ in alten Büchern zu machen, die man in Trödelkisten literaturferner Ramscher und in Kellerregalen oder Koffern auf Speichern verstorbener Onkel und Tanten findet: Notizzettel, Kalenderblätter, Fahrkarten, Fotos, Kinobilletts, Glanzbilder, Ansichts- und Visitenkarten, Briefe, Werbezettel und vielerlei mehr [s. Titelbild]. Meist sind diese papierenen Einleger wohl als Lesezeichen verwendet worden. Dann ist es interessant festzuhalten, zwischen welchen beiden Seiten genau man sie gefunden hat, denn das könnte Auskunft geben über einen Schwachpunkt des Buches, an dem beim früheren Leser das Interesse erlahmte. Vielleicht ist er ja aber auch über der Lektüre plötzlich verstorben? Doch auch das könnte schließlich ,literarische Gründe‘ gehabt haben, wer weiß … Diese waghalsige Spekulation lässt vielleicht ahnen, welche exotische Landschaft sich der Phantasie bei diesem Thema darbietet. Ich verkneife mir das Thema dennoch auf ein anderes Mal, denn eigentlich gehört solches Treibgut ja nicht wesentlich, sondern bloß zufällig zum Buch. Der Antiquar wird ein Fundstück nur dann im Buch belassen, wenn ein inhaltlicher Zusammenhang zu seiner vorübergehenden Unterkunft feststellbar ist, beispielsweise wenn es sich um eine Rezension des Buches handelt oder gar um einen Brief des Autors an den Leser. In allen anderen Fällen gehört es in den Papierkorb – oder in eine Kuriositätensammlung von der Art, wie ich sie tatsächlich seit langer Zeit zusammengetragen habe [s. die willkürlich zusammengestellten Kostproben im Titelbild].

Hier bleibt mir nur, zum Abschluss noch eine grundsätzliche Bemerkung über die Buchbeschreibung als warenkundliche Facharbeit des Altbuchhändlers loszuwerden.

Das Buch ist, wenn ich nicht sehr irre, das am höchsten diversifizierte Industrieprodukt der Warenwelt. So viele verschiedene Artikel, wie es von dieser Ware gibt, kann kein anderes Handelsgut auch nur annähernd vorweisen.

An dieser Stelle mache ich erst mal einen Absatz und atme tief durch, denn es lohnt sich vielleicht für den Leser, über diese möglicherweise gewagte Behauptung gründlich nachzudenken. – Gibt es nicht vielleicht doch ein serienmäßig hergestelltes Produkt, dessen Vielfalt in seiner Diversifikation das Buch in den Schatten stellt? Kleidungsstücke als Gattung würden mir am ehesten noch einfallen; oder vielleicht auch Nahrungs- und Arzneimittel? Hierbei fällt es aber doch schwer, um bei letztgenannten zu bleiben, eine Charge von der anderen zu unterscheiden, während die Unterschiede verschiedener Buchauflagen durchaus sinnfällig hervortreten können. Wesentlicher ist aber noch ein anderer Unterschied: Pharmazeutika und Lebensmittel sind Verbrauchsgüter mit einer mehr oder weniger kurzen Verfallsdauer. Und selbst Textilien nutzen sich ab, fallen den Motten zum Fraß, kommen aus der Mode und wandern spätestens nach ein paar Jahrzehnten in die Kleidersammlung und zuletzt in den Reißwolf. Barbaren, die Bücher in Altpapiercontainer werfen, sieht man in hiesigen Breiten hingegen eher selten.

Was folgt daraus? Die Zahl verschiedener Bücher auf Erden vermehrt sich ständig, denn auch die vor vielen Jahrzehnten erschienenen sind fast ausnahmslos noch existent, wenn nicht in allen einzelnen Exemplaren – dafür hat in Europa allein schon der Zweite Weltkrieg mit seinen Städtebombardements gesorgt –, so doch in etlichen Einzelstücken. Je größer die Auflage war, umso höher ist in aller Regel die Zahl der ,Überlebenden‘. Und je betagter diese Bücher sind, desto mehr unterscheiden sie sich voneinander, obwohl sie doch beim Verlassen der Buchfabrik einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. Somit individualisiert die Zeit nun auch noch die einzelnen Exemplare ein und derselben Auflage, nämlich durch genau jene Spuren, die ich in den Folgen XI bis XVI dieses Kleinen Einmaleins der Buchbeschreibung aufgezählt habe. Vielleicht ist es insofern nicht zu gewagt zu sagen: Kein serienmäßig hergestelltes Ding auf dieser Welt verdient so sehr wie das Buch die Liebe und die Achtung des menschlichen Individuums, weil kein anderes ihm in seiner Einzigartigkeit so sehr entspricht.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XVI)

Thursday, 26. August 2010

unterstreichungenundmarginaliebbeispemann

Sehr verbreitet ist das freihändige Unterstreichen oder Anmarkern einzelner Worte, das Markieren von Textzeilen, ja ganzer Absätze, das Anstreichen längerer Passagen am Rand und das Niederschreiben kurzer oder auch längerer Marginalien auf dem Außensteg oder als ,Fußnoten‘ auf dem Fußsteg. Verwendet werden hierzu weiche oder harte Bleistifte, Kopier- und Buntstifte in allen Farben, Kugelschreiber, Federhalter, Tintenfüller, in neuerer Zeit auch Textmarker in allen möglichen und unmöglichen Farben, vorzugsweise in floureszierenden oder gar phosphoreszierenden Gelb- oder Grüntönen.

Meist sind solche Hinterlassenschaften eifriger Leser nicht oder nur mit einem Aufwand zu beseitigen, den der Wert selbst des lupenrein sauberen Buches nicht rechtfertigt. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich gelegentlich die individuellen, manuellen Hinzufügungen in Büchern mehr beschäftigen und bewegen als der ,neutrale‘ Inhalt der Bücher selbst, werfen erstere doch eine Reihe von Fragen auf, die nicht bloß detektivisch veranlagten Sammlern manch reizvolle Stunde des Grübelns und Spekulierens bescheren können.

Was mögen das etwa für Menschen sein, denen es offenbar ein unabweisliches Bedürfnis ist, alle paar Seiten ihrer heftigen Zustimmung oder auch ebenso heftigen Ablehnung expressiven Ausdruck zu verleihen, indem sie den Blattrand mit Ausruf- oder Fragezeichen garnieren? Von solchen wohl meist cholerisch veranlagten Lesern findet man dort eine reiche Vielfalt stakkatohafter Kurzkommentare dieser Art: ,Ach was!‘ – ,So, so.‘ – ,Wiedenn-wodenn-wasdenn?‘ – ,Seit wann?‘ – ,Unsinn?‘ – ,Hört, hört …‘ – ,Olala!‘ – ,Nett gesagt.‘ – ,Sehr wahr!‘ – ,Damals schon?‘ – ,Prüfen!‘ – ,Siehe oben S. 80.‘ – ‚Äußerst fragwürdig.‘ – ,Überholt.‘ – ,Pfui!‘ – ,Schön wär’s ja!‘ – ,Autor wiederholt sich.‘ – ,Etc. pp.‘ – ,Kommt mir bekannt vor.‘ – ,Quelle?‘ – ,Bravo!‘ – ,Oha!‘ – ,Ich glaub’s nicht!‘ – ,Wenn das so einfach wär …‘ – ,Muss wohl heißen: Pessimismus! – ,Heute kaum noch. (s. EU!)‘ – ,Rechenfehler?‘ – ,Empörend!‘ – ,Lachhaft!!‘ – ,Falsch!!!‘ usw. (Alle Beispiele aus einem vom unbekannten Vorbesitzer kraftvoll annotierten Exemplar der Memoiren eines prominenten deutschen Nachkriegspolitikers.) Solche Leser erwarten offenbar von der Lektüre keineswegs neue Einsichten, gar die Korrektur eigener Vorurteile. Sie wissen längst schon, was falsch ist und was wahr. Und so lesen sie Bücher allein deshalb, um ihre unumstößlichen Wahrheiten bestätigt zu sehen, ganz gleich, oder der Autor mit ihnen einer Meinung ist (dann applaudieren sie ihm), oder ob er das Gegenteil behauptet (dann pfeifen sie ihn aus).

Gänzlich andere Motive muss man jenen fleißigen Stricheziehern unterstellen, die mit ihren diversen Stiften zwischen den Zeilen unterwegs sind, um das eigentlich Wesentliche eines Textes (genauer: das, was sie dafür halten) aus dem vielen Unwesentlichen (genauer: aus dem, was sie dafür halten) herauszuschälen und für alle Zeiten blitzschnell verfügbar zu machen. Für diese leicht ungeduldige Sorte Leser zählen vor allem die konkreten Ergebnisse ihrer Bemühungen. Sie stellen gern Fragen wie: ,Und was heißt das jetzt unterm Strich?‘ – ,Aber was folgt für mich ganz konkret daraus?‘ – ,Lässt sich das auch in einem einfachen Satz auf den Punkt bringen?‘ Für solche Menschen wurden vermutlich einst die Zehn Gebote des alttestamentlichen Dekalogs ersonnen. Die Folgen sind bekannt! Als ,terrible simplificateur‘ hat zuerst Jacob Burckhardt diesen gefährlichen Typus bezeichnet, der danach trachtet, alle Weisheit dieser Welt an seinen plumpen Fingern abzählen zu können und ganze Bibliotheken zu einer Handvoll Thesen einzudampfen.

Rührend wird aber selbst dieser Thesen- und Parolenschmied gelegentlich; wenn er nämlich die Kontrolle über seinen Stift verliert und ganze Absätze, ja seitenweise jede Zeile unterstreicht. Dann führt er sein Vorhaben unwillkürlich selbst ad absurdum, denn abwegig ist es ja von vornherein insofern, als ein Buch nun einmal genau den Umfang hat, den es hat. So ist es hinzunehmen, so ist es zu belassen, da gibt es nichts hinzuzutun oder wegzunehmen. Und auch zu streichen oder hervorzuheben ist da nichts. Wenn man schon partout einen Extrakt aus einem Buch für sich persönlich ziehen will, dann tue man dies doch in einem separaten Heft und verunziere nicht das feine Buch mit seinen ungehobelten Einfällen [s. Titelbild].

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XV)

Wednesday, 25. August 2010

istkameradberghausheimgekehrt

Eine solche Aufwertung des einzelnen Buchexemplars durch seine erwiesene edle Herkunft begegnet uns nicht nur in Gestalt des prominenten Besitzvermerks, sondern weit häufiger als Widmung des Autors an den Leser. ,Doppelt getrüffelt‘ ist ein gewidmetes Buch natürlich dann zu nennen, wenn auch der namentlich genannte Empfänger und also Vorbesitzer des Buches eine prominente Person ist. (Ganz nebenbei: Mir ist der Bekanntheitsgrad eines Zeitgenossen, ganz gleich durch welche medialen Sensationen er erreicht sein mag, schnurzpiepegal. Ich bitte darum, die Erläuterung solcher wertsteigernden Effekte auf dem Antiquariatsmarkt nicht dahingehend misszuverstehen, dass etwa meine persönliche Wertschätzung eines konkreten Buches auch nur im geringsten von solchen Autographen beeinflussbar sei. Auch hier kommt es mir zuallererst auf den Inhalt an.)

Heutzutage in den Zeiten der Lesereise, auf die die armen Bücherschreiber von ihren Verlegern gehetzt werden, damit sie bloß nicht so bald dazu kommen, ein neues Buch zu schreiben; in diesen traurigen Zeiten also wird der Antiquariatsmarkt geradezu überschwemmt von signierten Büchern. Ein tschechischer Autor steht bei mir im Verdacht, auf den Vorsatz jedes einzelnen Exemplares eines seiner Bücher schwungvoll mit violettem Filzstift seinen Namen hingeschneit zu haben. Da wäre dann ausnahmsweise ein unsigniertes Exemplar das rarere und folglich teurere!

Meist bleibt als Ergebnis solcher Signierstunden, nach erschöpfender Lesung und nach der sich anschließenden nicht minder strapaziösen Fragestunde, kaum mehr als ein unleserliches Autogramm in ein paar Dutzend Büchern. Was soll das? Aber manche der in langer Schlange Anstehenden sind sich nicht zu schade, beim Poeten am Signierfließband um eine spezielle Zueignung nachzusuchen: „Herr G., könnten Sie vielleicht bitte schreiben: ,Für die hagere Inge diesen dicken Butt, Ihr G. G.‘? Was tut man nicht alles für die treuen Fans!

Viel interessanter sind da oft die Widmungen der unbekannten Schenker an nicht minder unbekannte Empfänger, zum Geburtstag, zur Eheschließung, zur Scheidung, nach bestandener Prüfung oder zu sonst einem bedeutsamen Anlass – den man manchmal nur indirekt erschließen kann.

Das oben [s. Titelbild] reproduzierte Beispiel fand ich auf dem Vorsatzblatt der zweiten Auflage von Sven Hedins Amerika im Kampf der Kontinente (Leipzig: F. A. Brockhaus, 1943). Da heute nicht mehr jeder Leser Sütterlinschrift fließend entziffern kann, hier meine Transkription: „Herrn Kamerade [!] Berghaus | mit herzlichen Wünschen für | sein Wohlergehen und für | eine gesunde Heimkehr gewidmet | von den Berufskameradinnen | und Berufskameraden in | der Heimat. | Dessau, Weihnachten 1943.“ Das Buch liegt vor mir wie neu und ungelesen. Ob es den besagten Kameraden Berghaus an der Front überhaupt noch erreicht hat? War er vielleicht in einem der U-Boote im Atlantik im Kampfeinsatz gegen alliierte Kriegs- und Handelsschiffe? Und bedurfte er dort vielleicht der moralischen Stärkung durch dieses amerikakritische Buch? Solche anonymen Widmungen, die immerhin Fragen aufwerfen und zum Nachdenken anregen, finde ich jedenfalls wesentlich reizvoller als die Auftragssentenzen von Bestsellerromanciers auf Erfolgstournee.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XIV)

Tuesday, 24. August 2010

tyssensexlibrisvonmasereel

Nun also zu den ganz bewussten Kennzeichnungen, die die Eigentümer oder Nutzer von Büchern an oder in diesen auf unterschiedliche Weise vornehmen.

