Archive for October, 2008

Dingwelt (VI)

Tuesday, 28. October 2008

Dies sind die beiden Gegenstände, die als allererste in meinen Besitz gelangten und noch immer zu meinem Eigentum an beweglichen Sachen gehören: Der Löffel und die Gabel aus Silber mit meinem eingravierten Vornamen waren ein Geschenk meiner Großeltern väterlicherseits zu meiner Geburt.

Messer, Gabel, Schere, Licht /sind für kleine Kinder nicht! Dieser „Zuchtreim” unbekannter Herkunft, der für den Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen, aber vermutlich bedeutend älter ist und noch ganz in der Tradition der „Schwarzen Pädagogik” (Katharina Rutschky 1977) steht; dieser Spruch, der auch gut in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1844) stehen könnte, fällt mir ein, wenn ich die Gabel betrachte. Ihre stumpfen Zinken lassen den Warnhinweis in diesem Punkt obsolet erscheinen, nachdem schon das Wort „Licht” als Synonym für „offenes Feuer, Flamme” längst antiquiert und kaum einem Kind mehr verständlich war. (Erstaunlich übrigens, dass der altertümliche Reim 1965 durch den gleichnamigen Schlager von Vicky Leandros, ihren allerersten Hit, eine Wiederauferstehung erleben durfte – als Metapher für die Gefahren vorehelichen Geschlechtsverkehrs.)

Nicht mehr in meinem Besitz befindet sich eine kleine Kinderschere, an die ich mich noch sehr gut erinnere, weil sie eins meiner Lieblingsspielzeuge war. Auch sie hatte abgerundete Spitzen, was mich allerdings nicht hinderte, eines Sonntagmorgens – meine Eltern schliefen noch – mit dem Scherchen mein blond gelocktes Kopfhaar, meine Augenbrauen und sogar meine Wimpern zurechtzustutzen.

Das silberne Löffelchen wäre mir vor etlichen Jahren um ein Haar abhandengekommen. Bei einer nächtlichen Fete in meiner Wohnung hatte sich eine Besucherin, die ich nur flüchtig kannte, so sehr in diesen Löffel verliebt, dass sie mir allerlei verlockende Angebote machte, wollte ich ihn ihr überlassen. Der Ausgang dieses Kampfes mit meinem inneren Schweinehund ist offenkundig [siehe Titelbild], das Schicksal der erfolglosen Sirene hingegen war wohl unausweichlich. Sie starb bald darauf am „Goldenen Schuss”.

Das silberne Gäbelchen hingegen ist auf seine alten Tage neuerdings wieder in Gebrauch und findet eine vergleichsweise ganz unschuldige Verwendung. Wenn mein Enkel, gut ein Jahr alt, gelegentlich über Nacht bei uns zu Gast ist, dann jauchzt er wie ein Schneekönig, sich mittels solch noblen Bestecks an seinem Gemüsebrei delektieren zu dürfen.

Jacob

Monday, 27. October 2008

In gewissen Kreisen des individualistischen Anarchismus wird er in seinem Heimatland Frankreich noch heute als Held verehrt, hierzulande ist er hingegen nahezu unbekannt: Alexandre „Marius” Jacob (1879-1954), der „anarchistische Meisterdieb”, der angeblich Maurice Leblanc als Vorbild für seinen berühmten Gentleman-Einbrecher Arsène Lupin gedient haben soll.

Als der 17-jährige Alexandre Jacob, an einem rätselhaften Virus erkrankt, seine erste Berufstätigkeit als Matrose aufgeben muss, hat er schon viel von der Welt gesehen. Im zarten Alter von elf Jahren hatte er als Schiffsjunge angeheuert, überquerte mehrmals den Atlantik, lernte die Südsee kennen – und die rauen Sitten an Bord, wo er sich den sexuellen Nachstellungen älterer Seefahrer ausgesetzt sah und schließlich auf einem Piratenschiff landete. Angewidert von den Metzeleien auf den gekaperten Handelsschiffen, an denen sich zu beteiligen er gezwungen wurde, desertierte er und wurde bei seiner Rückkehr in Frankreich wegen dieses Vergehens vor Gericht gestellt, allerdings freigesprochen. Seine Bilanz dieser frühen Jahre als Abenteurer auf den Weltmeeren offenbart seine Ernüchterung und sollte sein weiteres Leben bestimmen: „Ich habe die Welt gesehen, sie war nicht schön. Überall eine Handvoll Verbrecher, die Millionen Unglückliche ausbeuten.”

Durch einen zufälligen Bekannten wird er in die Gedankenwelt des Anarchismus eingeführt, liest die theoretischen Schriften von Michail Bakunin, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – und nimmt sich besonders den berühmten Satz von Pierre Joseph Proudhon zu Herzen: « La propriété c’est le vol! » – Eigentum ist Diebstahl!

Nun beginnt eine große Karriere als illegalistischer Streiter für soziale Gerechtigkeit, als Robin Hood der Moderne, bei der Jacob bemerkenswertes handwerkliches Geschick, Organisationstalent, Kaltblütigkeit und eine geradezu geniale Erfindungsgabe an den Tag legt. Er umgibt sich mit einer Bande hochspezialisierter „Fachleute” und betreibt das Einbruchsgeschäft in die Villen der Reichen in schon fast „industriell” zu nennendem Maßstab. Bis zu tausend Diebeszüge werden allein für die Zeit von 1901 bis 1903 auf das Konto dieser politisch motivierten „Expropriateure der Expropriateure” gerechnet, wobei ein fester Anteil der Beute stets der anarchistischen Bewegung und den Armen zufließt.

Doch hat dieses Handwerk, bei aller Perfektion, nur vorübergehend goldenen Boden, und bald bewahrheitet sich die andere Redensart, dass sich Verbrechen am Ende nicht lohne. Jacob wird mit seinen Komplizen verhaftet, vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in der „Hölle von Guyana” verurteilt. Die Jahre von 1905 bis 1925 verbringt Jacob auf der berüchtigten Sträflingsinsel Île Saint-Joseph – und unternimmt in dieser Zeit 17 Fluchtversuche, die allesamt scheitern. Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich muss er noch zwei Jahre Zuchthaus absitzen, erst am 30. Dezember 1928 wird er endlich in die Freiheit entlassen. Ohne seine anarchistischen Überzeugungen aufzugeben, tritt „Marius”, wie er sich nun nennt, doch etwas kürzer. Zwar versucht er zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs (1936-39) noch, die anarchistischen Truppen von Buenaventura Durruti mit Maschinengewehren zu beliefern, doch als dies scheitert, zieht er sich endgültig aufs Altenteil zurück. Er fährt als fliegender Händler in Konfektionswaren mit einem Wohnwagen über Land und setzt sich schließlich in einem kleinen Häuschen in Reuilly (Indre) zur Ruhe. Nachdem seine körperlichen Gebrechen, Folgen der langen Haftzeit, ihm das Leben zur Qual machen, beendet er sein Dasein durch eine Überdosis Morphium, nachdem er zuvor eine Reihe von Abschiedsbriefen an seine zahlreichen Freunde zur Post gebracht hat. Bevor ihm die Sinne schwinden, kritzelt er noch auf einen Zettel: „Wäsche gewaschen, gespült, getrocknet, aber nicht gebügelt. War zu faul. Tut mir leid. Ihr findet zwei Liter Rosé neben dem Brotschrank. Auf euer Wohl!”

[Viele Informationen zu diesem Beitrag verdanke ich der kleinen Broschüre von Michael Halfbrodt: Alexandré Marius Jacob – Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes. Moers: Syndikat-A Medienvertrieb, 1994 – und deren schwierige Beschaffung meiner Freundin Michaela.]