Früher war es im europäischen Bürgertum ein weit verbreiteter Usus, die Bücher der privaten Bibliothek mit einem persönlichen Exlibris zu versehen, also mit grafisch gestalteten Einklebzetteln, deren Motiv oft einen Bezug zum Namen, zum Beruf, zu den Vorlieben oder Leidenschaften oder auch zu Charaktereigenschaften des Bücherfreundes hatten. Solche manchmal sehr geschmackvollen Klebebildchen können das Buch im günstigsten Fall sogar aufwerten. Dies gilt natürlich erst recht, wenn das Exlibris von einem bedeutenden Künstler wie Frans Masereel entworfen wurde [s. Titelbild]. Manchmal ziert das Exlibris den Innendeckel, manchmal den Vorsatz, gelegentlich findet man es auch auf dem Frontispiz gegenüber der Titelseite, wenn dieses frei ist. Der Niedergang der stilvollen Klebebilder begann spätestens mit der Verbreitung von anonymen Exlibris-Zetteln als Dutzendware, bei denen der Name auf gepunkteter Linie von Hand eingetragen werden musste. So wurde aus einer noblen Sitte im Handumdrehen eine schnöde Unsitte, die aber erfreulicherweise bald wieder verschwand. Da kann man seinen Namen ja gleich ins Buch schreiben, was soll das doch jedenfalls beliebige und beziehungslose Bildchen dabei?

Und schon sind wir beim handschriftlichen Besitzvermerk, der mit dem Exlibris immerhin noch das Motiv gemeinsam hat, nämlich das Buch vor Diebstahl, Verlust durch Verwechslung – oder durch die Vergesslichkeit (,Vergesslichkeit‘?) der Mitmenschen zu schützen. Denn bekanntlich haben Bücherleiher ja neben anderen Schwächen die Angewohnheit, die Rückgabe zum vereinbarten Termin zu verpassen. Leiher und Verleiher verlieren sich aus den Augen, und erst Jahre später, etwa bei einem Umzug, fallen ersteren dann die fremden Bücher wieder in die Hände. Oft erinnern sie sich nicht mehr, von wem sie sie geborgt hatten. In diesen und ähnlichen Fällen ist es für alle Beteiligten erfreulich, wenn Bücher einen Besitzvermerk tragen. Wo dieser im Buch angebracht wird, ist Geschmacksache. So findet man Namenszüge oder Stempel im vorderen oder hinteren Innendeckel, auf dem Vorsatzblatt und auf dem Schmutztiel. Keinesfalls darf man jedoch die Titelseite hiermit verunstalten – eigentlich müsste man sogar sagen: beschädigen! (Vgl. hierzu meine Ausführungen über die Bedeutung der Titelseite.)

Ob man es nun beim Eintrag von Vor- und Familiennamen belässt, ob man die vollständige Anschrift hinzusetzt (die sich freilich von Zeit zu Zeit ändern kann), ob man das Datum der Anschaffung vermerkt, den Ort des Erwerbs, den Namen der Buchhandlung bzw. des Antiquars oder gar, so es sich um ein Buchgeschenk handelte, den Namen des Schenkers, das bleibt jedem Sammler selbst überlassen. Verwendet man einen Tintenfüller oder gar Kugelschreiber, so ist die Eintragung nur schwer und jedenfalls kaum spurlos zu entfernen, was für das Buch in aller Regel eine Wertminderung auf dem Antiquariatsmarkt bedeutet. Andererseits sind radierfähige Besitzvermerke, etwa mit weichem Bleistift, kein wirksamer Schutz gegen Diebstahl oder Unterschlagung.

Ganz selten geschieht es, dass dem Stöberer auf dem Bücherflohmarkt ein Buch in die Hände fällt, das durch den Besitzvermerk als verschollenes Erbe eines ganz Großen identifizierbar ist. Entdeckte ich zum Beispiel die Erstausgabe von Theodor Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen mit dem datierten Namenszug von Franz Kafka auf dem Vorsatz, würde mein Sammlerherz einen Sprung von hier bis nach Hannover machen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XIII)

Sunday, 22. August 2010

loecherigerschutzumschlagkarllerbs

Naturgemäß betreffen echte Beschädigungen zuallererst den Bucheinband, dann erst das ,Innenleben‘, den papierenen Buchblock mit dem geistigen Inhalt des körperlichen Objekts. Schließlich dient ja der Einband dem Schutz dieses Wesenskerns. Wenn er Angriffe aller Art abwehrt und dabei selbst oberflächlichen oder auch tiefer gehenden Schaden nimmt, so ist dies nicht mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, so möchte man meinen.

Andererseits gilt manchen Bücherfetischisten ein makelloser, unversehrter Einband als der schönste Schmuck des Buches. Genau besehen nehmen solche Leute aber doch eine reine Äußerlichkeit für das Eigentliche, die Kleidung und Maskerade für das nackte Wesen, für das sie gemacht sind. Spätestens an dieser Entgleisung wird deutlich, dass Bücherliebhaber nicht unbedingt auch Leser sein müssen, et vice versa. Ich kannte einen Sammler, der mir stolz ein wunderbar gebundenes Exemplar von Boccaccios Decamerone unter die Nase hielt, das er vor vielen Jahren bei einem Antiquar in Palermo erstanden hatte: Ganzleder, goldgeprägte Titel auf Rücken und Deckel, echte Bünde, dies alles in tadelloser Erhaltung. Bei genauerer Untersuchung dieses Schmuckstücks erwies es sich allerdings als Blindband, enthielt es doch nur lauter unbedruckte Seiten. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn auf dieses kleine Defizit hinzuweisen, und beließ ihn in seinem Glauben, einen Schatz in seiner Sammlung zu bergen.

Einbände können Flecken aller Art aufweisen. Sie können einreißen, was ihnen bei Pappeinbänden besonders häufig an den viel strapazierten Gelenken widerfährt. Aber auch Leinenbände neigen dort zu Verschleiß. Sie können Stauchungen erleiden, vorzugsweise am Kapital oder an der Basis des Rückens. Auch die Ecken sind oft gestaucht oder gar umgeknickt. Der Buchblock reißt vielfach an den Innengelenken aus dem Einband, einzelne Lagen oder Seiten können sich lösen, wozu besonders die vorderen und hinteren Partien des Buches neigen. Schließlich ist der Schnitt rundum anfällig gegen Beschädigungen durch spitze, scharfe, harte und schwere Gegenstände oder durch Stürze von hohen Regalbrettern, wodurch Seiten zudem knickspurig werden oder einreißen können.

Eine besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle die Buchumschläge, die ja insofern eine schon beinahe dekadente Übertreibung bedeuten, als sie zum „Schutz des Schutzes“ dienen, indem sie nämlich den schützenden Einband ihrerseits einhüllen und die oberflächlichsten Abnutzungen von diesem fernhalten sollen. Schutzumschläge sind daher folgerichtig die ersten Opfer von Beschädigungen. Sie ziehen Flecken förmlich an, bleichen aus, reißen ein und werden knickspurig [s. Titelbild]. Es gibt tatsächlich Sammler, die darum die Schutzumschläge ihrer Bücher in separaten Behältnissen aufbewahren und die Bücher, so sie sie doch einmal aus dem Schrank nehmen, um gar darin zu lesen, ersatzweise in lederne Futterale kleiden, um sie so vor allen Gefahren zu bewahren.

Und dann gibt es noch Beschädigungen durch unbewussten Vandalismus, etwa durch Kleinkinder, die die Schwarz-Weiß-Illustrationen in einer Klassikerausgabe in einem unbeobachteten Moment mit Wachsmalstiften kolorieren, oder durch unwissende Hausangestellte, die die rückseitig unbedruckten Seiten herausreißen und als Einkaufszettel nutzen. Hier gilt tatsächlich der alte Satz des Terentianus Maurus: Habent sua fata libelli.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XII)

Saturday, 21. August 2010

schiefgeleseneladychatterley

Während die Alterung ihre Spuren auch an einem ungenutzten, ungelesenen Buch hinterlässt, wird die Abnutzung, wie schon ihr Name sagt, erst mit dem Gebrauch fühlbar oder sichtbar. Ein von mehreren Personen gründlich gelesenes Buch ist auch für den Laien erkennbar nicht mehr ,wie neu‘ und damit nicht mehr als ,neuwertig‘ anzubieten, wenngleich es im Einzelfall gar nicht einmal so einfach ist, seinen Verschleiß präzis auf den Begriff zu bringen.

Oft ist es lediglich eine gewisse Lockerung der Lagen oder Seiten im Einband, die den Eindruck von Abgenutzheit erweckt; oder eine leichte Stumpfheit des Kopf-, Vorder- und Fußschnitts; vielleicht auch ein unbestimmtes Gefühl von Abgegriffenheit, sowohl des Umschlags als auch des Einbands. Diese schwachen, aber doch nicht zu leugnenden Abnutzungsspuren sind weit davon entfernt, Buchschäden im eigentlichen Sinn zu sein. Der erfahrene Buchfreund spürt aber untrüglich, dass dieses gute Stück, das er da in Händen hält, von einem anderen Liebhaber schon viele Male zur Hand genommen wurde, oder vielleicht auch durch viele Hände vieler Liebhaber gegangen ist. Das Buch ist also gleichsam ausgespült und zugleich aufgeraut vom Schweißflor und Profil der unbekannten Hände, die nach ihm gegriffen, in ihm geblättert und zwischen seinen Seiten nach Freude, Ablenkung, Belehrung oder Erkenntnis gegraben haben.

Die offensichtlichste Spur vielfachen Gebrauchs eines Buches ist die Schiefstellung seines Rückens, wie bei einem in die Jahre gekommenen Lastenträger oder Möbelpacker. Solche ,schiefgelesenen‘ Bücher [s. Titelbild] können übrigens allenfalls dann geheilt werden, wenn sie fadengeheftet sind. In diesem Fall nimmt sie der Buchbinder vollständig auseinander und zieht neue Fäden ein. Bei Paperbacks oder Hardcover-Bänden, die gelumbeckt sind, kann die ,Schieflage‘ nur vorübergehend behoben werden, indem die Verleimung zum Rücken hin abgeschnitten, der Buchblock aufgeraut und wiederum nach dem Lumbeckverfahren verleimt wird. Die zuletzt beschriebene Reparatur kann man natürlich nicht beliebig oft wiederholen, weil der Bundsteg irgendwann aufgebraucht ist und somit Textverlust droht. Sie wird sich bei solch minderwertigen Büchern allerdings auch ohnehin kaum lohnen.

Während das schiefgelesen Buch in die Verantwortung der Hersteller fällt und nicht etwa in die der Leser, die diesem Buchleiden keineswegs durch eine besonders schonende Technik des Umblätterns entgegenwirken können, muss man eine lange Reihe anderer Gebrauchsspuren aufs Schuldkonto banausischer Leser schreiben. Ich will gar nicht von den hässlichen ,Eselsohren‘ sprechen, die offenbar vor Erfindung des Lesezeichens die einzige Möglichkeit waren, eine Leseunterbrechung im Buch zu markieren. Ich habe mir sagen lassen, dass man in einigen unzivilisierten Ländern noch viel rabiater verfährt, indem man die gelesenen Blätter augenblicks aus dem Buch rupft und einer rein physischen Zweitnutzung zuführt!

Die Verwendung von Wurst- oder Käsescheiben als Lesezeichen ist hingegen wohl ähnlich selten anzutreffen wie der Missbrauch des Buchs als Fliegenklatsche oder als Wurfgeschoss zum Vertreiben von Nagetieren.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (XI)

Saturday, 21. August 2010

schutzumschlaglichtrandig

In den ersten zehn Folgen habe ich jene Erkennungsmerkmale eines Buches vorgestellt, die allen Exemplaren eines Titels gemeinsam sind, wenn sie in jungfräulicher Reinheit, eins wie das andere ununterscheidbar gleich, die Druckerei und Binderei verlassen und als makellose Neuerscheinungen in den Buchhandlungen eintreffen. Das sind, wie wir gesehen haben, der Autorenname und gegebenenfalls die Namen weiterer Mitarbeiter, der Titel auf dem sauberen Titelblatt, Name und Ort des Verlags, das Erscheinungsjahr, der Umfang nach Seiten, das Format, die Einbandart und zuletzt noch fallweise die graphische Gestaltung.

Sobald aber das einzelne Buch seinen ersten privaten Besitzer erreicht hat, ist es einer Vielzahl von erodierenden, makulierenden, gar ruinierenden Geschehnissen ausgesetzt, die Spuren auf seinem empfindlichen Corpus hinterlassen und es damit unterscheidbar machen von allen Geschwistern seiner Auflage, und zwar in der Regel ein für alle Male. Fast immer mindern solche Spuren den ästhetischen oder praktischen Wert des Buches. Es wird aber auch von Fällen zu reden sein, in denen im Gegenteil eine manchmal sogar erhebliche Wertsteigerung zu verbuchen ist, wenn nämlich diese Spuren Rückschlüsse auf die Provenienz eines Buches erlauben oder dieses spezielle Exemplar sonstwie veredelt wurde. (Vielleicht eröffne ich hier gelegentlich eine neue Serie, in der ich einige der solcherart ,getrüffelten‘ Bücher meiner Bibliothek vorstelle und erzähle, wie sie in meinen Besitz gelangten.)

Was nun die Art der Spuren betrifft, die fast alle Bücher nach einer gewissen ,Lebenszeit‘ an sich tragen, so kann man vier große Gruppen unterscheiden: Alterung, Abnutzung, Beschädigung und Kennzeichnung.

Alterungsspuren können selbst bei pfleglichem Gebrauch und schonender Lagerung auftreten, etwa wenn das Papier von so schlechter Qualität ist, dass es mit den Jahren nachdunkelt, der Schutzumschlag oder Einband lichtrandig wird usw. Ein privater Sammler wird die Ansprüche professionell eingerichteter Archive kaum herstellen können, die ihre Bestände bei gleichbleibender Luftfeuchtigkeit und Temperatur konservieren und so dem Zahn der Zeit mit allerdings beträchtlichem Kostenaufwand trotzen. Immerhin wird man den legendären ,Bücherwurm‘, der früher als tierischer Buchschädling gefürchtet war, in heute üblichen hygienischen Verhältnissen einer Wohnung mit Standardkomfort kaum mehr antreffen. Auf der Hut sein sollte man allerdings vor versteckten Verfallsbeschleunigern im Buch. So kann die an sich ja verständliche Gewohnheit, Kritiken und Rezensionen zwischen den Seiten des besprochenen Buches zu verstecken, nach etlichen Jahren für böse Überraschungen sorgen, wenn nämlich solche Zeitungsartikel, auf billigstes Papier gedruckt, nachgedunkelt sind und die Bräunung auf die Buchseiten überschlug. Auch Werbekarten des Verlags haben gelegentlich einen solchen unwillkommenen Effekt. Nicht nur das Raumklima, sondern auch das Sonnenlicht kann zu sichtbarer Alterung führen, wenn die Einbände oder Buchrücken ihm dauerhaft ausgesetzt sind und hierdurch ausbleichen. Solche Verfärbungen sind besonders unschön, wenn unterschiedlich große Bücher nebeneinander standen und sich darum die Bleiche fleckenweise abzeichnete. Austrocknung des Leims tritt besonders bei der ersten Generation gelumbeckter Bücher häufig auf, als diese Bindetechnik noch nicht ausgereift war. Trotz aller Vorsicht führt dies bald zum Bruch der Bindung, in manchen Fällen bis hin zur ,Loseblattsammlung‘. Buchumschläge mit Cellophan-Kaschierung, eine Mode – oder eigentlich Unsitte – der 1960er- und 1970er-Jahre, verlieren ihren glanzvollen Teint auch ohne menschliches Zutun von den Rändern her durch Abplatzen der hauchdünnen Kunststofffolien. (Hilft man nach, um die hässlichen Fransen und Fetzen loszuwerden, reißt man leicht auch schon mal Fehlstellen in die darunterliegende Farbschicht. Dies fällt dann allerdings in die Kategorie ,Beschädigung‘.)