Das war’s

Sunday, 26. October 2008

Nachher fällt mir all das ein, was ich zu sagen vergaß. Nachher ist erwiesen, dass meine größte Sorge unbegründet war und die Zeit und Geduld der Zuhörer gereicht hätte, noch ein, zwei Siemsen-Stückchen mehr zu Gehör zu bringen. Nachher zweifle ich, ob ich allen Gästen deutlich genug gesagt habe, wie sehr ich mich über ihr Kommen freute.

Die Kurzprosa jener Meister der ,Kleinen Form‘ aus den 1920er-Jahren wird ja häufig auch mit der Ortsangabe ,Unterm Strich‘ gekennzeichnet, weil sie in den Tageszeitungen jener Zeit genau dort zu lesen war: unter einem mehr oder weniger dicken Strich, der diese literarischen Preziosen von den aktuell so viel wichtigeren Meldungen aus Politik und Wirtschaft trennte. Unterm Strich darf ich nun sagen, dass ich bei allen Zweifeln mit dem Ergebnis dieser Veranstaltung im Café Central des Essener Grillo-Theaters, meinem ersten öffentlichen Auftritt als Vorleser, zufrieden bin.

Wenigstens gab’s keine größeren Katastrophen, deren gedankliche Vorwegnahme einen phantasievollen Menschen wie mich ante festum das Fürchten lehren kann. Und wenn die freundlichen Zusprüche der Gäste beim Abschied nur zur Hälfte ihrem tatsächlichen Empfinden entsprachen, dann habe ich keinen Grund, auch die kommende Nacht unruhig zu schlafen.

Mit größerer Sorge erfüllt mich eher die Frage: Was wird nun aus Siemsen – und mir, dem vermutlich besten Siemsen-Kenner östlich von Santa Fé? Die Luft ist raus, da die Veranstaltung jetzt über die Bühne gegangen ist, auf die ich in den letzten sieben Monaten mit Fleiß und Liebe hingearbeitet habe.

War’s das? Vielleicht nicht. Hans Siemsen als Filmkritiker der ersten Stunde, der „den Film ernst nahm und ihn als eine neue Kunst, die Kunst dieses Jahrhunderts begrüßte und interpretierte” (Hans Sahl) – dieser Hans Siemsen harrt auch nach den verlegerischen Abenteuern von Michael Föster und Peter Moses-Krause noch immer einer fälligen Wiederentdeckung.

[Titelbild: Beate Scherzer und der Revierflaneur bei der Lesung. Foto: Valentin Heßling.]

Weißröckchen

Saturday, 25. October 2008

[Heute kein Blog. Ich stehe bis zum Hals im Siemsen-Schnee.]

Nein, nichts mehr

Friday, 24. October 2008

Hans Siemsen verband nicht viel mehr mit Essen als sein Sterben, das sich allerdings lange 15 Jahre hinzog. Im Otto-Hue-Heim der Arbeiterwohlfahrt in Holsterhausen verbrachte er diese lange Zeit. Er hatte mit dem Interesse am Leben auch das am Schreiben verloren – oder umgekehrt.

Er kannte diese Stadt von Besuchen bei seinem älteren Bruder August, der hier von 1912 an als Oberlehrer am Reformgymnasium in Rüttenscheid tätig war und in der Alfredstraße 23 wohnte.

Den sonntäglichen Blick aus dem Fenster dieser Wohnung, in Richtung des 1913 fertiggestellten Gerichtsgebäudes an der Zweigertstraße, beschreibt Siemsen in einem kleinen, melancholischen Text in seinem zweiten, 1920 bei Kurt Wolff erschienenen Buch Wo hast du dich denn herumgetrieben?

Das ist zum Spucken nah bei dem Haus, in dem ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbrachte, von 1956 bis 1975. Fünf Minuten Fußweg, vielleicht auch sechs.

„Fragte man ihn, ob er nicht Papier haben wolle, damit er etwas schriebe, antwortete er mit großer Geste: ,Nein, nichts mehr.‘” (Michael Föster: Vorwort; in: Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe und andere Geschichten. Essen: TORSO Verlag, 1986, S. 7.) Das ist mir auch zum Spucken nah.

Finish

Thursday, 23. October 2008

Noch drei Tage bis zu meiner Hans-Siemsen-Matinee im Café Central des Essener Grillo-Theaters. Das wird dann also mein erster öffentlicher Auftritt als Vorleser, nachdem ich mich und meine Fähigkeiten in dieser Profession nun schon in über hundert Veranstaltungen meiner Literarischen Soireen seit dem 1. April 1989 erprobt und vermutlich unter Beweis gestellt habe – denn sonst wäre ja schließlich keiner mehr gekommen.

Kein Grund also, die Nerven zu verlieren. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich ein leichtes Lampenfieber beschleicht und mir tausend Fragen die Nackenmuskulatur verspannen. Was nehme ich denn jetzt aus dem überreichen Fundus der Siemsen-Texte ins Programm? Wie ist es möglich, ein ausgewogenes, vollständiges, zutreffendes Bild von diesem Autor zu zeichnen, in nur einer guten Stunde – und wenn die Panflötenspieler an diesem verkaufsoffenen Sonntag auf der Kettwiger verschlafen haben, günstigstenfalls auch in zwei?

Wieviele zwölf Euro Eintrittsgeld zu zahlen willige Gäste werden erscheinen? Nachdem ich mich seit über einem halben Jahr in ungezählten Stunden mit diesem vergessenen, verdrängten und verschollenen Autor beschäftigt, seine Bücher aus Antiquariaten für ein kleines Vermögen beschafft, seinen Lebenslauf aus entlegenen Quellen rekonstruiert habe, muss das Ergebnis dieser Mühen dann doch schließlich auch für den erbrachten Aufwand stehen, oder? Das ist nun freilich eine völlig neue Fragestellung für mich, denn in den vergangenen fast zwanzig Jahren als kostenloser Vorleser interessierte mich dieser materielle Aspekt gar nicht – weil ich es nicht nötig hatte, mich mit einem dermaßen profanen Thema zu befassen.

Jetzt muss ich mich aber fragen: Wenn jemand zwölf Euro Eintrittsgeld zu einer solchen Vorlesestunde auf den Zahlteller legt, welche Erwartung verbindet er dann mit seiner Investition?

Der Leser spürt hoffentlich, dass ich ein reichlich gestörtes Verhältnis habe zu Heller und Groschen, Mark und Pfennig, Euro und Cent – oder wie die Detailwaren in dieser billigen Klimperkiste immer heißen mögen. Ich muss doch sehr bitten! Das ist schließlich nicht mein Thema und wird es auch nie werden. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.

Titelpuzzle

Wednesday, 22. October 2008

In den englischsprachigen Weblogs gibt es seit einiger Zeit eine neue Denksportaufgabe für Vielleser: „Stelle ein paar Bücher aus deinem Regal so zusammen, dass sich die Rückentitel als ein (mehr oder weniger) sinnvoller Satz lesen lassen!” Ergebnisse des müßigen Titel-Scrabbelns kann man sich hier und hier und hier ansehen.

Ich verdanke den Hinweis auf diese Entspannungsübung für überstrapazierte Intellektuelle, dessen Grundgedanke einer Kurzgeschichte des blinden Bibliothekars von Buenos Aires entsprungen sein könnte, der deutschen Bloggerin Anke Gröner. (Und hier der erste Nachahmer.)

Auf der Suche nach einem lesenswerten Filmkritik-Weblog – ein unlesbares hatte mich lange genug geärgert – bin ich schließlich bei ihr gelandet und dort schnell heimisch geworden.

Dort findet man – neben den einerseits ganz subjektiv urteilenden, andererseits aber in gutem, fast fehlerfreiem Deutsch abgefassten und somit störungsfrei lesbaren Filmbesprechungen – auch mancherlei anderes, was das Herz hüpfen und den Kopf nicken lässt. Der lesens- und bedenkenswerte Artikel von Stefan Niggemeier (zu dem ich sonst ein eher ambivalentes Verhältnis habe), über die verbreitete Gleichgültigkeit der Blogger, was die sprachliche Qualität ihrer Geisteskinder betrifft – dieser Artikel wäre mir ohne Anke Gröners Hinweis vermutlich entgangen.

Danke, Anke! (Ein solcher Kalauer muss in diesem Zusammenhang erlaubt sein, da der heutige Würfelwurf doch puren Nonsens zum Anlass nimmt.)

Unverrottbar

Tuesday, 21. October 2008

Vor gut acht Monaten schrieb ich, noch unter anderer Adresse [*], über eine ärgerliche Verunstaltung meiner näheren Umgebung. Damals hatte sich bei einem starken Sturm eine grüne Plastiktüte von der allerbilligsten, federleichten, raschelnden Sorte im Wipfel eines Rotdorns hinter unserem Haus verkrallt. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Eine Leiter lässt sich aus verschiedenen Gründen hier nicht nutzen. Der Baum steht in Hanglage. Die Entfernung vom schrägen und morastigen Boden bis zum Corpus Delicti beträgt locker 20 Meter, und an das dünne Astwerk kann man eine solche lange und entsprechend schwere Leiter kaum sicher anlegen. Sie an den Stamm zu lehnen, bringt uns einer Lösung auch nicht näher, denn von dort bis zur Tüte sind es immer noch acht Meter Luftlinie, verstellt von einem dichten Gewirr aus Ästen, Zweigen, Laub und Blattläusen. Selbst mit einer extralangen Teleskop-Astschere, wie sie der Nachbar hat, langt man von da aus nicht hin, das ist vollkommen ausgeschlossen und mindestens lebensgefährlich. Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen nun den ganzen kommenden Frühling und Sommer hindurch mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fallen könnte, fand ich wenig erquicklich, aber sehr wahrscheinlich.

Ich sollte leider Recht behalten. Als der Baum Ende Mai in voller rosafarbener Blüte stand, stach die Tüte besonders unangenehm ins Auge – und tat dies auch weiterhin, einen schönen Sommer lang. Und selbst jetzt noch, im wiederum stürmischen Herbst, krallt sich das schäbige Missgebilde weiter unverdrossen an die Astspitzen und verdirbt mir den täglichen Gartenspaziergang. Zwar ist es bei einem nächtlichen Unwetter neulich in zwei Teile zerrissen, deren jedes aber weiterhin mein empfindliches Auge beleidigt.

Bei den regelmäßigen Geburtstags- und sonstigen Feiern auf unserer Terrasse mangelte es nicht an guten Ratschlägen unserer Gäste. Man sollte doch vielleicht einen Pfeil an einem langen Seil hochschießen, nach dem Prinzip einer Harpune, in der Hoffnung, er würde sich dort durch einen Glückstreffer irgendwann so verheddern, dass man das grüne Monstrum mit herunterreißen könnte. Oder vielleicht könnte man von einem Zirkusartisten ein dressiertes Äffchen ausborgen, das auf freundliches Bitten und um den Preis einer Banane das Flatterding herunterapportierte.

Woche für Woche – es sind mittlerweile genau vierzig Wochen verstrichen seit dem Eintreffen des unwillkommenen Flugobjekts – wuchs mein Hass auf die Erfinder, Erzeuger und Nutzer eines solchen Unrats, der in der Herstellung so billig ist, dass er von den Händlern großzügig verschenkt wird und dem kein Mensch hinterherläuft, wenn ihn eine unerwartete Böe auf Nimmerwiedersehen davonträgt – um ein paar hundert Meter weiter jemanden durch Immerwiedersehen zu malträtieren.

So wurde mir mit der Zeit die eigentlich unbedeutende grüne Plastiktüte zum Wahrzeichen jener verhängnisvollen Kurzsichtigkeit unserer industriellen Massenproduktion, die milliardenfach unverrottbares Zeug in die Welt schleudert und sich einen Teufel darum schert, was draus wird und wo es bleibt, wenn es seinen kurzzeitigen Zweck erfüllt hat. Und als solches, als Fanal einer Einsicht, die vermutlich für uns alle zu spät kommt, ist mir schließlich die Tüte ans Herz gewachsen. Sollte der Baum irgendwann gefällt werden und die Tüte mit ihm von dannen gehen, wird sie mir fehlen. (Aber nicht so sehr wie der Baum.)

[* … nämlich bei Westropolis, dem Kulturblog der WAZ, das seit dem 4. Januar 2011 abgestellt ist. Deshalb übernehme ich Schritt für Schritt meine dort zuerst veröffentlichten Texte, sofern ihr Verfallsdatum noch nicht überschritten ist, in mein Revierflaneur-Blog. Der hier erwähnte Artikel erschien zuerst bei Westropolis am 8. Februar 2008 unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008 in meiner Reihe Journal intime und ist nur noch im Cache über eine passende Google-Suche auffindbar. Eine aktualisierte Neuauflage findet der Leser bei Ostropolis. (20.01.2011 MH)]

5 °C

Monday, 20. October 2008

Überraschung! Am vergangenen Freitag meldete meine Tageszeitung auf der Titelseite eine neue „Rekordtemperatur in der Arktis“. Die Temperaturen dort lägen derzeit um 5 °C über dem Normalwert – und seien damit höher als jemals zuvor in dieser Jahreszeit seit Beginn der Messungen. Der Artikel war verhältnismäßig klein, verglichen mit den neuesten Nachrichten über die weltweite Finanzkrise und den Wahlkampf in den USA. Zudem wurden solche Hiobsbotschaften in den letzten Jahren so oft bekannt gegeben, dass sich selbst bei gründlichen und empfindsamen Zeitungslesern mittlerweile fatalistische Resignation eingestellt hat. Was soll man da machen?

Außerdem ist die Arktis weit weg, und die beschriebenen Veränderungen schreiten in der Wahrnehmung des Menschen, der von Tag zu Tag lebt, nur unmerklich langsam voran. So kommt es, dass der aktuelle Wetterbericht für die Region mehr Aufmerksamkeit findet als eine Nachricht über globale Klimaprognosen. Ob wir fürs kommende Wochenende einen Spaziergang am Baldeneysee bei strahlendem Sonnenschein einplanen können, interessiert uns allemal mehr als die Frage, ob durch den Anstieg des Meeresspiegels um 2,5 Millimeter pro Jahr in einigen Jahrzehnten große Teile von Bangladesh überflutet werden.

Hinzu kommt noch, dass das kurzfristige Wetter- und langsfristige Klimageschehen auf unserem Planeten dermaßen komplexe Ereignisse sind, hervorgerufen von einer nahezu unüberschaubaren Anzahl variabler Faktoren, dass selbst die leistungsstärksten Großrechner und weltweit vernetzte Computersysteme sehr bald an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum geht, zuverlässige Vorhersagen für die nähere oder fernere Zukunft zu treffen. Die aktuellen Warnmeldungen in den Medien basieren sämtlich auf dem am 16. Oktober veröffentlichten Annual Arctic Report der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in Washington (DC), an dem 46 Wissenschaftler aus zehn Ländern beteiligt waren. Deren Sprecher, James Overland, warnte bei der Bekanntgabe der neuesten Forschungsergebnisse vor einem „Dominoeffekt”, bei dem durch die stetig steigenden Temperaturen das auf der Wasseroberfläche schwimmende Eis schmelze, die Sonneneinstrahlung von diesem nicht mehr reflektiert werden könne und sich damit die Eisschmelze weiter beschleunige.