Und schließlich können auch lästige Geruchsspuren zur Beeinträchtigung des Buchgenusses beitragen. Möglicherweise rührt der strenge Duft daher, dass Bücher ihr Heim mit starken Rauchern teilen mussten? Weit häufiger begegnen in den Kisten der Trödler und Flohmarkthändler Bücher, die durch feuchte Lagerung muffig geworden sind, wogegen es noch kein Heilmittel zu geben scheint. Der Erfinder eines nachhaltigen ,Bücherdeodorants‘ würde sich jedenfalls große Verdienste unter den Sammlern erwerben und könnte mit dem Verkauf eines patentierten Mittels an sie und die Händler reich und berühmt werden.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (X)

Thursday, 19. August 2010

papagustavegei

Vor dem Zeichen war das Bild. Und so müssten eigentlich die Bilderbücher vor allen Lesebüchern Erwähnung finden. Immerhin spiegelt sich diese Entwicklungsgeschichte noch immer in dem Weg, den jedes Kind beschreitet, wenn es vom Seher zum Leser wird. Mein Vater hat meiner Ungeduld nachgegeben und mir lange vor der Einschulung eine appetitliche ,Bild-Buchstaben-Karte‘ gemalt und geschrieben: A a wie Apfel, B b wie Banane, C c wie Citrone und so fort bis Z z wie Zwetschge. Die ABC-Bücher und Fibeln für die I-Männchen sind die ersten Bücher, die den Weg in die neue Welt des Lesens, Verstehens und Phantasierens bereiten.

In den Büchern der Erwachsenen spielen Bilder meist eher eine Nebenrolle, zur gelegentlichen Illustration des Erzählten oder als schmückende Dekoration. Man mag ja sogar prinzipielle Einwände gegen solche Bebilderungen finden, die schließlich die Vorstellungskraft des Lesers in engere Bahnen lenkt und insofern seine Phantasie nicht beflügelt, sondern beschneidet. Bei Sach- und Fachbüchern können Abbildungen hingegen eine nahezu unverzichtbare Ergänzung sein. Botanische oder zoologische Monographien sind ohne Pflanzen- bzw. Tierbilder kaum vorstellbar, und auch ein Schachbuch erleichtert dem Nutzer den Nachvollzug erheblich, wenn das eine oder andere Stellungsbild eingestreut ist.

Jede literarische Epoche kennt aber auch für ihre poetischen Werke Meister der Bildkunst, die dem Sprachkunstwerk eine so kongeniale Visualisierung zur Seite stellen, dass ihre kretaive Leistung verdient, als gleichrangig gewürdigt zu werden. Dennoch ist es üblich, in Bücherverzeichnissen den Schriftsteller immer an erster, den Illustrator an zweiter Stelle zu nennen. Das mag seine Berechtigung schon deshalb haben, weil ja dieser sein Werk meist lange vollendet hat, bevor jener zum Pinsel oder Buntstift greift. Und schon gar wird sich der Umschlag- oder Einbandgestalter damit zufriedengeben müssen, in der Liste der Mitwirkenden an einem Buch erst an dritter oder vierter Stelle genannt zu werden.

Zweifelhaft wird die Rangfolge aber bei einer neueren Gattung illustrierter Bücher, den Comics. Denn hier arbeiten Autoren (wie z. B. René Goscinny) oft so eng mit Zeichnern (wie in diesem Fall Albert Uderzo) zusammen, dass man eine Vorrangstellung weder aus der zeitlichen Abfolge ihrer kreativen Leistungen noch aus deren Bedeutung für das Ergebnis ableiten kann.

Schließlich gibt es noch Bücher, bei denen die Abbildungen ganz im Vordergrund stehen oder die sogar ausschließlich Bilder zeigen und auf Text ganz verzichten, wie Bildbände mit Malerei oder Photographien. Hier sollte es im Regelfall natürlich der Künstler sein, der als Urheber des Werkes genannt wird, und nicht etwa ein Herausgeber oder Verfasser des Vorworts.

[Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der Umschlagillustration von Volker Kriegel zu dem 1987 im Haffmans-Verlag in Zürich erschienenen Buch Flauberts Papagei von Julian Barnes.]

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (IX)

Tuesday, 17. August 2010

gelumbecktegrimmausgabe

Materialkundlich gesehen besteht das traditionelle Buch mindestens aus 1. Papier und 2. Druckfarben: dem sog. Buchblock; zudem aus 3. Bindemitteln wie Fäden oder Klammern, 4. Pappe und Bezugsstoff wie Leinen, Leder, Kunststoff, Pergament u. ä. sowie 5. Leim: dem sog. Einband. Letzterer hält die losen Seiten oder Lagen zusammen, schützt sie gegen Verschmutzung oder Beschädigung und verleiht dem Buch Stabilität, die für eine aufrechte Lagerung im Regal oder Bücherschrank zweckmäßig ist.

Je nachdem, ob der Einband als handwerkliches Einzelstück von einem Buchbinder gefertigt oder maschinell und serienmäßig für eine komplette Buchauflage produziert wurde, spricht man von einem Handeinband oder von einem Verlagseinband. Die wenigen von Hand gebundenen Bücher in meiner Bibliothek kann ich an den Fingern beider Hände abzählen. Über die drei Bände von Heinrich Manns Kaiserreich-Trilogie habe ich früher bereits einmal berichtet und noch früher sogar Abbildungen der kostbaren Einbände ins Netz gestellt.

Was nun die weit überwiegende Zahl der industriell gebundenen Bücher in meinen Regalen betrifft, so wäre, würde ich sie nach Erscheinungsjahr sortieren, ein trauriger Niedergang der Produktqualität unübersehbar. Im Gefolge des Taschenbuchs, das seinen Massenerfolg (ab 1950) dem niedrigen Preis verdankte, welcher wiederum durch die Einführung der Klebebindung nach Emil Lumbeck (1886-1979) möglich war, begannen die Verlage Mitte der 1960er-Jahre, auch bei gebundenen Büchern auf die haltbare Fadenheftung zu verzichten und den Buchblock zu lumbecken. Und nur wenige Jahre später entwickelten die Buchhersteller Verfahren, die es ermöglichten, Pappdeckel mit feinen Prägeprofilen zu versehen, die auf den ersten Blick selbst beim Fachmann den Eindruck einer Leinenstruktur vortäuschten. Erst recht ließen sich natürlich Laien von dieser Camouflage täuschen.

Diese beiden objektiven Verschlechterungen der materiellen Buchqualität erfolgten natürlich aus reinen Kostengesichtspunkten und unter Konkurrenzdruck. Wozu Geld in den Luxus einer Buchausstattung investieren, den kaum ein Leser wahrnimmt? Dann steckt man die eingesparten Mittel doch lieber in die Werbung oder erhöht den Umsatz durch Preisnachlass. Mit der Verbilligung der Bücher blieb der Anspruch auf der Strecke, mit ihrem Erwerb einen dauerhaften Wert anzuschaffen. Bezeichnend für diesen Trend zum Ex-und-hopp-Buch war auch die Entwicklung des Schutzumschlags, dessen immer grellere, glänzendere Erscheinung den Blick von der Verödung des Inhalts, nämlich des Buches selbst ablenkte. [Das Titelbild zeigt die vierbändige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus dem Eugen DiederichsVerlag, in wundervoll verzierten Halbleinenbänden mit Lesebändchen – aber gelumbeckt!]

So sind in den letzten Jahrzehnten selbst halbwegs akzeptable Verlagseinbände in der Massenproduktion immer seltener geworden, wobei das deutsche Verlagswesen im internationalen Vergleich sogar noch vorbildlich ist. Der neueste Schrei ist die alberne Masche, in billigst gebundene Bücher und selbst in manche Taschenbücher Lesebändchen zu kleben, als wären mit dieser albernen Überflüssigkeit die eigentlichen Mängel auszugleichen. Ich habe übrigens noch nie ein gelesenes Buch gesehen, bei dem das Lesebändchen sich nicht unter der Nutzung in ein verschmutztes, ausgefranstes, geradezu unappetitliches Etwas verwandelt hätte. Für die kleine Schar anspruchsvoller Buchkäufer, die sich noch einen Rest sinnlicher Empfänglichkeit für solche Dinge bewahrt haben, gibt es eine Handvoll ambitionierter Verlage, die die Kultur des schönen, zweckmäßigen und haltbaren Buches pflegen. Die Andere Bibliothek, von Franz Greno und Hans Magnus Enzensberger 1985 gegründet, hat hier Maßgebliches geleistet und vorgeführt, dass ein solches Unternehmen mindestens für eine Zeit existenzfähig sein kann. Einige kleinere Verlage, wie die Friedenauer Presse in Berlin, der Weidle Verlag in Bonn oder zuletzt der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag, haben solide und zugleich entzückend schöne Bücher vorgelegt, doch man muss immer um die Existenz dieser kleinen Unternehmen bangen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VIII)

Monday, 16. August 2010

vonhierbisdortwirdgemessen

Nach dem Seitenumfang ist eine weitere quantitative Eigenschaft des Buches sein Format. Zwar das Bemühen der Buchhersteller, ihren Produkten durch ein auffallendes Äußeres besondere Aufmerksamkeit zu verschaffen, bisweilen seltsame Blüten getrieben, trotzdem begegnen uns runde, selbst drei- oder fünfeckige Bücher sehr selten. Gewöhnlich hat das Buch eine rechteckige Form, wobei das Hochformat die Regel und das Querformat seltene Ausnahme ist.

Traditionell wurden die Formatbezeichnungen von Büchern aus der Zahl der Bogenfalzungen abgeleitet. Ein einfach gefalzter Bogen ergab einen Folio-Band, zweifach einen Quart-, dreifach einen Oktav-Band. In England galten aber andere Bezeichnungen und Maße als in Frankreich und Deutschland, und so hat sich mittlerweile international eine Maßangabe aus Breite mal Höhe in Zentimetern durchgesetzt. Die Breite steht traditionell an erster Stelle, weil dies irgendwann einmal für die Papiermaße eingeführt wurde. Ich halte diese Regel aber für unsinnig, da die Höhe erstens wichtiger für den Nutzer ist. (Regalabstände!)

Zweitens aber kann die Höhe eines Buches, als Entfernung von der oberen zur unteren Einbandkante, immer exakt angegeben werden. Zur Ermittlung der legt man das Lineal an der rechten Kante des Einbanddeckels an und misst bis zum Buchrücken. Doch da wird es problematisch! Der Rücken ist bekanntlich bei den meisten gebundenen Büchern ab einer bestimmten Buchdicke rund. Nun weiß man nicht, an welcher Stelle genau man das Lineal ablesen soll. Gilt der ,höchste‘ Punkt der Rundung als Messpunkt? Ich habe mich entschieden, die Falzkante des Gelenks zu meiner persönlichen Messnorm zu erklären [s. Titelbild] und entgegen der geltenden Regel die Breite erst an zweiter Stelle zu nennen. Ist also der erstgenannte Messwert kleiner als der zweite, so handelt es sich um ein Querformat. Außerdem runde ich nicht wie üblich auf ganze Zentimeter, sondern gebe millimetergenaue Messwerte an.

Eins meiner größten Bücher ist übrigens (mit 43,4 x 33,2 cm) Arno Schmidts Julia oder die Gemälde, eins meiner kleinsten eine Miniaturausgabe von Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis (5,2 x 4,0 cm).

Und dann hat ein Buch, und sei es noch so seichten Inhalts, immer auch ein Gewicht. Selbst ,leichte‘ Bücher können also ganz schön schwer sein. Spätestens bei meinen zahlreichen Wohnungswechseln wurde mir dies ein ums andere Mal wieder bewusst, und zwar immer schmerzlicher, ließ doch mit den Jahren mein körperliches Leistungsvermögen nach, während der Umfang meiner Bibliothek, und damit ihr Gesamtgewicht, stetig zunahm. Ich kannte mal einen Berliner Antiquar, der einen Teil des Warenbestandes in seiner Mietwohnung lagerte, gestapelt immer ganz behutsam längs der Zimmerwände, denn der Holzfußboden knarrte bedenklich und er träumte nachts von einem Durchbruch in die darunterliegende Wohnung. Vielleicht liegt das Durchschnittsgewicht gebundener Bücher bei 400 Gramm, dann bringt es eine Bibliothek von fünftausend Bänden auf zwei Tonnen. Das sollte man sich vor Augen führen, bevor man sich gerade für diese unbequeme Sammelleidenschaft entscheidet.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VII)

Sunday, 15. August 2010

ossiwienerverbesserungseiteeins

Werke des Geistes nach quantitativen Gesichtspunkten zu beurteilen, das kann nur einem Banausen in den Sinn kommen. Vielleicht fährt ein solcher gerade deshalb alljährlich nach Bayreuth, weil die Wagner-Opern „so imposant lang“ sind. Da hat man doch was für sein Geld! Und beim Flächengigantismus der Malerei des zu Ende gehenden Jahrzehnts fragt man sich ebenfalls, ob diese Quadratmeterprotzerei sich nicht bloß einer neureichen Klientel andienen will, die mangels ästhetischer Argumente die Auswahl ihres Wandschmucks damit begründet, dass sie die riesigen Wände in ihren Villen „schließlich irgendwie vollkriegen“ muss.

Beim Buch hingegen kommt selbst der kulturloseste Einfaltspinsel kaum auf den Gedanken, dass sein Wert sich an der Zahl der Seiten ablesen ließe. Allenfalls in jener fernen Zeit, als die Alphabetisierung der Bevölkerung sich noch auf eine kleine Minderheit beschränkte, konnte der große Rest des Volks die Bibel allein schon deshalb für das ,Buch der Bücher‘ halten, weil sie nun mal eine besonders dicke Schwarte ist. Ich habe hier und dort bereits ein paar Gedanken zum dicken Buch in unserer Zeit geäußert. Nun geht es um den Umfang unterm Gesichtspunkt einer quantitativen Bemessungsgröße, ohne jede inhaltliche Wertsetzung.