Auch hierbei handelt es sich offenbar wieder um einen exponentiellen Prozess und längst nicht mehr um einen linear sich entwickelnden Vorgang – ganz ähnlich wie bei der Weltbevölkerungskurve, die Mitte des 17. Jahrhunderts aus dem linearen Ruder gelaufen ist. Unveränderlich ist allerdings die Landfläche auf der Erde als menschlicher Siedlungsraum. Sie umfasst seit etlichen Jahrtausenden 149,4 Millionen km². Und diese Zahl wird, so wie es aussieht, in Zukunft allenfalls sinken.

«Après nous le déluge!» Der Ausspruch der Madame de Pompadour aus dem Jahr 1757 erweist sich heute gerade in seiner Ambivalenz als wahrhaft prophetisch. Wir wissen ja nicht, was die Mätresse Ludwig XV. damit sagen wollte. „Mir als kaltschnäuziger Zynikerin ist völlig schnuppe, ob die Sintflut alles hinwegspült, wenn ich erst das Zeitliche gesegnet habe?” Oder aber: „Ich als schicksalsergebene Fatalisten kann leider ohnehin die Sintflut nicht verhindern?” – Karl Marx wiederum hat im ersten Band seines Kapital (1863) die kurzfristigen Nutznießer einer solchen selbstzerstörerischen Verzweiflungshaltung gegenüber unserer Zukunft und der unserer Kinder und Kindeskinder beim Namen genannt: „Nach uns die Sintflut ist der Wahlspruch jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.”


Dreckschleuder

Sunday, 19. October 2008

Was das Fernsehen angeht, dessen inhaltliche Qualitäten seit einer Woche mal wieder durch den Veitstanz eines greisen Fernsehstars ins Gerede gekommen sind, bin ich Fundamentalist – und Totalverweigerer. Ich habe kein Empfangsgerät in der Wohnung stehen, ich sehe mir auch anderswo keine Fernsehprogramme an, gleich ob öffentlich-rechtliche oder private, ich ernähre mich intellektuell rein vegetarisch, bereite mir meine Nahrung ausschließlich aus Texten und Bildern der papierenen Provenienz, angereichert durch bequem verfügbare Zutaten aus dem Internet. Selbst wenn es weltweit keine niveauloseren Sender als Arte und 3sat gäbe, würde das an meiner prinzipiellen Abneigung gegen dieses Massenmedium keinen Deut ändern. Ganz einfach gesagt: Nicht die jetzt wieder an den Pranger gestellten idiotischen Inhalte des Fernsehens veranlassen mich zu meiner konsequenten Abstinenz; vielmehr habe ich längst schon die Form ihrer Darbietung in diesem Medium als für mich grundsätzlich schädlich und insofern absolut entbehrlich erkannt.

Die sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung zwischen der fortschreitenden Trivialisierung der Inhalte im Fernsehen und den sinkenden Ansprüchen seiner Zuschauer vor der Mattscheibe ist eine Gesetzmäßigkeit, die diesem Medium von Anfang an, also seit der Nierentisch-Epoche, immanent war und die durch keine noch so gut gemeinte Gardinenpredigt eines gebildeten Großkritikers umzukehren oder auch nur zu bremsen ist. Indem die Einschaltquote, von der die Werbeeinnahme abhängt und damit die Finanzierung dieses Massenspektakels, das Programm bestimmt, reguliert sich dieses Unterhaltungssystem selbst. Ein erfolgreicher Intendant zeichnet sich schon längst nicht mehr durch Phantasie, Experimentierfreude und innovative Ambitionen aus. Vielmehr lässt er den Dingen ihren Lauf und sitzt die regelmäßig über ihn niedergehenden Medienschelten großkopferter Arroganskis lieber aus, als einen Rückgang der Quoten (und damit der Werbeeinnahmen) für seinen Arbeitgeber resp. Gehaltszahler in Kauf zu nehmen.

Weder die Empfänger noch die Sender haben in diesem sich selbst regulierenden System einen Handlungsspielraum. Das ist ein geschlossener Kreislauf, eine unablässig rotierende Turbine des Elends. Letztere, „die Fernsehmacher”, müssen produzieren, was gewünscht wird; erstere, „unsere lieben Zuschauer”, müssen konsumieren, was geboten wird. – Die Wahlmöglichkeit zwischen Dutzenden von Programmen, jenes „Switchen” per Fernbedienung, das die einst auf zwei Sender und die anstrengenden „Dritten” reduzierte Schmalspurofferte zum Scheinbild einer großen weiten Welt hochpushte, ist dabei nur eine Farce. Und die wenigen anspruchsvollen Sendungen erfüllen lediglich eine Alibifunktion. Entscheidend aber ist der Mainstream, jener reißende Fluss, der immer breiter und schneller wird und alles mit sich in den Abgrund spült, was einmal „humanistische Bildung”, „kritischer Geist” und „gepflegter Geschmack” hieß. – Das Fernsehen ist der letzte Sargnagel zur vordem schon gescheiterten Aufklärung.

Marcel Reich-Ranicki hat diese destruktive Allmacht des Fernsehens nicht erkannt. Sonst hätte er sich in den Jahren seines Literarischen Quartetts nicht zum Hofnarren machen lassen. Und selbst in der Abgeschiedenheit des Ruheständlers ist er offenbar noch nicht aus dem Spuk schlau geworden, auf den er sich da eingelassen und zu dessen Abrakadabra er erfolgreich beigetragen hat. Wenn er von dem „Dreck” angeekelt war, den er stundenlang bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises aus nächster Nähe, als unmittelbarer Augenzeuge geboten bekam und ertragen musste, dann spricht das nicht für seine intellektuelle Redlichkeit, sondern ist kläglicher Ausweis seiner erschreckenden Naivität. (Alter schützt vor Torheit nicht.) Und wenn er glaubt, durch seine trotzige Ablehnung eines Plexiglas-Obelisken und einen halbstündigen Dialog mit Thomas Gottschalk über die inhaltliche Qualität des Fernsehens diesbezüglich eine Trendwende auslösen zu können, dann muss man’s wohl schon Größenwahn nennen.

Die überschaubar kleine Zahl jener Zeitgenossen, die wie ich einige vermeintliche „Segnungen” unserer Zivilisation zu Beginn des dritten Jahrtausends bewusst verweigern – das Fernsehen, das Handy, das Auto, den Tourismus – wird regelmäßig mit einer ebenso überschaubaren Zahl von Invektiven bedacht: arrogant, weltfremd, antagonistisch, kulturpessimistisch. Das nehmen wir aber liebend gern in Kauf – und zwar nicht aus messianischen Motiven, um der Rettung der Welt willen, sondern aus rein egoistischen Gründen. (Hierzu wird in nächster Zeit noch einiges zu sagen sein.)

Kofferbombe

Saturday, 18. October 2008

Gestern um 17:22 Uhr. Aus Richtung Köln-Düsseldorf kommend fährt die S6 in den Bahnhof Essen-Werden ein. Ein etwa 45 Jahre alter männlicher Fahrgast steigt zu und legt seinen Koffer in die Gepäckablage über den Sitzen. Dann springt er aus dem Zug und flüchtet. Mitreisende, die zufällig Zeugen dieses verdächtigen Vorgangs werden, informieren per Handy die Polizei.

Um 17:31 Uhr läuft der Zug am S-Bahnhof Essen-Süd ein und wird evakuiert. Ich verlasse meine nahe gelegene Wohnung, um an der Bude Ecke Schnutenhausstraße Zigaretten zu kaufen, und werde so zufällig Zeuge, wie die Rellinghauser Straße vor und hinter der Brücke über die Bahngleise von der Polizei mit rot-weißem Flatterband abgesperrt wird. Der Auto- und Straßenbahnverkehr kommt zum Erliegen, Fußgänger dürfen die Brücke nur noch „auf eigenes Risiko” passieren.

Um 17:49 Uhr fährt plangemäß die S6 aus der Gegenrichtung ein. Fahrgäste steigen aus und verlassen die mutmaßliche Gefahrenstelle über die Treppe zur Brücke. Ich hole meine Kamera und schieße zwischen 18:00 Uhr und 18:10 Uhr ein paar Fotos von der Sperrung [siehe Titelbild]. Gegen 19:30 Uhr rückt ein Entschärfungskommando an, untersucht den herrenlosen Koffer mit einem Röntgengerät und öffnet ihn schließlich. Er enthält Unterhemden, einen alten Bademantel und Spraydosen. Hinweise auf den Eigentümer werden nicht gefunden. Wenig später kann der Verkehr wieder freigegeben werden.

Seit den nur durch technisches Versagen gescheiterten Kofferbomben-Anschlägen auf zwei Regionalzüge aus Köln in Richtung Dortmund und Koblenz am 31. Juli 2006 ist die Aufmerksamkeit von Fahrgästen öffentlicher Verkehrsmittel für herrenlose Gepäckstücke verständlicherweise geschärft – und die Sicherheitskräfte sind angehalten, jeden Hinweis auf ein mögliches Attentat ernst zu nehmen und alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Gefahr für Leib und Leben unbeteiligter Passanten abzuwenden. Unser vergleichsweise freies Land befindet sich erneut in „ständiger innerer Alarmbereitschaft” (Wolfgang Neuss), einem Klima der Verunsicherung, das zuerst in den frühen 1970er-Jahren den Alltag vergiftete.

Die Spraydosen im Trolli des unbekannten Trittbrettfahrers, der solche verständlichen Ängste missbraucht, um seine ganz private Profilneurose mit Allmachtsphantasien zu besänftigen, deuten darauf hin, dass er es den Durchleuchtern seiner Hinterlassenschaft in der S6 nicht allzu leicht machen wollte. Die gestrige zweieinhalbstündige Verkehrsunterbrechung ist morgen schon vergessen – aber die latente Angst, dieses „Tabu der Abwehrgesellschaft” (Rainer Taëni), sie dauert fort.

Eccentrics (VIII)

Friday, 17. October 2008

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Neben dem „Pferdenarren” war viele Jahre lang der „zwitschernde Leierkastenmann” in Essen ein stadtbekanntes Original. Das kleine Männlein saß mit Zylinder und im schwarzen Ledermantel sommers wie winters an der Kettwiger Straße, der ältesten Fußgängerzone Deutschlands. Sein Stammplatz in der kalten Jahreszeit war zwischen zwei Schaufenstern an der Ostseite des Eick-Hauses, im Schutze des Vordaches von Peek & Cloppenburg (heute Ansons). Bei schönem Wetter fand man ihn auch an anderen Stellen der „Kettwiger”, vor Lederwaren Langhardt am Baedeker-Haus etwa oder am Glockenspiel von Uhren Deiter.

Sein treuer Begleiter war ein frecher kleiner Yorkshire-Terrier. Die Musik aus seiner Drehorgel begleitete er mit Gezwitscher, das er durch Vogl-Pfeiferl erzeugte, jene halbmondförmigen Plättchen, die zwischen Zunge und Gaumen gelegt und durch geschickte Atemtechnik in Vibration versetzt werden.

Böse Stimmen behaupteten, jener Herbert Oberländer – so hieß der Mann – sei durch seine Orgelei und Zwitscherei mittlerweile längst zum Millionär geworden. Man wollte beobachtet haben, wie er nach getaner Arbeit, also nach Ladenschluss um halb sieben, sein Musikinstrument in einen Mercedes Kombi einlud, den er im nahe gelegenen Bankenviertel parke, um anschließend mit quietschenden Reifen davonzupreschen.

Irgendwann Ende der 1990er-Jahre war er dann plötzlich verschwunden. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt [siehe Titelbild], nämlich in einem jüngst erschienenen opulenten Bildband zur Geschichte meiner Heimatstadt. (Herbert Westphalen: Essener Bilderbogen 1880-2007. Die Stadt Essen und ihre Geschichte in mehr als 1.200 Ansichtskarten und Fotos. Essen: Klartext Verlag, 2008, S. 118.) Dort erfährt man auch, dass Oberländer 1998 im Alter von 82 Jahren verstorben ist.

Bei dieser Gelegenheit kann ich mir ein paar kritische Bemerkungen zu diesem Buch nicht verkneifen. Erstens ist es leider, was die Bildunterschriften betrifft, sehr schlampig lektoriert; noch deutlicher: Es strotzt vor sprachlichen Fehlern aller Art. Zweitens folgt die Anordnung des Bildmaterials keinem wirklich einleuchtenden Prinzip. Drittens vermisse ich umso mehr ein Register, das wenigstens so die Orientierung in diesem Durcheinander erleichtern würde. Aber alle diese Mängel werden mehr als wettgemacht durch die sensationelle Vielfalt und Originalität der hier überwiegend erstmals, und dazu in tadelloser Druckqualität, veröffentlichten Bilder. Man kann, was das betrifft, durchaus auf mein fachmännisches Urteil vertrauen, denn ich habe zur Bildgeschichte dieser Stadt so ziemlich alles gesammelt, was in den vergangenen Jahrzehnten im Buchhandel erschienen ist. Speziell was das Baedeker-Haus und das Hansa-Haus betrifft, dachte ich eigentlich, alle verfügbaren historischen Bildquellen zu kennen – und wurde durch Westphalens Buch erfreulicherweise eines Besseren belehrt. Wenngleich nicht unbedingt ein ungetrübtes Lesevergnügen, so bietet es somit doch immerhin einen wahren Augenschmaus für jeden am Gestaltwandel dieser Großstadt interessierten Essener.

Auch ich, auch du.

Thursday, 16. October 2008

Als 75. Band der berühmten expressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tag erschienen 1919 im Verlag Kurt Wolff in Leipzig Hans Siemsens „Aufzeichnungen eines Irren” unter dem Titel Auch ich, auch du. Heinz Schöffler hat 1970 alle 86 Hefte dieser Reihe, mustergültig kommentiert und im Faksimile gedruckt, in zwei dicken Bänden im Scheffler-Verlag neu herausgegeben; 1981 erschien ein Nachdruck in sieben Bänden im Societäts-Verlag (beide in Frankfurt am Main).

Dass das Erstlingswerk des 28-jährigen Siemsen in dieser „Bücherei einer Epoche” erschien, neben den Büchern so bedeutender Dichter und Schriftsteller wie Gottfried Benn, Karel Čapek, Paul Claudel, Iwan Goll, Franz Kafka, Carl Sternheim, Georg Trakl und Franz Werfel, das dürfte der hoffnungsvolle junge Autor sicher als eine starke Ermutigung empfunden haben, künftig das Schreiben zu seinem Hauptberuf zu machen.

Auf den knapp zwanzig Seiten des Bändchens, in diesen „Phantasien eines am Krieg irre gewordenen Frontsoldaten” (Michael Föster), verarbeitet Hans Siemsen seine Kriegserlebnisse als Soldat an der Westfront 1917, die durch Feldpostbriefe an seine Mutter und seine neun Jahre ältere Schwester Anna dokumentiert sind. Im Schützengraben las er die Pensées von Pascal, die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann, Flauberts November, Eckermanns Gespräche mit Goethe, Kasimir Edschmids Novellensammlung Timur (die er „albern” fand), den Hasenroman von Francis Jammes, Professor Unrat von Heinrich Mann, Das grüne Gesicht von Gustav Meyrink (eine „Enttäuschung” nach dessen Golem) sowie Romane von Fielding und Balzac. – Vor allem aber las er, offenbar hingerissen und überwältigt, den Tristram Shandy und urteilte: „Welch ein Buch! Ich bin so stolz darauf, als ob ich es selbst geschrieben hätte. Es ist mein Bißchen Begabung zur Vollendung erhoben – aber wir sind durchaus von derselben Familie – und es ist verdammt ein glorioses Gefühl, solche Verwandte zu haben!” (Undatierter Brief an die Mutter; zit. nach Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 26.)