Man kann die prinzipielle Frage stellen, wieviele Seiten denn mindestens zusammengebunden sein müssen, damit das Ergebnis überhaupt als Buch bezeichnet werden kann. Üblicherweise nennt man acht oder sechzehn oder auch zweiunddreißig Seiten im Verbund, in dieser Größenordnung meist bloß durch Metallklammern zusammengehalten, eher Heft als Buch. Solche Gebilde haben in der Regel keinen festen, sondern einen flexiblen, biegsamen Einband. Doch auch tausend Seiten dicke Bücher kommen heute flexibel gebunden auf den Markt. Es käme aber wohl niemand auf den Gedanken, einen solchen schwergewichtigen Band ein Heft zu nennen. Also müssen wir uns damit begnügen, dass die terminologisch Abgrenzung des Buches nach quantitativen Kriterien unscharf bleibt.

Immerhin kann man aber bei jedem Buch die Seitenzahl unzweideutig präzis angeben, wenngleich auch hier ein paar Tücken lauern und der Antiquar Vorsicht walten lassen muss, damit ihm keine Ungenauigkeiten oder gar Fehler unterlaufen. So genügt es beispielsweise nicht, hinten im Buch nach der letzten gedruckten Seitenzahl Ausschau zu halten und allenfalls noch die paar eventuell folgenden, nicht nummerierten Seiten hinzuzuzählen. Gerade bei älteren Büchern kommt es vor, dass ein vorgeschalteter Teil – bestehend z. B. aus dem Vorwort, einer Einleitung, Widmungen, dem Inhaltsverzeichnis etc. – mit römischen Zahlen versehen wird, bevor die arabische Paginierung des ,eigentlichen‘ Werkes beginnt. (Vollständig römisch paginierte Bücher sind hingegen sehr selten; s. Titelbild.) Sodann sind oft Abbildungen im Buch verstreut, die auf einem besonderen Kunstdruckpapier wiedergegeben werden. Diese Blätter fallen meist aus der durchgehenden Seitenzählung heraus und sollten gesondert erwähnt werden. Und schließlich ist es üblich, dass nicht mehr zum eigentlichen Inhalt gehörige Seiten am Schluss, welche der Verlag häufig zu Werbezwecken nutzt, getrennt angegeben werden.

Eine genaue Angabe des Umfangs eines Buches sieht dann zum Beispiel so aus: XVI & 356 & 12 S. & 16 unpag. Kunstdruck-Taf. m. 22 ungez. Abb.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (VI)

Saturday, 14. August 2010

zehntausendmalkristianiaboheme

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1969. – In dieser Form erscheinen die Verlagsangaben in der Regel in den antiquarischen Buchbeschreibungen. Dabei wäre der Ortsname in den meisten Fällen entbehrlich, denn schließlich ziehen solche Firmen ja nicht dauernd von einer Stadt zur anderen. Der über hundert Jahre alte Verlag von Ernst Rowohlt, um im Beispiel zu bleiben, ist dabei schon verhältnismäßig mobil gewesen. Er wurde 1908 in Leipzig gegründet, residierte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Stuttgart und Baden-Baden, bevor er 1950 nach Hamburg umzog und 1960 sein bis heute letztes Domizil in Reinbek fand. Weil Verleger meist eitle Menschen sind, breiten sie ihre Firmengeschichte mindestens alle 25 Jahre in detailreichen Chroniken aus. Diese Bücher können, neben den von besonders selbstverliebten Verlegern alljährlich herausgegebenen Verlagsalmanachen, wertvolle Rechercheinstrumente für den Antiquar sein.

Die – neben dem Namen des Autors und dem Titel – wichtigste bibliographische Angabe ist jedenfalls das Erscheinungsjahr. Eine Liste mit Veröffentlichungen eines Autors wird in aller Regel hiernach, also chronologisch in der Reihenfolge von deren Erscheinen geordnet sein. Dagegen könnte man mit Fug und Recht einwenden, dass doch vielmehr das Jahr der Entstehung bzw. Fertigstellung eines Schriftwerkes viel aussagekräftiger sei als das Jahr seiner Publikation, die ja nicht selten durch mancherlei Zufälle erst viele Jahre später, gelegentlich gar erst lange nach dem Tod des Autors erfolge. Mag sein! Und doch gilt als eigentliches ,Geburtsjahr‘ eines Buches das seiner ersten Vervielfältigung durch den Druck, die ja seinen öffentlichen Auftritt vor einem größeren Publikum erst möglich macht. Zudem ist der Entstehungszeitpunkt, oder richtiger: -zeitraum weit öfter unbekannt und auch nicht mehr ermittelbar, wohingegen indirekte Hinweise es meist erlauben, auch jene eher seltenen Bücher, in denen sich keine Jahreszahl ihres Erscheinens finden lässt, aufs Jahr genau zu datieren.

So wird das gelegentlich unvermeidliche Kürzel o. J. (für ,ohne Jahresangabe‘) oder lateinisch s. a. (für ,sine anno‘) nach manchmal geradezu detektivischen Ermittlungen vom Antiquar zu ergänzen sein durch einen Zusatz in eckigen Klammern, wie [ca. 1850], [zw. 1956 u. 1963] oder [nach 2004]. Hierbei können übrigens auch die sonst eher ungeliebten handschriftlichen Eintragungen der Vorbesitzer antiquarischer Bücher, wie Anschaffungsvermerke oder Widmungen, von großem Nutzen sein. In vielen Fällen hilft auch ein Blick in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, der mittlerweile auch online verfügbar ist und für die meisten undatierten deutschen Bücher des 20. Jahrhunderts erfreulich zuverlässige Jahresangaben ausweist.

Für den Antiquar, der schließlich mit dem Verkauf alter Bücher seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, ist das Erscheinungsjahr eines Buches, das er in Händen hält, aber noch aus einem anderen Grund bedeutsam. Viele Sammler haben sich nämlich auf den Erwerb von Erstausgaben (EA) spezialisiert. Dies mag der Laie für eine Narretei halten, unterscheiden sich doch spätere Auflagen ein und desselben Titels meist weder äußerlich noch vom Inhalt her von den Exemplaren der ersten Auflage. Es ist hier nicht die passende Gelegenheit, diese vermeintliche Marotte nach allen Dimensionen menschlicher Leidenschaft auszudeuten. Die Folge besagter Spezialisierung ist jedenfalls, dass Erstausgaben stets einen deutlich höheren Preis erzielen als alle weiteren Nachauflagen – selbst wenn diese ,um wichtige Zusätze erweitert‘, ,korrigiert‘ oder ,überarbeitet‘ erscheinen.

Und natürlich steigt der Preis einer Erstausgabe noch, wenn diese in einer verhältnismäßig kleinen Auflage erschien und das Buch anschließend ein ,Renner‘ wurde, es auf astronomische Auflagenzahlen brachte und sich zum ,Kultbuch‘ oder ,Klassiker‘ mauserte.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (V)

Friday, 13. August 2010

widmungandenunbekanntenverleger

Wenn jemand ein Buch geschrieben hat, dann hat er vier Möglichkeiten. Entweder verbrennt er es, dann ist es aus der Welt und er hat seine Ruhe. Oder er versteckt es in seiner Schublade, dann ist es mindestens fürs Erste aus der Welt, aber seine Ruhe hat er damit noch nicht, denn immerhin weiß er, dass da das Buch im Versteck lauert und vielleicht einmal hervorkommt, und sei es nach seinem Tod, und dann doch noch in die Welt hüpft, und was dann? Drittens kann er hergehen und es auf eigene Rechnung vervielfältigen, sagen wir hundert Stück per Xerokopierer® und Bindomatic®, um sie dann persönlich in der kleinen Welt seines Freundes- und Bekanntenkreises zu verschenken. Um seine Ruhe ist es dann voraussichtlich endgültig geschehen, denn er wird sich den Kopf zerbrechen, ob die vielen Lobesworte, die er anschließend zu hören bekommt, nicht falsche Komplimente sind, bis er irgendwann eines der per Hand gewidmeten und nummerierten Exemplare in einer Flohmarktkiste entdeckt, versehen mit überaus schmerzvollen Randnotizen und zum Preis von zwei Euro.

Darum wählt der Buchschreiber, der es wissen will, die vierte Variante, schickt die hundert xerokopierten und bindomaticgebundenen Exemplare seines Erstlingswerks per Post an zunächst bedeutende, dann aufstrebende, schließlich experimentierfreudige Verlage, erhält zunächst Absagen auf Vordrucken, dann Vertröstungen in persönlicher Form und schließlich Zusagen unter der Voraussetzung, dass er für einen Teil der Produktionskosten selbst aufzukommen bereit ist. Wenn ihm überm Schreiben noch nicht aller Realitätssinn abhandengekommen ist, lässt er es dabei bewenden. Er freut sich, dass ihn die wertvolle Erkenntnis, zum Schriftsteller nicht geboren zu sein, so wenig Zeit und Geld gekostet hat, um sich alsbald einer anderen Freizeitbeschäftigung zuzuwenden. Gehört er hingegen zu jener Sorte von Sturköpfen, die sich jede durch professionelle Gutachter erteilte Abfuhr nur als weitere Bestätigung ihrer vermeintlichen Genialität erklären können, dann wird die Irrfahrt richtig teuer und dauert schlimmstenfalls lebenslänglich.

Andererseits wächst die Produktion von Büchern und anderen Druckerzeugnissen in Deutschland Jahr für Jahr, sowohl in absoluten Stückzahlen (über eine Milliarde) als auch nach Zahl der verschiedenen Titel (mehr als hunderttausend). Folglich werden die Verlage, die diese Papierflut zu verantworten haben, immer wieder neue Autoren entdecken, denn es sterben ja auch ständig welche weg, deren Auswurf unmöglich allein durch Mehrarbeit der verbleibenden kompensiert werden kann. Schließlich herrscht aufseiten der Leser unausrottbar das Vorurteil, nach dem die jeweils allerneuesten Bücher den älteren unbedingt vorzuziehen sind, wie ja auch alle anderen Produkte wie Elektrogeräte, Fahrzeuge, Nahrungs- und Genussmittel, Hygieneartikel usw. laufend optimiert und den sich wandelnden Bedürfnissen und Moden angepasst werden.

Wenn bei meinem Leser aus dem bis hierher Gesagten der Eindruck erwachsen sollte, ich stünde dem Verlagswesen als solchem und auch den einzelnen Verlagen eher kritisch gegenüber, so bin ich gut verstanden worden. Aber noch in den finstersten Keller verirrt sich ab und zu ein Streifchen Licht. Und so will ich zum versöhnlichen Abschluss meiner Ausführungen über Buchverlage doch ein Gutes hervorheben, das sie immerhin durch ihre Namen als Bestandteil der Buchbeschreibung mit sich bringen.

Dem erfahrenen Leser, Sammler, Händler von Büchern wird nämlich durch kaum eine andere autobiographische Angabe mehr über ein ihm unbekanntes Buch und seinen Autor verraten, als eben durch dessen Zugehörigkeit zu einem Verlagsprogramm, das ihm vertraut ist. Wenn mir jemand sagt, dass ein Buch bei Diogenes oder Droemer Knaur, bei Lambert Schneider oder Langenscheidt, bei Kiepenheuer & Witsch oder Matthes & Seitz erschienen ist, dann weiß ich es auf einer imaginären geistigen Landkarte zu lokalisieren, weit zuverlässiger als durch das Lesen einer Inhaltsangabe oder Zeitungskritik. Hierfür sei den Verlagen gedankt!

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (IV)

Thursday, 12. August 2010

derassrebhuehnerfuerseinlebengern

„In der arbeitsteiligen Wirtschaft des sozialistischen Staats ist ein Industrieprodukt wie das Buch naturgemäß Ergebnis von vieler Menschen Hände Arbeit. Papierhersteller, Setzer, Drucker, Buchbinder, Packer, Typografen, Grafiker, Layouter, Lektoren und andere produzierende und gestaltende Werktätige begleiten das Buch auf seinem Weg von der Idee zum konkreten Objekt.“ So oder ähnlich könnten die ersten beiden Sätze in einem Berufsschulbuch über Das Druck- und Verlagswesen in der DDR für Lehrlinge in Buchhandel und Verlag gelautet haben. Da bei der Lektoratstätigkeit die Hände keine vorrangige Rolle mehr spielen, hätte man deren Aufnahme in die Liste als eine jener vielen kleinen Unredlichkeiten der Volksgenossen im Kombinat ,Lehren und Lenken‘ hinnehmen müssen, die immer dann unterlaufen, wenn sich das Denken entlang ideologischer Leitlinien bewegen muss. Immerhin träfe auf die Lektoratsarbeit aber wieder zu, was im dritten Satz über die namenlosen Helfer gesagt worden wäre: „All diese Menschen verschwinden hinter ihrer fachkundigen Arbeit und sind namentlich im fertigen Buch nicht vermerkt, obwohl doch ohne sie dieses Produkte niemals den Markt erreichen und die Bürger belehren oder erfreuen könnte.“

Wem wird also dann die Ehre zuteil, mit seinem bürgerlichen Namen neben dem Autor als Mit-Urheber oder Koproduzenten irgendwo im Buch, wenn nicht gar auf der Titelseite genannt zu werden? Bei Neuausgaben älterer, vielleicht schon ,klassischer‘ Werke ist es oft ein Herausgeber, der sich um die Neuedition besondere Verdienste erworben hat, indem er die früheren Ausgaben verglich, vielleicht gar Manuskripte des Autors hinzuzog und so zu einer fehlerfreien, gar historisch-kritischen Ausgabe zu gelangen. Vielleicht gibt es den prominenten Verfasser des Vor- oder Nachwortes, der seinen guten Namen und ein paar kluge Gedanken zur Verfügung stellt, um dem Buch eines etwa bislang unterschätzten Autors zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen? Manche Bücher bedürfen zum Verständnis des Laien fachkundiger Erläuterung, für die ein Kommentator sorgt. Und große Verantwortung für die Lesbarkeit bei allen im Original fremdsprachigen Werken trägt schließlich der Übersetzer, ohne dessen schwierige Arbeit uns ein Großteil der Weltliteratur unzugänglich bliebe. Alle diese ,Autoren in der zweiten Reihe‘ verdienen es, im Buch genannt und somit auch in die bibliographische Beschreibung aufgenommen zu werden, um ihnen im Erfolgsfall für ihre Leistungen die gebührende Anerkennung zollen, andernfalls aber auch berechtigte Kritik an die zuständige Adresse richten zu können.