Jenes „Bißchen Begabung” und die behauptete Familienzugehörigkeit gab zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass, die durch Auch ich, auch du dann allerdings leider nicht eingelöst wurden. Vielmehr schmiegt sich Siemsens Prosa an den 1919 schon wieder modischen Stakkato-Ton der Expressionisten an: „Namenlos bin ich genannt. / Namenlos irr ich von Land zu Land. / Namenlos elend. / Namenlos tot. / Einmal hatte ich einen Namen. Wie lange ist das her? / Weiß Gott! Wie oft bin ich seit dem gestorben!” Der junge Poet beginnt seine schriftstellerische Laufbahn als Epigone.

Aber ein solches Urteil, über fast ein Jahrhundert hinweg, ist doch andererseits auch wieder eine Anmaßung. Aus der warmen Stube, nach mehr als sechzig Jahren Frieden zumindest hierorts, lässt sich leicht die Nase rümpfen. Wir wissen ja gar nicht, wie gut es uns geht. Ich habe noch in keinem Schützengraben gelegen. Ich kenne den Wald nicht, von dem Siemsen schreibt: „Ich will lieber in unsern Sterbewald! Da warten auf mich, daß ich komme, die lieben Brüder. Ich habe sie so lieb gehabt. Ich habe sie so von Herzen lieb.” Ich habe keine Brüder. Und ich kenne den Krieg bisher nur vom Hörensagen.

Apfel

Wednesday, 15. October 2008

Seit einigen Wochen lese ich zum zweiten Mal ein Buch, das vor nun wohl 36 Jahren meinen Blick auf die Menschenwelt entscheidend und nachhaltig verändert hat. Man könnte sagen, dass ich seinerzeit durch dieses Buch meine kindliche Unschuld verloren habe. Es ist die Dokumentation Der Auschwitz-Prozeß von Hermann Langbein, zuerst erschienen 1965 in der Europäischen Verlags-Anstalt, wiederaufgelegt 1995 im Verlag Neue Kritik, beide in Frankfurt am Main.

Wenn in meinem Freundes- und Bekanntenkreis heute das Thema „Konzentrationslager im Nationalsozialismus” aufkommt, dann ist ein vielfach verwendetes Adjektiv zur Benennung des dortigen Geschehens „unvorstellbar”. Dort seien unvorstellbare Verbrechen begangen worden, unvorstellbares Leid sei den Juden und anderen Häftlingen zugefügt worden und es sei unvorstellbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten. In Auschwitz sei eine unvorstellbar große Zahl von unschuldigen Opfern vergast worden. Und dass es heute noch immer Menschen gebe, die dies ernsthaft leugnen, sei wenn nicht unvorstellbar, so doch schwer nachvollziehbar. – Jede einzelne dieser Aussagen ist falsch.

Dank des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20. Dezember 1963 bis 21. August 1965) ist in weit über 200 ausführlichen Zeugenaussagen in allen erdenklichen Einzelheiten dokumentiert, was dort geschah, wie es geschah und warum es geschah. Es sich in aller Deutlichkeit vorzustellen, dazu bedarf es allerdings der Bereitschaft, es sich vorstellen zu wollen – doch wer will das schon? Wer setzt sich freiwillig dem Risiko aus, bei solchen Vorstellungen seine Lebensfreude und seinen Glauben an die Menschheit aufs Spiel zu setzen und zu einem sauertöpfischen Misanthropen zu werden? Das Lachen zu verlernen? Vor Kummer und Scham darüber im Boden zu versinken, zum Volk der Täter zu gehören, wofür es keine bessere Entschuldigung gibt als die fadenscheinige Ausrede von der „Gnade der späten Geburt” (Helmut Kohl)?

Ein Beispiel: Am 41. Verhandlungstag erklärte die aus Mexiko angereiste Zeugin Dounia Zlata Wasserstrom, geb. am 18. Januar 1909 in Gitomir (Russland), Häftling im KZ Auschwitz vom 23. Juli 1942 bis zur Evakuierung, Häftlingsnummer 10.308, Dolmetscherin in der Politischen Abteilung (Abt. II) in Auschwitz: „Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand[en] [Wilhelm] Boger und [Hans] Draser. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, ‚das an der Wand‘ abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.”

Dem Angeklagten Boger, der das Lachen offenbar noch nicht verlernt hatte [siehe Titelbild], fiel vor Gericht dazu nichts anderes ein als das knappe Statement: „Die Sache ist frei erfunden.” Ich bin da phantasievoller und denke an den 137. Psalm: „Tochter Babel, du Verwüsterin, / wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! / Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt / und sie am Felsen zerschmettert!”

Eklat

Tuesday, 14. October 2008

Die meisten Quotenknüller des Fernsehens verdanken ihren Erfolg der Hoffnung des Zuschauers auf ein ungeplantes Missgeschick. Die erregtesten Gespräche nach Live-Übertragungen von der Formel I und der Tour de France gab es in der Betriebskantine meines früheren Arbeitgebers immer nach Unfällen, je schlimmer, desto doller. Peinliche Patzer von sonst so perfekten Nachrichtensprechern, der schweigende Boxer Norbert Grupe, Trapattoni und sein „Ich-habe-fertig!”-Wutausbruch, Zlatkos schlechte Manieren im „Big-Brother”-Container, Eva Hermans Nahezu-Rausschmiss bei Johannes B. Kerner, die gegenseitigen Beleidigungen von Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler im gesitteten „Literarischen Quartett”, Zinédine Zidanes Kopfstoß gegen die Brust von Marco Materazzi in den letzten Minuten des WM-Finales – das waren einige der vielen mittlerweile legendären Spontanereignisse der Fernsehgeschichte, auf die jeder Zuschauer insgeheim stets hofft, wenn er sich vor die Glotze hockt und nach spannender Entspannung giert.

Wem das wirkliche Leben keine Abwechslung bietet und schon gar keine Überraschungen, für den ist die Sehnsucht, zum Zeugen solcher ungeplanten Regelverstöße in aller Öffentlichkeit zu werden, ein starkes Motiv, sich den langweiligsten Quatsch aus alter Gewohnheit und in Ermangelung einer Alternative Abend für Abend, Stunde um Stunde, Jahr auf Jahr in unverbrüchlicher Treue reinzuziehen. Welch ein Elend! Welche Vergeudung von Lebenszeit, Kreativpotenzial und mentalem Volksvermögen!

Was für den im Live-TV übertragenen Sportevent der blutige Unfall oder das brutale Foul, das ist für die Talkshows, Quizsendungen oder Preisverleihungen der Eklat: ein kostenloser Quotenbringer allererster Güte. Seine Effizienz ist zu einem guten Teil von der Fallhöhe abhängig: der Differenz zwischen den Erwartungen des Publikums an die Akteure auf dem Bildschirm und deren skandalösem Verhalten. Wenn Dieter Bohlen bei DSDS einen vernehmlichen Furz ließe, wäre das für zarte Gemüter, die sich wild zappend in ein solches Format verirrt haben, vielleicht momentweise degoutant, für seine hartgesottenen Fans würde er damit aber bloß eine weitere stinkende Blase in jenem Schlammbad produzieren, in dem die Unappetitlichkeit längst vorherrschende Konvention des gewöhnlichen Umgangs miteinander geworden ist. Solche Entertainer haben’s schwer, es mit einem Ausraster noch mal auf die erste Seite der Bild-Zeitung zu schaffen. Wenn aber – ich phantasiere mal – ein vor Seriosität und Beherrschtheit sonst nur so strotzender Tagesschau-Sprecher beim Verlesen einer Unfallmeldung in Tränen ausbräche, weil seine eigene Tochter zu den Opfern zählte, dann wäre dies ein Ereignis, das „Fernsehgeschichte” schriebe und tausendfach wiederholt würde.

Marcel Reich-Ranicki war ein erfolgreicher Literaturkritiker in den „anspruchsvollen” Printmedien der 1960er- bis 1980er-Jahre (Zeit und FAZ), dem aber schon in dieser Tätigkeit die Zurschaustellung seiner hochrichterlichen Würde, Unabhängigkeit und Allmacht mehr bedeutete als die Wertbeständigkeit und Kommensurabilität seiner für den Tag geschriebenen Urteile. In einer Zeit, als das formale Experiment und die politische Provokation die dominierenden Kräfte der ehemals „Schönen Literatur” waren, stand sein Name für ein Beharren auf stockkonservativen Positionen, zu deren Begründung er nie viel mehr anzuführen wusste als die Rückbesinnung auf die Ideale der Klassik – und sein Lieblingsparadigma lautete allenthalben: „Literatur darf den Leser nicht langweilen.” (Mit der allerdings stets unterschlagenen Voraussetzung: „Der Leser bin ich.”) Im März 1988 schloss der nachmalige „Literaturpapst” dann einen Pakt mit dem Teufel und ging gegenüber seiner Würde, um seiner Eitelkeit willen, einen Kompromiss ein: Marcel Reich-Ranicki bereicherte das ZDF um ein „Format”, das zuvor niemand für möglich gehalten hätte, eine „anspruchsvolle Literatursendung”, in der es ausschließlich um Bücher ging und in der nicht mehr zu sehen und zu hören war als das Gespräch zwischen vier kontrovers argumentierenden Fachleuten.

Rückblickend betrachtet hat der mittlerweile 88-jährige Mann damit immerhin dem deutschen Buchhandel einen großen Dienst erwiesen und dafür gesorgt, dass Abermillionen Bücher, vorzugsweise die von ihm verrissenen, über den Ladentisch gingen. (Wie viele von ihnen tatsächlich von den braven Käufern gelesen wurden, das steht freilich auf einem anderen Blatt.) Ein solcher Pakt hat nun aber, wie der an der deutschen Klassik geschulte Großkritiker zweifellos wissen wird, immer seine zwei Seiten. Und so sind wir kritischen Zeitzeugen dieses traurigen Schauspiels nun dazu verdammt, einem unaufhaltsamen Niedergang zusehen zu müssen. Marcel Reich-Ranicki kann nach der Einstellung des Literarischen Quartetts Ende 2001 auf seine alten Tage nun doch nicht auf die öffentliche Aufmerksamkeit verzichten; er nutzt – welch ein Eklat! – die Verleihung des „Ehrenpreises der Stiftung des Deutschen Fernsehpreises” dazu, sich noch einmal ins Rampenlicht zu stellen, pünktlich zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, indem er in die Hand beißt, die ihn viele Jahre gefüttert hat – und schafft es endlich wieder zu einer Bild-Schlagzeile. Wenn man sich allsonntäglich seine peinlichen Briefantworten in der FAS anschaut, dann hätte man allerdings gewarnt sein müssen. – Am kommenden Freitag von 22:30 bis 23:00 Uhr erhält der unsterbliche MRR die Gelegenheit, im Gespräch mit dem ebenfalls unsterblichen Thomas Gottschalk vor Millionen Fernsehzuschauern darzulegen, warum er so lange gebraucht hat, bis ihm die Erkenntnis dämmerte, dass das Fernsehen das bislang wirkungsvollste Instrument zur Kulturvernichtung in der Menschheitsgeschichte ist. Die Quoten dürften sich sehen lassen.

Dingwelt (V)

Monday, 13. October 2008

Seit ein paar Jahren bin ich Hypertoniker. Wann genau sich bei mir der erhöhte arterielle Blutdruck eingestellt hat, kann ich nicht sagen, denn als er von meinem damaligen Hausarzt festgestellt wurde, waren mein systolischer und mein diastolischer Gefäßdruck seit vielen Jahren nicht mehr gemessen worden.

Die Therapie der Wahl gegen dieses chronische Volksleiden war in meinem Fall eine medikamentöse Kombinationstherapie aus einem ACE-Hemmer (Ramipril) und einem Betablocker (Metoprolol). Das eine Präparat nehme ich morgens zum Frühstück, das andere abends vorm Zubettgehen.

Bald wurde mir diese Tagesroutine so selbstverständlich, dass ich gelegentlich im Zweifel war, ob ich nun meine Pille schon geschluckt hatte oder noch nicht. Sicherheitshalber eine zweite Tablette zu nehmen empfiehlt sich nicht, denn Überdosierungen können zu einem gefährlichen Blutdruck-Abfall führen. Eine Tagesdosis ganz auszulassen ist aber ebenfalls riskant.

Also entschloss ich mich, in der Apotheke eine dieser praktischen Vorratsdosen zu erwerben, die es erlauben, den Medikamentenbedarf einer Woche vorzuhalten, übersichtlich sortiert nach Tagen und Tageszeiten der vom Arzt verordneten Einnahme (siehe Titelbild). Bei dieser Anschaffung hatte ich zum ersten Mal das unabweisliche Gefühl: Jetzt kommt das Alter.

Die sieben „Schubladen” des Kästchens wandern in ihrem Gehäuse Woche für Woche von hinten nach vorn. Wenn ein Tag vorbei ist, wird das leere Kästchen nach hinten gesteckt, wenn die Woche endet, befülle ich das Magazin mit weiteren 14 Pillen: ein Kreislauf – der allerdings irgendwann an sein Ende kommen wird. Die Botschaft lautet: Deine Tage sind gezählt – wenngleich die Zahl dank der täglichen Pilleneinnahme größer ist als ohne.

Masterplan

Sunday, 12. October 2008

Dem eiligen Passanten, der dieses Weblog mit flüchtigem Blick streift, kein eindeutiges Thema findet, keinen Zusammenhang herstellen kann, sich nicht zurechtfindet und nicht heimisch wird und darum durch den erstbesten Notausgang davonstrebt und das Weite sucht – diesem so konzentrationsschwachen wie atemlosen und ungeduldigen Zeitgenossen sei hiermit gesagt: Das Werk des Revierflaneurs folgt einem Masterplan.

Dieser Plan wird allerdings erstens nur aus der Vogelperspektive überschaubar – und ist zweitens verlässlich bloß für den Tag, weil er sich ständig, wenngleich in kleinen Schritten, verändert. Sein Meister findet ja keine Landschaft vor, die es nun gälte, mit dem Plan in der Hand zu erkunden und zu verstehen. Vielmehr erschafft er diese Landschaft selbst erst Schritt für Schritt und muss die Karte nach jeder neuen Landgewinnung den veränderten Gegebenheiten anpassen.

Die Bewegungsrichtung dieser Flanerie ist exzentrisch („weg von der Mitte”), ihre Geschwindigkeit anachronistisch („in kleinen Schritten”). Jedes beliebige Zwischenergebnis und Zustandsbild dieser schleichenden Expedition ähnelt in doppelter Hinsicht einem Labyrinth. Es scheint chaotisch für den unerfahrenen Besucher, der sich bei seiner planlosen Inspektion wohl bald verirrt und keinen rechten Überblick findet – und ist doch nach einem streng geordneten Plan angelegt, regelmäßig wie eine Hilbertkurve [siehe Titelbild].