Und dann gibt es noch, beosnders bei wissenschaftlichen Werken, die Danksagung der Verfasserin an all die offen oder im Verborgenen mitwirkenden Helfer, die sie auf dem beschwerlichen Weg bis zum nun endlich fertig vorliegenden Werk begleitet, sie mit Rat und Tat unterstützt, ihr in schwierigen Phasen Mut zugesprochen und ihr in zahllosen Detailfragen unschätzbar wertvolle Tipps gegeben haben, bis hin zu Tante Mienchen mit ihrem beruhigenden Kamillentee und Kater Bonifatius, der etliche überaus störende Fliegen fing.

Ob es eine solche Reverenzlitanei verdient, in eine antiquarische Autopsie aufgenommen zu werden, außer vielleicht als originelle Dekoration, das ist Geschmacksache und vielleicht davon abhängig, ob unter den genannten Personen namhafte Geistesgrößen auszumachen sind, deren Glanz auf die Danksagende abstrahlt. Letzteres wird häufiger einmal bei einem Vorbild, Freund oder Lehrer des Autors der Fall sein, der von ihm mit einer gedruckten und damit öffentlich gemachten Zueignung oder Widmung bedacht wurde.

Es stehen also gelegentlich im Buche sehr viele (Personen-)Namen, die neben dem Autor, in der zweiten oder dritten Reihe, ihren Platz finden; den nach dem Verfasser wichtigsten habe ich dabei allerdings aus guten Gründen noch ausgespart, da er nur mit einer Einschränkung hinzugehört: den Verleger. Er soll in der nächsten Folge zu seinem Recht kommen.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (III)

Wednesday, 11. August 2010

zweibuechergegeneinanderausgespiegelt

Wie heißt dieses Buch? Wie heißt dieses Buch? – Nein, ich beginne nun nicht, in ganzen Sätzen zu stammeln. Vielmehr halte ich in meiner linken Hand ein ganz reales Buch, während ich die erste Frage stelle. Und dann gebe ich mir selbst die Antwort auf diese Frage, indem ich den Titel des Buches nenne. Der Mathematiker, Logiker, Konzertpianist, Taoist und Zauberer Raymond M. Smullyan hat es geschrieben. Es heißt im amerikanischen Original What Is the Name of This Book?, in der deutschen Übersetzung Wie heißt dieses Buch? – Gleichzeitig halte ich in der rechten Hand ein Buch des Geschichtsprofessors, Pataphysikers und ständigen provisorischen Sekretärs des ,Ouvroir de Litterature Potentielle‘ (OuLiPo), Marcel Bénabou, das den paradoxen Titel hat: Pourquoi je n’ai écrit aucun de mes livres, zu Deutsch: Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe.

In dieser Pose wollte ich gleich eingangs deutlich machen, dass uns das Stichwort ,Titel‘ auf ein überaus doppelbödiges, schwankendes, sumpfiges, verspiegeltes, nebliges Gelände entführt. Wenn Bénabou keines seiner Bücher geschrieben hat, besser: wenn er keines jener Bücher verfasste, die auf der Titelseite seinen Namen tragen, wie er gleich im Titel seines Buches Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe? vorausschickt, das ebenfalls seinen Namen trägt, wer hat dann eben dieses Buch geschrieben, in dem erklärt werden soll, warum er keines seiner Bücher schrieb? Und darf man denn überhaupt diesem Geständnis über die vermeintliche Nicht-Autorschaft von Bénabous Büchern trauen, wenn doch selbst dieses Geständnis eingestandenermaßen nicht von Bénabou stammt? Ebensogut könnte der Titel seines Buches dann lauten: Pourquoi je n’ai écrit ce livre?

Da der Autorenname allein kaum taugt, ein Buch schon äußerlich unverwechselbar zu machen oder gar inhaltlich zu kennzeichnen – weil erstens Autoren eine Neigung haben, wenn schon dann gleich mehrere Bücher zu veröffentlichen; weil zweitens verschiedene Personen gelegentlich den gleichen Namen tragen und solche Duplizitäten auch den schreibenden Stand nicht verschonen; und weil schließlich Personennamen nur zufällig einmal etwas über den Träger und damit vielleicht auch indirekt über das Ergebnis seiner Tätigkeit, hier: das geschriebene Buch aussagen – da also ein Buch mit nichts als dem Namen seines Verfassers auf dem Titel ebenso nichtssagend wie verwechselbar ist, verzichtet kein Autor auf die Gelegenheit, alles was er drinnen mit hunderttausend Worten sagen will, draußen mit einer Handvoll, allenfalls einem knappen Dutzend Wörtern immerhin anzudeuten.

Als die Geschichte der gedruckten Bücher ihren Anfang nahm, waren deren Autoren noch wesentlich spendabler mit den Auskünften, die sie im Titel dem möglichen Käufer und Leser erteilten: So heißt einer der ersten Erfolgsromane der deutschen Literatur: Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch | Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten | genant Melchior Sternfels von Fuchshaim | wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen | was er darinn gesehen | gelernet | erfahren und außgestanden | auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Drei Jahrhunderte später sind die Romantitel auf wenige Buchstaben geschrumpft: Knulp (Hermann Hesse 1915), Hiob (Joseph Roth 1930), Bin (Max Frisch 1945), Watt (Samuel Beckett 1953), Pnin (Vladimir Nabokov 1957), Frost (Thomas Bernhard 1963); bis hin zu einbuchstabigen Titeln wie V. (Thomas Pynchon 1963) und A (Andy Warhol 1968). Seither geht’s langsam wieder aufwärts. So erscheint in diesem Jahr ein Roman von Jan Faktor mit dem schon fast barock anmutenden Titel Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag.

Was will eigentlich der Titel eines Buches beim potenziellen Käufer bezwecken? Die Autoren schlagen ihren Verlegern oft Titel vor, von denen sie annehmen, dass sie neugierig machen könnten auf den Inhalt. Den Verlegern hingegen ist mehr daran gelegen, dass die Titel einprägsam sind, damit sie bei der Mund-zu-Mund-Propaganda nicht dauernd auf der Strecke bleiben. Bei der unüberschaubar großen Zahl von Büchern gibt es in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Leser naturgemäß nur sehr wenige Titel, die wirklich im Gedächtnis vieler Leser haften bleiben. So überrascht es nicht, dass die Buchtitel der Romane dieser Sommersaison 2010 zum überwiegenden Teil völlig nichtssagend sind. Bei aller bemühten Originalität nahezu bedeutungslos sind Namentitel wie Juja, Thennberg, Kornblum, Ben, Harold, Robinson und Julia, Pascolini, Die Erdbeeren von Antons Mutter, Der Sturz des Friedrich Voss, Alles über Sally, I am Airen Man, Axolotl Roadkill, Die Akte Rosenherz, Hellersdorfer Perle, Spaziergänger Zbinden, Kokoschkins Reise, Mihriban pfeift auf Gott, Sevilla, Grunewaldsee, Berlin Palace, Von Dschalalabad nach Bad Schallerbach und Hummeldumm. Kaum wesentlich mehr zur Anregung konkreter Vorstellungsinhalte liefern solche Ein-Wort-Titel wie Schonzeit, Kennung, Meeresstille, Schaumschwester, Silberfischchen, Heimaturlaub, Runterkommen, Horchen, Vorliebe, Bodenlos, Möchtegern, auch dann nicht, wenn sie um den bestimmten Artikel ergänzt werden: Der Liebespakt, Die Herrenausstatterin, Das Fenster, Die Leinwand, Der Koch, Das Matratzenhaus. Nicht viel besser bestellt ist es um die folgenden blässlichen Titel, bei denen man sich kaum vorstellen kann, dass es sie nicht schon mindestens einmal gegeben hat, und zwar vermutlich in allen bedeutenderen Nationalliteraturen der Welt: Die komische Frau, Die verlorenen Stunden, Der Sommer in dem Folgendes geschah, Zur falschen Zeit, Und dann diese Stille, Das Beste daran, Vorläufige Ankunft, Wenn Du wiederkommst, Ans Meer, Durch den Wind, Die Welt ist im Kopf, Komödie des Alterns, Wir vier, Roman unserer Kindheit, Ich weiß nicht und Das war ich nicht. Immerhin einen leichten Kitzel auf dem präfrontalen Kortex lösten bei mir folgende Titel aus: Vom Atmen unter Wasser, Einladung an die Waghalsigen, Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand, Und im Zweifel für dich selbst, Der Mann der durch das Jahrhundert fiel, Sogar Papageien überleben uns, Am Anfang war die Nacht Musik und Kolonie der Nomaden. Kein richtiger ,Kracher‘ ist darunter, zum Beispiel so etwas wie Kühe in Halbtrauer. Aber wirklich unsterblich gute Romane sind ja ebenfalls sehr selten, warum sollte es sich dann mit den Titeln anders verhalten.

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (II)

Tuesday, 10. August 2010

leoperutzdrittekugeltitel

Auf den Autorennamen folgt in Bücherlisten in aller Regel der Titel des Buches. Der äußerlich augenfälligste Platz für dieses Gespann sind am Objekt der Auflistung selbst der Buchrücken und Buchdeckel. Maßgeblich für die einwandfreie Identifikation eines Buches ist jedoch die Titelseite, als Vorderseite des Titelblatts. Um welche Seite genau handelt es sich dabei aber? Jedenfalls ist es eine Seite ganz weit vorn im Buch, bevor dessen eigentlicher Inhalt beginnt. Und prinzipiell handelt es sich um eine rechte Buchseite; oder, was aufs Gleiche hinausläuft, um die Vorderseite eines Blattes. Daher trüge die Titelseite jedenfalls eine ungerade Seitenzahl, so sie denn mit einer Seitenzahl versehen wäre. Allerdings haben die ersten vier, sechs oder gar acht Seiten eines Buches in aller Regel gar keine Seitenzahlen, meist begegnet dem Leser die Ziffer 7 als erste Seitenzahl im Buch. Rechnet man von dort zurück, so ist die Titelseite oft eine Seite 3 oder 5, aber darauf ist kein Verlass. Was man immerhin noch sicher von ihr sagen kann: Sie ist in jedem Falle die dritte Seite der sog. Titelei. Hierunter versteht man nun wieder etwas ganz eigenes, nämlich folgende vier Seiten in dieser Reihenfolge: Schmutztitel, Frontispiz, Titelseite und Impressum. (Die Seiten eins, zwei und vier in diesem Quartett werden weiter unten noch eingehend zu würdigen sein.)

Was steht nun eigentlich auf der Titelseite? Was ist dort üblicherweise zu lesen? Name des Autors, Titel des Buches, Name (und gelegentlich auch Ort) des Verlags. Weitere Informationen – wie Untertitel, Gattungsbezeichnungen, Namen von Herausgebern oder Übersetzern usw. – können hinzukommen. Und in aller Regel sind die paar Worte in einer größeren Schrifttype gesetzt als der Rest des Buches, sein eigentlicher Inhalt.

Warum ist nun das Titelblatt für ein Buch so bedeutungsvoll, dass es seinen antiquarischen Wert erheblich mindert, wenn es bekritzelt, bestempelt, beschädigt oder gar vollständig entfernt ist? Ganz einfach deshalb, weil das Buch mit diesem Blatt seine Identität verliert. Es geht ihm ähnlich wie dem Seemann Gales in B. Travens Roman Das Totenschiff: Es hat in diesem Fall kein Alter, keine Herkunft und keinen verbürgten Namen; es existiert offiziell gar nicht und hat insofern auch keinen irgendwie bestimmbaren Wert. Es ist ein nichtswürdiges Nichts. Und es ist bezeichnend, dass Bibliotheken sich mit ihren Stempeln vorzugsweise auf der Titelseite verewigen, denn damit berauben sie das Buch für alle Zeit seiner Möglichkeit, in der freien Welt (des Marktes) eine Rolle zu spielen, ganz so wie der Souverän, der seinem Sklaven ein Brandzeichen auf die Stirn presst, ihn für alle Zukunft an sich bindet.

In einer verschollenen Anthologie von Erzählungen rund um das Thema Buch habe ich vor langer Zeit einmal die Geschichte eines pathologischen Bibliomanen gelesen, der sich aufs Sammeln von Titelblättern spezialisiert hatte. Er stahl diese, wann immer sich ihm die Möglichkeit dazu bot: aus den Büchern der Buchhandlungen und Antiquariate, aber auch aus Privatbibliotheken und sogar aus Kirchen, wo manchmal eine alte Bibel unbeaufsichtigt auf dem Altar auslag. Er besaß ein eigens gefertigtes Spezialmesser, welches ihm erlaubte, das Titelblatt mit einer einzigen blitzschnellen Handbewegung herauszutrennen, und zwar so überaus geschickt, dass selbst ein geübtes Auge nicht mehr erkennen konnte, dass sich an dieser Stelle je ein Blatt Papier befunden hatte. Der Urheber dieses seltenen Falls von Vandalismus und Buchfrevel war im Volksmund unter dem Namen Bookripper bekannt. Ich weiß nicht mehr, durch welches Missgeschick er schließlich zur Strecke gebracht wurde, sehr genau erinnere ich mich aber an sein Motiv. Er war auf der Suche nach der perfekten Titelseite, bei der einach alles stimmt: das Verhältnis von Höhe zu Breite des Blattes, die Art und Farbe der Schrifttype, die Proportionen der Zeilenlängen und Schriftgrößen, aber auch etwaiger Schmuckleisten und Ornamente bis hin zur harmonischen Einbettung eines Verlagssignets oder gar einer Illustration.

Heute hätte es ein solcher Titelseiten-Fetischist leichter. Er müsste nicht die Bücher selbst beschädigen, um seine Kollektion zu bereichern, sondern könnte sich mit Scans der edlen Buchtitel begnügen. – Mein Titelbild heute zeigt das Frontispiz (von Wilhelm Schulz) und die Titelseite von Leo Perutz: Die dritte Kugel. (München: Albert Langen, 1915.)

Kleines 1×1 der Buchbeschreibung (I)

Wednesday, 04. August 2010

hiobromaneineseinfachenmannesvonjosephroth

Listen gleich welcher Art müssen stets nach einem beherrschenden Ordnungsprinzip ausgerichtet sein, damit das einzelne Objekt, das in ihnen gelistet ist, schnell auffindbar bleibt. Meist sind die Objekte alphabetisch, gelegentlich auch numerisch geordnet, wobei in jedem Fall der ordnende Begriff, gleich ob Wort oder Zahl, als sog. Lemma am Anfang der Objektbeschreibung steht. Bei Bücherlisten ist es bewährte Tradition, dass Familien- und Vornamen des Autors eines Schriftwerks das maßgebende Lemma für die Sortierung bilden. Diese schlichte Konvention ist im Regelfall unproblematisch, birgt in Einzelfällen allerdings mancherlei Tücken.

Was, wenn ein Buch einen Autorennamen gar nicht vorweisen kann? An der altisländischen Edda haben vermutlich verschiedene Verfasser mitgewirkt, von denen Snorri Sturluson bloß ein zufällig namentlich bekannter ist. Auch das Nibelungenlied oder die Bibel haben entweder viele Autoren oder keinen. In solchen Fällen tritt üblicherweise der Titel als Lemma an die Stelle des Autors. Auch Lexika, Wörterbücher und ähnliche Nachschlagewerke sind meist das Ergebnis kollektiver Mitwirkung zahlreicher Beiträger, weshalb Duden oder Brockhaus unter ihren Titeln gelistet werden. Es sei denn, dass sich ein namentlich auf der Titelseite ausgewiesener Herausgeber um die Zusammenstellung der Texte aus verschiedenen Quellen besonders verdient gemacht hat. In diesem Falle gebührt ihm ersatzweise das Recht an der vakanten Autorschaft. Den Bärenanteil solcher Fälle machen Anthologien aller Art aus. In seltenen Fällen ist aber keinerlei Urheber eines Druckwerks angegeben. Die Verfasser politischer oder pornographischer Schriften hatten in weniger liberalen Zeiten gute Gründe, ihre Identität hinter einem Pseudonym zu verstecken oder solch heikle Bücher gleich anonym erscheinen zu lassen. Manchmal verbergen sich hinter einem fingierten Personennamen wie Nicolas Bourbaki auch ganze Autorenkollektive.

Der sorgfältige Antiquar wird bemüht sein, Pseudonyme zu lüften und auch die Autoren anonymer Werke zu ermitteln. Hierfür gibt es Nachschlagewerke und auch schon Listen im Internet. Grundsätzlich gilt aber für die sachgerechte Autopsie, dass zunächst lediglich jene Angaben zu vermerken sind, die dem vorliegenden Buch selbst entnommen werden können, genauer: der Titelseite; also nicht etwa dem Umschlag, Buchrücken oder -deckel. Alle Ergebnisse etwaiger detektivischer Nachforschungen des Antiquars sind in eckige Klammern […] zu setzen.

Mancherlei Tücken bergen zudem Namen aus fremden Sprachen. Die Akzente bei dem Franzosen Prosper Mérimée richtig zu platzieren ist noch eine vergleichsweise leichte Übung, da geht die korrekte Schreibweise des Tschechen Václav Beneš Třebízský schon etwas schwerer von der Hand. Immerhin ist mittlerweile die Darstellung selbst exotischer Sonderzeichen dank PC und Textverarbeitungs-Programm möglich. Verwirrung entsteht immer wieder bei ostasiatischen Autoren, weil Vor- und Familienname verwechselt werden. In der dortigen Namensordnung steht, ähnlich wie in manchen Gegenden Bayerns, der Familienname an erster und der Vorname an zweiter Stelle: Ono Yoko. Als die Japanerin im Okzident reüssierte, passte sie ihren Namen an und nannte sich hinfort Yoko Ono. Vorsichtshalber sollte man bei Japanern, Chinesen, Koreanern oder Vietnamesen immer prüfen, ob der Titel die konventionelle oder die westlich angepasste Reihenfolge wiedergibt, bevor man sich zum Beispiel für die Sortierung und Ablage unter „Ono, Yoko“ entscheidet.

Dass ein Autoren- oder Herausgeber-Name als entscheidendes Ordnungswort korrekt wiedergegeben werden muss, ist unmittelbar einleuchtend, denn als Lemma erfüllt er nur dann seine Funktion, wenn er das Objekt, das ihm zugeordnet ist, in jeder noch so langen Auflistung gleichartiger Objekte bequem auffindbar macht. Aber natürlich birgt der Name darüber hinaus noch weit mehr Erkenntnismöglichkeiten über das mit ihm verbundene Objekt. Was ist zur Biographie der Person zu ermitteln, die sich hinter diesem Namen verbirgt? Welche Werke hat sie gegebenenfalls noch verfasst oder herausgegeben? Und welche Rückschlüsse erlauben diese biographischen und bibliographischen Hintergründe auf das vorliegende Werk? – Mir wird bei dieser Gelegenheit bewusst, dass ich als Büchermensch vermutlich wesentlich mehr Namen von Autoren kenne, deren Bücher ich gelesen habe oder doch vom Hörensagen kenne, als Namen von Mitmenschen meiner realen Lebenswelt. Ist das befremdlich; oder gar erschreckend? Lebe ich, Schatten meiner selbst, auf weite Strecken aus zweiter Hand in einer irrealen Parallelwelt, auf Kosten der authentischen Realitätserfahrung?

Antiquariat (II)

Thursday, 15. April 2010

paradisenow

Mehr als ein Vierteljahr ist nun ins Land gegangen, seit ich die Eröffnung meiner Firma – Manuel Hessling Antiquariat Revierflaneurhier bekannt gab. Unvorhergesehene Widrigkeiten aller Art hemmten meine Unternehmungslust ein ums andere Mal. Erst jetzt, so scheint’s, kann ich endlich Nägel mit Köpfen machen.

Heute habe ich die ersten hundert Bücher aus dem Lager gezogen, sie abgestaubt, durchgesehen, auf versteckte Mängel geprüft und auf ihren Verkaufswert taxiert. Ich stellte eine bunte Mischung zusammen, ließ mich dabei vom Zufall bestimmen, suchte nicht nach besonders wertvollen Preziosen. Schließlich sollte es ja ein represäntativer Querschnitt sein, den ich da sozusagen als Kostprobe an den Internet-Vertrieb melden würde. Wenn ich meine komplexen Gefühlsregungen bei dieser Arbeit auf einen einfachen Begriff bringen müsste, so würde ich sagen: Es beschlichen mich „gemischte Gefühle“ – und diese halten auch noch an.

Einerseits bin ich froh, mich nun endlich zu diesem Schritt durchgerungen zu haben: mich nämlich von einem großen Teil meiner längst über jedes vernünftige Maß hinaus angeschwollenen Bibliothek zu trennen. Andererseits sind mit manchem Buch, das ich in der Hand und in meinem Herzen wäge, so viele intensive Erinnerungen verbunden, dass es mir manchmal erscheint, als würde mit dieser Trennung ein Stück meiner eigenen Geschichte ausradiert.

Dies gilt besonders für Bücher, die ich noch als Jugendlicher von meinem schmalen Taschengeld gekauft habe. Nach langem Zögern und Zagen habe ich mich damals speziell zu diesem Buch durchgerungen und dafür auf ein paar andere verzichtet, die mit ihm konkurrierten. So war es zum Beispiel mit dem kleinen Bildbändchen The Living Theater – Paradise Now. (Ein Bericht in Wort und Bild. Text Erika Billeter. Fotos Dölf Preisig. Bern München Wien: Rütten+Loening Verlag, 1969.) Das habe ich vermutlich 1972 in einem Modernen Antiquariat an der Rüttenscheider Straße gekauft, für 3,95 DM statt 9,80 DM. Wie beneidete ich damals die lebensfrohen Akteure der Theatertruppe von Julian Beck (1925-1985) und Judith Malina (*1926). Ich hätte am liebsten mit meinen 16 Jahren die Schule geschmissen und wäre aufgebrochen, um mich diesen spielfreudigen Hippies anzuschließen. Wenn ich heute in dem Büchlein blättere, das ich schon seit vielen Jahren nicht mehr in die Hand genommen habe, dann fühle ich mich sofort wieder in diese Jugendträume hineinversetzt.

Ich schreibe 18,00 Euro hinein und verabschiede mich von ihm mit einem wehmütigen Lächeln. Vielleicht ist das viel zu teuer? Aber es ist mir lieb und teuer. Billiger gebe ich’s nicht her. Wahrscheinlich werde ich mit diesem Unternehmen auf keinen gründen Zweig kommen. Aber warten wir es ab.

Unangeleint

Wednesday, 20. January 2010

lola

Vergangene Woche starb in Berlin kurz vor Vollendung ihres 69sten Lebensjahrs die linke Essayistin Katharina Rutschky, die einer größeren Öffentlichkeit Ende der 1970er-Jahre durch das von ihr herausgegebene Quellenbuch zur „Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung“ bekannt wurde. Dessen Titel, Schwarze Pädagogik, ging danach in den allgemeinen Wortschatz ein zur Bezeichnung eines durch Jahrhunderte geübten Erziehungsstils, der es sich nicht zur vornehmsten Aufgabe machte, die natürlichen Anlagen des Kindes durch liebevolle Zuwendung nach Möglichkeit zu fördern, sondern ihm stattdessen mit einem großen Arsenal physischer und psychischer Strafwerkzeuge Disziplin, Fleiß und Gehorsam anzudressieren. (Rutschky selbst war übrigens kinderlos, und ihre Tätigkeit als Lehrerin beschränkte sich auf junge Erwachsene im zweiten Bildungsweg. Ich überlasse es dem Leser, ob er dieses praktische Defizit bei der Parteinahme in pädagogischen Diskursen für einen Vor- oder Nachteil halten will.)

Mir war Katharina Rutschky in den 1980er-Jahren als gelegentliche Beiträgerin zu Wagenbachs Freibeuter aufgefallen. Aus traurigem Anlass habe ich in den vergangenen Tagen ihre kurzen, aber hoch konzentrierten Geschichtsbetrachtungen zur Pädagogik noch einmal durchgesehen und bin dabei auch auf einen Text gestoßen, der mich heute naturgemäß sehr interessiert: Die kleine und die große Pause. Eine Anleitung zum Nichtstun oder: Gibt es Grenzen der pädagogischen Vergesellschaftung? (in: Freibeuter. Vierteljahresschrift f. Kultur u. Politik. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 1987, Heft 33, S. 31-42.) Dass sie bei „Ausflügen in den real existierenden Feminismus“ bereits vor zehn Jahren mit Alice Schwarzers neuem Spießertum im gefälschten Gewand der Aufklärung abgerechnet hat, spricht sehr für die geistige Unabhängigkeit dieser Feministin der ersten Stunde, wenngleich ich skeptisch bin, ob sie bei den betroffenen Akteurinnen damit mehr erreicht hat als die Verurteilung als Ketzerin und Nestbeschmutzerin. (Emma und ihre Schwestern. München: Carl Hanser Verlag, 1999.)

Völlig übersehen hatte ich aber bisher, dass Katharina Rutschky auch Autorin eines ganz außergewöhnlichen Buchs über bellende Zweibeiner ist: Der Stadthund. (Von Menschen an der Leine. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2001.) Ausnahmsweise zitiere ich hier mal den Klappentext: „Wohl wenige Themen sind so sehr geeignet, die Menschheit in zwei Parteien zu spalten, wie die Frage, ob man in der Großstadt einen Hund halten soll. Katharina Rutschky, streitbare Publizistin aus Berlin, ist bekennende Hundehalterin. Mit ihrem Cockerspaniel namens Kupfer flaniert [!] sie täglich durch die Straßen der Hauptstadt. – Eines der geistreichsten und unterhaltsamsten Tierbücher seit langem! Pflichtlektüre für Hundehasser und Hundeliebhaber!“ Naja, die Hundehasser wird man wohl kaum zur Lektüre verpflichten können, ebensowenig wie die Emma-Abonnentinnen zum Lesen des vorgenannten Buches. Andererseits muss man auch nicht wie ich selbst auf den Hund gekommen sein, um großen Gewinn aus diesen Reflexionen einer langjährigen Stadthundehalterin ziehen zu können, und zwar längst nicht nur über die doch sehr speziellen Fragen der Erziehung, Ernährung und Pflege solcher Vierbeiner.

Im Rahmen meines Flaneurblogs ist besonders das 8. Kapitel, „An einem Tag wie jeder andere“, von Interesse. Hier beschreibt Rutschky, wie sie sich in Begleitung von Kupfer – dessen Vorgänger Nickel heiß – durch die Stadtlandschaft bewegt, welche Begegnungen mit Hunden, Fahrrädern, Hundehaltern und Hundelosen dabei vorkommen, welche Verbote dabei zu befolgen sind – oder auch bewusst übertreten werden können, und was dann passiert. Wer dergleichen nie erlebt hat, bekommt einen guten Eindruck davon, wie das Spazierengehen in Gesellschaft des Tieres nicht nur einen völlig anderen Charakter bekommt, andere Prioritäten gesetzt werden und die Wahrnehmung der Wege sich schärft, wohingegen die Fixierung des Ziels gelegentlich in Vergessenheit gerät. Der Leser bekommt auch eine Ahnung davon, wie sich das Zeitempfinden verändert: „Allmählich wird meine Zeit knapp; wenn man als privilegierter Heimarbeiter nämlich nicht über ein hoch entwickeltes Pflichtgefühl verfügt, kann einen jeder Hund mit seiner unerschöpflichen Lust am Streunen und Herumziehen zum Vertrödeln vieler kostbarer Arbeitszeit animieren. Die vorhin erwähnte Regel […], die besagt, dass der Hund unter allen Umständen einen täglichen Anspruch auf sechzig Minuten Ausgang hat, Erde und Wasser inklusive, dient also auch dem Schutz des Menschen vor Verführung. Ich habe mir angewöhnt, nie ohne Armbanduhr mit Kupfer loszuziehen.“ (Ebd., S. 143 f.) Erde und Wasser inklusive? Das heißt, dieser Cockerspaniel will nicht nur auf Pflaster laufen; und Kupfer liebt es, im Wasser zu tollen.

Die wichtigste Erkenntnis lautet darum: Wenn man seinem Hund Gutes tut, tut man in aller Regel auch sich selbst etwas Gutes! Tierhaltung bringt die Rückkehr zu einem „animalischen Egoismus“ mit sich. Vor unseren beiden letzten Umzügen war zum Beispiel die artgerechte Wohnlage für unsere Lola durchaus ein wesentliches Kriterium bei der Wohnungssuche. Dass wir dennoch bis vor einem halben Jahr keinen Wald in fußläufig erreichbarer Nähe hatten und uns mit einem mickrigen Park begnügen mussten, war ein echtes Manko für unseren Hund, aber auch für uns selbst. Indem wir nun die Interessen unserer Hündin in unsere Erwägungen einbezogen, schlossen wir gewisse Objekte von vornherein aus und fanden so schließlich ein neues Heim, das nicht nur hundgerecht, sondern auch uns Menschentieren überaus gemäß ist.