Ein alphabetischer Kompass zur Orientierung auf dem Weg durch diesen strukturierten Irrgarten sind die „Kategorien” am rechten Rand. Gegenwärtig gibt es auf erster Ebene deren drei (Allgemein, Würfelwürfe und Zeitsprünge), auf zweiter unter der mittleren schon ein ganzes Dutzend (Against the Day, Baggesen, Caissa, Dingwelt, Eccentrics, Godzilla, Hans Siemsen, Kistenflimmer, Märchen, Oikos, Snapshot und Tauchen).

Die Hierarchie dieser Schubladen bleibt aber, das sei zur Warnung einem ernsthaften Expeditionsteilnehmer in diesem Wörterdschungel mit auf den Weg gegeben, jedenfalls immer nur eine vorläufige. Und schon erst recht sollte sich ein gewogener Leser dieses Weblogs nicht dazu verführen lassen, aus der Zahl der Beiträge zu einer Kategorie voreilige Schlüsse auf deren relative oder gar absolute Bedeutung zu ziehen. (Vielleicht endet dereinst das voluminöse Kapitel Against the Day auf einer vierten Ebene der Kategorien, unter Würfelwürfe / Roman / Epigonen.)

Siemsens Kopf

Saturday, 11. October 2008

Seit gut einem halben Jahr versuche ich, mich dem Leben und Werk, nicht zuletzt aber auch der Person des nahezu unbekannten Flaneurs Hans Siemsen anzunähern. Bei einer solchen intensiven Beschäftigung ist nur natürlich, wenn man bald einmal wissen will: Wie sah der Mann eigentlich aus, dem du nun schon so viele Lesestunden gewidmet hast? Bildnisse Siemsens, gleich welcher Art, haben sich indes nur sehr wenige erhalten.

Erstens ein Porträtfoto des jungen Hans Siemsen, wohl aus den frühen 1920er-Jahren, das auch auf Dieter Sudhoffs Hans Siemsen Lesebuch (2003) in graphisch entstellter Form zu sehen ist; zweitens ein Gruppenfoto in der Autobiographie Der Lebensanfänger seines Neffen Pieter Siemsen (2000) aus der gleichen Zeit, mit der Mutter und dem Bruder Karl; drittens ebendort ein weiteres Gruppenfoto von 1935 mit dem Bruder August, dessen Ehefrau Christa, geb. Springmann, und der Schwester Paula, verh. Eskuchen; viertens ein Porträtfoto en profil im Fiche de Renseignements von 1940, das auch für die Gedenktafel in Sanary-sur-mer verwendet wurde; und fünftens schließlich eine Karikatur von B. F. Dolbin, ebenfalls im Profil.

Aus den Daten zu Leben und Werk, die Michael Föster im Anhang (S. 251 ff.) zum ersten Band seiner Siemsen-Ausgabe (1986) zusammengestellt hat, wusste ich, dass die Freundin Renée Sintenis 1924 [recte: 1923] eine Büste von Hans Siemsen modelliert hat. Es waren aber schon einige Recherchen vonnöten, immerhin ein Foto dieses Bildnisses zu finden [siehe Titelbild].

Das sechste und gewiss aussagekräftigste Porträt des 33-jährigen [recte: 32-jährigen] Schriftstellers Hans Siemsen ist reproduziert auf Seite 38 der von Hanna Kiel herausgegebenen Bildmonographie Renée Sintenis, erschienen 1935 im Rembrandt-Verlag, Berlin. Ob die Büste selbst den Weltkrieg überstanden hat und in wessen Besitz sie sich in diesem Fall heute befindet, das konnte ich bisher leider noch nicht herausfinden.

Sehr gern würde ich das Original einmal sehen – und betasten. [Siehe hierzu auch die Kommentare.]

Und dann?

Wednesday, 01. October 2008

Nun geht also der US-amerikanische „Rettungsplan”, $ 700.000.000.000 Steuergelder für marode Banken bereitzustellen, in die zweite Runde. Die 228 Abstimmungsgegner, die ihm am vergangenen Mittwoch im House of Representatives eine Abfuhr erteilt haben, wollten nicht einsehen, dass das Versagen der Banker, das überhaupt erst zu dieser weltweit größten Finanzkrise seit 1929 geführt hat, durch ein solches Geschenk nachträglich noch gratifiziert wird. Dass diese „Blockierer”, mehrheitlich Republikaner, dabei vielleicht weniger von ihrem Gewissen als von der Sorge um ihre Wiederwahl am 4. November bestimmt waren, schmälert nicht den Erkenntniswert ihrer Entscheidung. Wäre das fertig geschnürte „Rettungspaket” gleich im ersten Anlauf durchgewunken worden, dann hätte die Botschaft an die freie, man kann auch sagen: ungezügelte Finanzwirtschaft doch gelautet: „Ihr könnt Scheiße bauen, so viel ihr wollt, im Ernstfall tritt immer der Staat für den entstandenen Schaden ein!”

Die Unterstützer dieser größten staatlichen Nothilfe der Geschichte – vom noch amtierenden Präsidenten George W. Bush über die 205 Befürworter der vorläufig gescheiterten Initiative im Repräsentantenhaus bis zu den beiden Präsidentschaftskandidaten, John McCain und Barack Obama – argumentieren mit der Alternativlosigkeit des von Finanzminister Henry Poulsen vorgeschlagenen Bremsmittels: Wenn wir diese bittere Pille nicht schlucken, und zwar so schnell wie möglich, dann geht weltweit alles den Bach runter, was uns in den letzten Jahrzehnten in den Staaten der Ersten Welt als wohlvertrauter Lebenskomfort zur angenehmen Selbstverständlichkeit geworden ist: Wohlstand, Freiheit, Sicherheit, Mobilität, Gesundheit, Sozialfürsorge, Bildung und Entwicklung – unsere ganze spätbürgerliche Saturiertheit im Turbokapitalismus steht plötzlich vorm Abgrund.

Ein Satz, der in der Berichterstattung über die aktuelle Finanzkrise immer wieder zu hören war, lautet etwa so: „Das Vertrauen in die Selbstregelungsmechanismen der freien Wirtschaft steht auf dem Spiel.” Nun mag man sich fragen, ob denn die Macher der herrschenden Verhältnisse ihre Macht in der Vergangenheit tatsächlich auf nicht mehr gegründet haben als auf dieses Vertrauen. Und man mag sich weiter fragen, warum den vertrauensseligen Nutznießern dieser Blauäugigkeit, den verbleibenden 99,9 Prozent der Menschheit in den Wohlstandsländern, kaum jemals wirksame Zweifel gekommen sind, ob denn angesichts der alltäglichen Hiobsbotschaften in der Tagesschau das Prinzip „grenzenloses Wachstum” auf einem naturgemäß begrenzten Globus nicht bald einmal zum globalen Kollaps führen müsse. Aber die sedierende Macht der Gewohnheit ist offenbar stärker als die kritische Kraft der Vernunft.

Ein Wort, das in den vergangenen Tagen in den Medien ebenfalls Hochkonjunktur hatte: „Panik”. Die Panik an der Börse, die Panik der Anleger usw. Das Wort bezeichnet ja ein Bewegungsphänomen irrationaler Beschleunigung von Massen. Gestern etwa wurden mindestens 147 hinduistische Pilger in der indischen Stadt Jodhphur totgetrampelt, weil sich das Gerücht verbreitete, in dem Tempel Chamunda Devi, dem Tausende entgegenstrebten, ticke eine Bombe. Panik löst eine Fluchtbewegung aus, die mindestens für einen Teil der Fliehenden tödlich endet.

Ganz gleich, wie die für heute Abend angekündigte Abstimmung im US-Senat über Poulsens 700-Milliarden-Paket ausgeht: Die Panik wird kommen, wenn nicht heute, dann morgen. Und dann?