Welt, Zahl und Bild

Sunday, 17. January 2010

fussballgott

Die Empfehlung, man solle keiner Statistik vertrauen, die man nicht selbst gefälscht hat, gilt seit Mitte des vorigen Jahrhunderts als fester Bestandteil des Skeptizismus gegenüber den durch Zahlen scheinbar unbezweifelbar gemachten Tatsachenbehauptungen über unsere unüberschaubar vielfältige und sich dazu noch rasend schnell verändernde Welt. Wer den Satz zuerst gedacht, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat, das liegt weiterhin im Dunklen, doch deutet einiges darauf hin, dass er im Duell der Titanen moderner Massenmanipulation geboren wurde: Winston Churchill und Joseph Goebbels hatten im Zweiten Weltkrieg die Aufgabe, die Kampfmoral ihrer jeweiligen Völker durch überzeugende Erfolgszahlen hochzuhalten. Da lag ein solcher Satz zur sardonischen Diskreditierung des Gegners geradezu in der bleihaltigen Luft. Gegenüber statistischen Darstellungen der Wirklichkeit ist jedenfalls ein gesundes Misstrauen grundsätzlich am Platze. Die technischen Möglichkeiten zur Verzerrung der Realität im Interesse einer Beeinflussung des Betrachters sind so vielfältig, wie sie nur sein können, wenn sich der erfindungsreiche Menschengeist vor die Aufgabe gestellt sieht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber ebenso wahr ist, dass das trockene Zahlenwerk plötzlich eine entzückende Inspirationskraft entfalten kann, wenn die Statistiker und Infografiker von der Leine interessengeleiterter Auftraggeber gelassen und nur so, zu „Erbauung und Belehrung“, aber mit Esprit und gutem Willen tätig werden dürfen. Zum Jahreswechsel sind gleich zwei handliche Bücher erschienen, die sich, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, genau dies zur Aufgabe gemacht haben.

Die Welt in Zahlen 2010 von der Wirtschaftszeitschrift brand eins hat ihren Ursprung in einer ständigen Rubrik des seit zehn Jahren monatlich erscheinenden Magazins. Zwei kleine Schönheitsfehler will ich gleich eingangs monieren, um mich sodann den vielen Vorzügen des Buches zuzuwenden. Schon die Rubrik hat sich einen stilistischen Tick zu eigen gemacht, der nun auch im Buch gehäuft auftritt und einem mit der Zeit ganz gehörig auf den Wecker fallen kann: Bandwurmartige Bezeichnungen der nachfolgenden Zahlenwerte werden in voller Länge wiederholt. Ein Beispiel gefällig? „Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 1998, in Minuten pro Tag: 77 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2001, in Minuten pro Tag: 107 – Durchschnittliche Verweildauer bei der Online-Nutzung in Deutschland im Jahr 2008, in Minuten pro Tag: 120.“ (brand eins: Die Welt in Zahlen 2010. Statista. Hamburg: brand eins Verlag, 2009, S. 112.) Muss das sein? Die unnötige Verweildauer beim Lesen dieses doch sonst so interessanten Buches hätte sich durch Vermeidung solcher Mätzchen reduzieren lassen. Der zweite Wermutstropfen ist der Preis von 22 Euro für ein Taschenbuch von 250 Seiten.

Dies waren die beiden Wermutstropfen, nun folgt Ambrosia. Ich hätte nicht gedacht, dass Hunde in der Rangfolge der häufigsten Haustiere erst an dritter Stelle kommen, nämlich nach Katzen und Kleintieren. Auch erstaunt mich, welches die beiden mit Abstand häufigsten Farben neu zugelassener Autos im Jahre 2007 waren, nämlich Grau und Schwarz. Dass auf jeden dritten Deutschen eine zugelassene Handfeuerwaffe kommt, jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Seit ich weiß, welches die bei Frauen häufigste aller Operationsarten in deutschen Krankenhäusern ist, nämlich die Rekonstruktion der Geschlechtsorgane nach Dammriss bei der Geburt, frage ich mich, ob die Ausbildung unserer Hebammen reformbedürftig ist. Dass mir kein einziges der zehn umsatzstärksten verschreibungspflichtigen Medikamente wenigstens dem Namen nach bekannt ist, wundert mich ebenso wie der Umstand, dass auf Platz eins dieser Liste mit Risperdal ein Mittel gegen Psychosen steht. Soll es mich mit Mitleid erfüllen, dass 774 Millionen Menschen auf der Welt dieses Buch allen schon deshalb nicht lesen können, weil sie Analphabeten sind? Oder soll ich sie vielmehr beneiden, weil ihnen damit erspart bleibt, die vielen traurigen, erschreckenden und wütend machenden Zahlen in diesem Buch zur Kenntnis nehmen zu müssen? Übrigens hat auch hierzulande jeder fünfte Schüler mittlerweile Probleme mit dem Lösen einfachster Rechenaufgaben. Nach den vier Kapiteln „Was Wirtschaft treibt“, „Was Unternehmern nützt“, „20 Jahre Wiedervereinigung“ und „Was Menschen bewegt“ folgen als besonderes Schmankerl noch einige Seiten mit Prognosen über „Deutschland 2050“. Da werden ein paar Trends des ersten Jahrzehnts in diesem neuen Jahrtausend für die nächsten vierzig Jahre ohne Rücksicht auf Plausibilität extrapoliert. Demnach hätte zum Beispiel die SPD kein einziges Parteimitglied mehr und die Kinopreise lägen bei 9,44 Euro – die allerdings niemand bezahlen würde, denn die Zahl der Kinobesucher betrüge 0,0 Millionen.

Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist heißt das zweite Buch zur Lage von Welt und Nation. Auch in diesem Fall haben die Autoren, Matthias Stolz und Ole Häntzschel, ihre ersten Meriten mit einer Zeitschriftenrubrik erworben, mit der „Deutschlandkarte“ im ZEITmagazin. Und auch dieses Buch hat leider eine kleine Macke, es verzichtet auf Seitenzahlen. So muss man der Verlagsankündigung glauben, die uns 240 Seiten verspricht. Oder nachzählen, um bestätigt zu finden, dass das Versprechen gehalten wird. Es freut mich schon, dass das Buch nur 12,95 Euro kostet, geradezu begeistert bin ich aber, dass es – ein Taschenbuch! – fadengeheftet ist. Aber das sind Äußerlichkeiten. Der Content, wie man in Neusprech sagt, ist tatsächlich hinreißend. Im Vorwort erklären die Autoren knapp und deutlich, was sie mit diesem Buch versucht haben: „Das wahre Schmuddelkind journalistischer Texte ist die Infografik. Sie leidet von allen Zutaten, die zur journalistischen Veröffentlichung gehören, unter dem schlechtesten Ruf. […] Wir dachten, es sei Zeit, sie einmal aus ihrem Schattendasein zu befreien. Wetten, auch die Infografik hat eine humorvolle und unterhaltsame Seite?“ (Matthias Stolz / Ole Häntzschel: Die große Jahresschau – Alles, was 2010 wichtig ist. München: Knaur, 2010, S. 6 f.)

Naturgemäß kann ich in spröden Worten die mit den visuellen Möglichkeiten der Infografik virtuos spielende Umsetzung von Statistiken nur sehr unzulänglich beschreiben. Ich muss stattdessen auf eine Leseprobe verweisen, die der Verlag freundlicherweise ins Internet gestellt hat – und auf die Großzügigkeit dieses Verlages vertrauen, der es mir hoffentlich nicht übel nimmt, wenn ich eine besonders schöne Grafik hier als Titelbild verwende. Die zunächst etwas überanstrengt wirkende These, dass der sonntägliche Kirchgang in den letzten Jahrzehnten vom Schlachtenbummel auf den Fußballplatz abgelöst wurde, ist wohl noch nie so überzeugend (und dabei tatsächlich auch humorvoll) veranschaulicht worden. Ich bin bekanntlich weder dem einen noch dem anderen Ritual verfallen. Beten und jubeln sind mir gleichermaßen fremd. Aber ich bin noch längst nicht fertig mit der Frage, warum um Himmels Willen eine so schnelle Trendwende von der Kontemplation in die Exaltation erfolgen konnte.

[Titelbild aus dem zuletzt besprochenen Buch, S. 24/25: „Kirche gegen Bundesliga“. – © Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.]

Antiquariat (I)

Saturday, 02. January 2010

anarchbooks

Noch eine Neuigkeit fürs neue Jahr ist bekannt zu machen: Seit dem 1. Januar 2010 bin ich Inhaber eines Gewerbebetriebs, da ich zu diesem Termin am 14. Dezember 2009 bei der Gewerbemeldestelle im 17. Obergeschoss des Essener Rathauses ein Gewerbe nach § 14 GewO angemeldet und die hierfür fällige Gebühr in Höhe von 20,00 € entrichtet habe. Die angemeldete Tätigkeit ist „Einzelhandel mit antiquarischen Büchern über das Internet“.

Für dieses neue Tätigkeitsfeld muss ich hier eine Kategorie nicht eigens anlegen, ich setze fort, was ich zaghaft schon unter „Bibliotheca Curiosa“ begonnen habe. Indem ich mich öffentlich von meinen Büchern trenne, lasse ich ihnen zum Abschied allerletzte Gerechtigkeit widerfahren.

Eben habe ich die „Bekenntnisse eines Bibliomanen“ gelesen, in denen ich mich vielfach spiegeln konnte, wenngleich ich nicht in allen Punkten mit ihrem Autor übereinstimme. Auch der Totalausverkauf von Privatbibliotheken wird thematisiert: „Gelegentlich kommt es vor, dass ein Bibliomane beschließt, all seine Bücher zu verkaufen. [Christian] Galantaris erwähnt [1998 in seinem Manuel du bibliophile] zwei Fälle von Bibliomanen, die ihre Bücher bei der von ihnen selbst organisierten Versteigerung wie unter Zwang zu hohen Preisen zurückkauften: Graf von Bédoyère und Baron Jérome Pichon. Letzterer verbrachte die letzten siebzehn Jahre seines Lebens damit, jene Bücher aufzuspüren und zurückzukaufen, die ihm am Tag der Versteigerung trotz aller Bemühungen abhanden gekommen waren.“ (Jacques Bonnet: Meine vielseitigen Geliebten. A. d. Frz. v. Elisabeth Liebl. München: Droemer Verlag, 2009, S. 141.) Ich bin dennoch zuversichtlich, dass ich mich von vier Fünfteln meines Bestandes trennen kann, ohne einen wirklichen Verlust zu empfinden. Und wenn ich tatsächlich ausnahmsweise einmal bereuen sollte, mich von einem Buch getrennt zu haben, so dürfte es dank ZVAB in aller Regel ohne große Umstände und Kosten wiederzubeschaffen sein.

Bonnet zitiert auch einen Ausspruch von Jules Janin (1804-1874): „Wer in einer einzigen Stunde alle Leiden dieser Welt erfahren möchte, muss nur eines tun: seine Bücher verkaufen.“ Ich kannte bisher nur jenen ganz ähnlichen Satz, den Alexander von Humboldt (1769-1859) zu Protokoll gegeben haben soll: „Wer die Qualen der Hölle schon auf Erden kennen lernen will: der verkaufe seine Bibliothek!“ (Arno Schmidt: Müller oder vom Gehirntier; in: Tina oder über die Unsterblichkeit. Frankfurt am Main u. Hamburg: Fischer Bücherei, 1966, S. 55.)

Doch auch dieses Menetekel kann mich nicht erschrecken. Erstens will ich ja nicht meine ganze Bibliothek verkaufen, sondern nur einen – wenngleich erheblichen – Teil. Dieser Abbau hinterlässt keine Ruine, sondern sorgt im Gegenteil dafür, dass der zentrale Prunkbau freigelegt wird, um in seiner ungetrübten Pracht nur desto herrlicher erstrahlen zu können. Und zweitens soll diese große Veräußerung ja Schritt für Schritt dokumentiert werden. Nein, ein Bibliomane bin ich wohl bei aller Sammelwut doch nicht. Allerdings stelle ich mir vor, einen Teil des Verkaufserlöses in Zukäufe zu reinvestieren. Und ich kann nicht leugnen, dass es die Aussicht auf den Zukauf echter Desiderata meiner Sammlung ist, der mich am stärksten zu diesem Geschäft motiviert.

[Fortsetzung: Antiquariat (II).]

Blutregen

Thursday, 08. October 2009

Gestern habe ich tatsächlich die allerletzten Bücherkisten ausgepackt und ihren Inhalt in die Lagerregale verfüllt. Ja, dieser Ausdruck, wie aus einer Großmolkerei mit Massentierhaltung, passt ganz gut zu der viehischen Plackerei, der ich mich in den vergangenen Tagen ausgesetzt sah.

Viele Male musste ich mir Gewalt antun, wenn ein Buch meine Aufmerksamkeit erheischte, das ich schon seit Jahren nicht mehr in Händen gehalten und gar schon nahzu vergessen hatte. Nur zu gern hätte ich der Zeit nachgesonnen, als ich es für meine Bibliothek erwählte, den Gründen auf der Spur, die es für mich eingenommen hatten; zu gern hätte ich mir die Frage gestellt, ob ich es gelesen und mit welchem Ergebnis aus der Hand gelegt haben mochte. Aber der unbarmherzige Scherge, den ich mir selbst in den Nacken gesetzt hatte, ließ keinen Müßiggang zu. Hier galt es einzig und allein zu prüfen, ob der Platz auf den Brettern für das in den Kisten reichen würde. Also rief er mir ein ums andere Mal sein Kommando ins Gewissen, wenn ich in Nachdenklichkeit zu versinken drohte: ,Weiter, weiter! Auspacken, einräumen! Zum Träumen ist später noch Zeit genug.‘

Wie Schneeflocken tanzten die Bücher vor mir im Neonlicht des Archivs. Die Masse, die ich zwar geahnt hatte, überwältigte mich dann doch. Das war zweifellos nicht mehr gesund. So viele Bücher! Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können? Als mein zweiter Sohn die letzte Sackkarrenladung abgesetzt hatte, meinte er in seiner unnachahmlich trockenen Art: „Nun habe ich aber fürs Erste wirklich genug von deinen Büchern, Vater.“ Dieser Überdruss war ihm und allen anderen, die mir in den letzten Wochen und Monaten wissentlich oder unfreiwillig geholfen hatten, meine Bibliothek erstmals seit vielen Jahren wieder an einem Orte zusammenzuführen, wahrlich nicht zu verdenken. Ich danke euch von Herzen …

In der vergangenen Nacht träumte ich, dass ich aus dem Fenster eines Sanatoriums in eine dunkle Winterlandschaft hinausspähte, weil ich jemanden erwartete, der mich hier besuchen wollte. Es schneite auch in diesem Traum, aber die Schneeflocken waren blutrot. Das wunderte mich zwar nicht weiter, aber ich machte mir Sorgen, mein Besucher könnte sich auf seiner Wanderschaft die Kleidung ruinieren.

(Übrigens vermisse ich jetzt, obwohl ich wirklich alle Kisten ausgepackt habe, immer noch einige Bücher, die ich bei dieser Herkulestat fest gehofft hatte endlich wiederzufinden.)

An Land

Monday, 28. September 2009

Jetzt, da ich tatsächlich schneller als gedacht eine angemessene Unterbringungsmöglichkeit für den größten Teil meiner Bibliothek aufgetan habe, bin ich auf eine Weise wunschlos glücklich, die mich schon wieder misstrauisch macht.

Ich dosiere die Aufenthaltszeiten in meinem neuen Refugium streng, als wollte ich dem Risiko vorbeugen, einer Überdosis zum Opfer zu fallen. Immerhin habe ich nun alles ausgepackt, was noch in den „Bücherkatakomben“ der vorigen Wohnung lagerte. Im nächsten Schritt gilt es, die ca. 65 Kisten aus der K.-Anstalt bei Freund R. heranzuschaffen, doch das hat keine Eile. (Obzwar: Ich brenne drauf!)

Noch reichen ja auch glücklicherweise die Geldmittel, billige Regale anzuschaffen usw. So wird es mir gelingen, zum ersten Mal seit unvordenklichen Zeiten tatsächlich all mein Papier geordnet aufzustellen und greifbar zu haben, ohne quälende Sucherei, die dann doch in der Hälfte der Fälle in ein schmerzvolles Nichtfinden mündet.

Fast ist der Gegensatz zu heftig: zwischen einerseits dem noch vor wenigen Wochen durchlittenen Hundeelend, als ich gewärtigen musste, auf Jahre und Jahre vom größten Teil meiner Schätze und Schätzchen getrennt zu sein, sie zudem eher schlecht als recht untergebracht zu wissen, allen Gefahren ausgesetzt, die mit der Zeit aus Büchern Altpapier werden lassen; und andererseits dem Glück, wie oben angedeutet und ansonsten kaum beschreiblich.

Nun klammere ich mich geradezu an die paar vom Umzug noch verbliebenen Pflichtaufgaben, lästige Trivialitäten wie die endgültige Entrümpelung der „Katakomben“, die bis zum Ende des Monats über die Bühne gegangen sein muss. Das ist das trockene Brot, das jemand hinabwürgt, damit ihm der köstliche Wein nicht zu sehr zu Kopfe steigt.

Exlibris

Monday, 24. August 2009

Zukünftig werde ich mich von einem beträchtlichen Teil meiner nicht unbeträchtlich umfänglichen Bibliothek trennen müssen, aus Gründen der Lagerkosten und -umstände, der Zweckmäßigkeit, der Anpassung meiner Arbeitsmittel an meine Arbeitsbedürfnisse und weil ich mich nun ganz bewusst auf eine Lebensphase einlasse, die zu vernünftiger Selbstbescheidung, maßvollem Rückzug und Konzentration auf das Wichtigste zwingt.

Auf diese bevorstehende Auflösung meiner Büchersammlung freue ich mich schon deshalb, weil ich dabei endlich die Gelegenheit finden werde, jedes einzelne meiner vielen Bücher noch einmal in die Hand zu nehmen, mich an die Gründe und Wege zu erinnern, die es in meinen Besitz geführt haben; an die Motive, die mich zu seiner Anschaffung ermunterten; oder an die Zufälle, die es mir scheinbar absichtslos in die Hände spielten.

Bietet man heute, in dieser immer illiterater, ja bibliophober werdenden Zeit, auf dem Antiquariatsmarkt Bücher an, dann hat man üblicherweise desto bessere Chancen, sie loszuwerden, je jungfräulicher, sauberer, unbeschädigter sie sich erhalten haben. „Wie neu” ist die beste Reklame für ein altes Buch, und je älter es tatsächlich ist, desto mehr wird es durch seine äußerliche Frische und Unversehrtheit aufgewertet.

Dabei gab sich doch zu allen Zeiten der wahre Liebhaber antiquarischer Bücher dadurch zu erkennen, dass er die individuellen Spuren, die ihre Vorbesitzer in ihnen hinterlassen hatten, als das Salz in der Suppe seiner Sammelei schätzte. Besitzvermerke, Widmungen, Anstreichungen und Marginalien, beigefügte Zeitungsartikel, eingeklebte Buchhändlerzeichen und manch andere Hinterlassenschaften machten und machen das Massenprodukt Buch ja gerade erst zu einem unverwechselbaren Einzelstück.

So spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken, jedes einzelne Buch, das meine Bibliothek verlässt, mit meinem Exlibris zu versehen, selbst wenn dies von manchem unkundigen Käufer zunächst als wertmindernd empfunden werden sollte oder ihn gar vom Kauf abhält. Vielleicht erweist sich ja aber nach Jahren oder Jahrhunderten einmal, dass Bücher mit diesem Zeichen ein ganz eigenes Wesen haben und unter ihnen allen ein geheimes Band besteht, das sie irgendwann wieder zusammenführen wird.

[Das Titelbild zeigt das Exlibris des Verfassers nach einem Holzschnitt von Otto Mueller.]

Der kleine Stowasser

Thursday, 12. March 2009

Manche Autoren und Herausgeber waren mit ihren Nachschlagewerken so erfolgreich, dass ihr Familienname mit den Jahren zum Markenzeichen geworden ist und in seltenen Fällen gar für eine ganze Gattung steht. So steht Baedeker geradezu als Synonym für Reiseführer, Brockhaus für Lexika, Duden für deutsche Wörterbücher, Diercke für den Schulatlas – oder eben der Stowasser fürs Schulwörterbuch im Fach Latein. Erstmals im Jahre 1894 von dem Wiener Gymnasiallehrer Joseph Maria Stowasser in den Verlagen von Georg Freytag (Leipzig) und Friedrich Tempsky (Prag und Wien) herausgegeben, erschien es seither in regelmäßigen Neubearbeitungen als das Standardwerk seiner Art. So ist der Kleine Stowasser bis heute jedem „alten Lateiner” und jedem jungen Pennäler ein Begriff und nach wie vor auf dem Weg zum Großen Latinum ein stets zuverlässiger Begleiter.

Habe ich da nicht einen schönen Werbetext zusammenfabuliert? Dabei bedürfen Bücher wie die zuletzt genannten ja gar keiner Reklame. Ihre Anschaffung wird den Schülern traditionell zwangsweise auferlegt, und Bücher, die man erwerben muss, sind in aller Regel selbst dann unbeliebt, wenn die Kosten dank Lernmittelfreiheit der Staat übernimmt. Zudem war das Erlernen einer „toten” Sprache wie Latein noch nie sonderlich populär. Und wenn ich mir mein Exemplar des Kleinen Stowasser aus dem Jahr 1968 ansehe, so war dieses Buch schon rein äußerlich kaum dazu angetan, die Abneigung gegen dieses schrecklich verstaubte Schulfach zu mildern. Die deutschen Wörter waren damals noch in Fraktur gesetzt, um sie von den lateinischen deutlich abzuheben. Was für die Schüler vor dem Zweiten Weltkrieg eine Erleichterung bei der Handhabung des Wörterverzeichnisses gewesen sein mag, war für uns eine zusätzliche Schikane, denn diese sonderbare Druckschrift, bei der man zum Beispiel z und g leicht verwechseln konnte und es zwei verschiedene s gab, von denen das eine wie f aussah, las man sonst nirgendwo mehr.

Seit Ende der 1970er-Jahre setzte sich dann sogar in diesem altehrwürdigen Schulbuchverlag allmählich ein fortschrittlicher Geist durch. Unter der Gesamtredaktion von Hubert Reitterer und Wilfried Winkler erschien 1979 ein völlig neu bearbeiteter Kleiner Stowasser, erstmals ohne Frakturschrift. (Seither sind lateinische Wörter im Stowasser in Antiqua und deutsche in Grotesk gesetzt.) Und weitere 15 Jahre später hatte sogar ein kreativer Kopf in der Werbeabteilung des Verlags den originellen Einfall, den österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser (1928-2000), einen entfernten Verwandten des Altphilologen Stowasser, mit der Gestaltung des Einbandes [s. Titelbild] zu beauftragen, nachdem das kauzige Multitalent schon 1989 durch eine Sonderausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie als Buchkünstler hervorgetreten war. (Seinen Künstlernamen leitete Hundertwasser vom russischen Wort sto ab, das „hundert” bedeutet.)

Ich beneide die heutigen Schüler um dieses wunderschöne Wörterbuch, in dem ich stundenlang blättern und schmökern könnte, allein schon, weil es mir Spaß macht, versteckte Wurzeln nur scheinbar ursprünglich deutscher Wörter im Lateinischen zu entdecken. Ich bin mit einem mittelprächtigen Kleinen Latinum vom Gymnasium abgegangen und daher heute leider nicht in der Lage, die Oden des Horaz im Original zu lesen. Aber obwohl ich das deutsche Sprichwort vom Hans kenne, der nimmermehr lernt, was er als Hänschen nicht gelernt hat, will ich mich mit meinen zahlreichen Bildungsbeschränkungen nicht abfinden. Mein jüngster Sohn hat Nachhilfe in Latein nötig. Mal sehen, wie weit ich ihm helfen kann.

Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von J. M. Stowasser, M. Petschenig u. F. Skutsch. Gesamtredaktion: Fritz Lošek. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 2006. – XXXIV & 574 S., 17,0 x 24,0 cm, Leinwand, Fadenheftung. – Originalpreis: 24,95 €.

Gitta Sereny: Am Abgrund

Tuesday, 10. March 2009

Seit langer Zeit schon hat mich kein Buch mehr so aus der Bahn geworfen wie dieses. Ich mag es eigentlich niemandem zur Lektüre empfehlen; die Verantwortung für die Spuren, die sie hinterlässt, möchte ich nicht tragen. Aber noch mehr belastet mich die Vorstellung, dass dieses Buch auf Leser treffen könnte, die ihm mit Gleichgültigkeit begegnen. Schließlich weiß ich, welche Formen seelischer Verarmung möglich sind, welche Fälle von Abstumpfung unbehandelt vor sich hin vegetieren. Übrigens ist schon die Editionsgeschichte dieses Buches geeignet zu verstören. Nach seinem Erscheinen im englischen Original vergingen mehr als sechs Jahre, bis es auch in einer deutschsprachigen Fassung vorlag – nachdem es, wie die Autorin in ihrer Danksagung eingangs lakonisch bemerkt, „bereits in allen anderen westlichen Sprachen veröffentlicht” worden war. Gitta Sereny, Tochter eines Ungarn und einer Deutschen, hatte zwar ihre Kindheit und frühe Jugend in Wien verbracht, lebte aber seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr im deutschen Sprachraum. Der Ullstein-Verlag hätte gut daran getan, Into That Darkness von einem professionellen Übersetzer ins Deutsche übertragen zu lassen, statt diese Aufgabe der Autorin zu überlassen. So gibt es manche Holprigkeiten in der deutschen Erstausgabe von 1979. Für die überarbeitete Neuausgabe beim Piper-Verlag, aus dem Jahr 1995, wurde Helmut Röhrling als Übersetzer gewonnen. Beide Ausgaben sind seit vielen Jahren vergriffen und auch antiquarisch nicht immer leicht zu beschaffen.

Ausgangspunkt von Serenys „Gewissensforschung”, wie sie das Buch im Untertitel nennt, ist die Lebensgeschichte des Kommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl (1908-1971). Sie hatte im April und Juli 1971 Gelegenheit, mit Stangl in Düsseldorf zahlreiche Gespräche zu führen, wo dieser in Untersuchungshaft saß und auf das Ergebnis seiner Revision gegen das Urteil wartete, das über ihn verhängt worden war: lebenslange Haft wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an mindestens 400.000 Juden. Zudem hat sie viele weitere Gespräche mit Zeitzeugen, Opfern und Tätern und deren Angehörigen geführt. Sie hat die Orte des grauenvollen Geschehens in Polen aufgesucht und umfangreiches Quellenstudium betrieben. Es ist, bei allem Unglück, das wie Pech an diesem Thema klebt, doch ein seltener Glücksfall, fast so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass dieser infernalische Stoff in Gitta Sereny seine gleichermaßen akribische wie sensible Meisterin gefunden hat.

Der Sommer 1943 hätte so schön sein können, auch in dem kleinen Dorf Treblinka im Osten Polens. „Aber Sie müssen sich einmal vorstellen, was es für uns bedeutete, hier zu leben.” Der darum bittet, ist Francizek Zabecki, zur Zeit des Gesprächs 65 Jahre alt, früher Mitglied der polnischen Untergrundarmee und Vorsteher des Ortsbahnhofs von Treblinka. „Jeden Tag, ganz früh am Morgen diese Stunden des Entsetzens, wenn die Züge ankamen, und die ganze Zeit – schon nach den ersten Tagen – dieser Geruch – diese dunkle neblige Wolke, die über uns hing, die den Himmel in diesem heißen und schönen Sommer bedeckte, sogar an den herrlichsten Tagen – nicht eine Regenwolke, die Erlösung von der Hitze versprach, sondern eine schweflige Dunkelheit, die diesen pestartigen Gestank in sich trug. – Ganz zu Anfang gab es eine Periode, während der meine Frau überhaupt nichts mehr tun konnte. Sie konnte den Haushalt nicht mehr versorgen, sie konnte nicht kochen, sie konnte nicht mit den Jungen spielen, sie konnte nicht essen und kaum schlafen. Sie hatte eine Art völligen Nervenzusammenbruch. Als ich Kriegsgefangener gewesen war, war sie zurechtgekommen, aber jetzt war sie völlig zusammengebrochen. Dieser extreme Zustand, in dem sie sich befand, dauerte etwa drei Wochen. Dann wurde sie fast pathologisch teilnahmslos: Sie tat ihre Arbeit, bewegte sich, aß, schlief, sprach … aber alles wie ein Automat …” (S. 162 f.)

Ganz willkürlich habe ich diese kleine Textprobe herausgegriffen, weil ich sie eben erst gelesen habe und nun das Bild von Pan Zabeckis leidender Frau in mir herumgespenstert, wie in den vergangenen Tagen viele ähnlich starke Bilder mit mir ihr Unwesen trieben, mich vor sich herscheuchten, mir an die Gurgel gingen und meine Träume verseuchten. (Ich habe zum ersten Mal, soweit ich mich erinnere, im Traum etwas gerochen.) Warum tue ich es mir an, in diesen Abgrund hinabzusteigen? Weil es ja unvermeidlich ist, wenn ich die Wahrheit unseres gegenwärtigen Zustands nicht umgehen will, eines Zustands, der immer einer nach diesen Ereignissen sein wird, auch als eine Folge davon. Machen wir uns nichts vor, es kann sich immer wiederholen, wenn wir es nicht in Schach halten. Dieses Buch sollte stets lieferbar sein.

Gitta Sereny: Am Abgrund. Eine Gewissenserforschung. Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, und anderen. Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein Verlag, 1979. – 416 S., 2 Lagepläne u. 15 Fotografien, 11,8 x 17,8 cm, kartoniert. – ‚Ullstein Sachbuch‘, Nr. 34024. – Originalpreis 12,80 DM.