Archive for February, 2010

Kritikremix

Friday, 26. February 2010

omanipadmehum

Als Deef Pirmasens im Blog Gefühlskonserve Anfang des Monats ein kleines Bömbchen hochgehen ließ, indem er die noch gerade minderjährige Debütantin Helene Hegemann überführte, für ihren soeben bei Ullstein erschienenen, in den Feuilletons mehrheitlich hochgelobten Roman Axolotl Roadkill ganze Passagen aus dem Roman Strobo von Airen abgeschrieben zu haben, der vorab in dessen Weblog und 2009 im kleinen Berliner Verlag SuKuLTuR erschienen war, erwog ich für einen kurzen Moment, diesem für den Springer-Konzern einigermaßen peinlichen Vorgang einen kleinen Seitenhieb zu widmen.

Bald darauf sorgte das Skandalon für ein reichlich verspätetes Silvesterfeuerwerk in allen Medien von Twitter bis zur Harald-Schmidt-Show, als feierten die Kulturmultiplikatoren nicht jahreszeitgemäß feuchtfröhlichen Karneval, sondern gierten längst schon in der furztrockenen Sauregurkenzeit des Hochsommers nach Überbrückungshilfe aus den Darkrooms der digitalen Boheme. Auf meiner spitzen Zunge schmeckte diese Brühe bald so fad, dass ich die Lust an der mittlerweile volljährig gewordenen Hegemann und ihrem geklonten Schwanzlurch verlor und mich prickelnderen Zeiterscheinungen zuwandte.

Wieder ein paar Tage später, der kürzeste Monat des Jahres zog sich über Gebühr in die Länge, erstaunten mich dann doch die bunten Blüten, die in diesem sturmumtosten Wasserglas schwammen. Durs Grünbein „„plagiiert““ in der FAZ Gottfried Benn und führt Uwe Wittstock von der WELT wie einen tumben Tanzbären an der Nase herum.

Es wird aus diesem nichtigen Anlass landauf, landab über das Urheberrecht diskutiert, als sollte es erst noch eingeführt werden. Kein Mensch scheint mehr zu wissen, wo es anfängt und aufhört. Und ganz nebenbei wird im Namen Bert Brechts geistiger Diebstahl zur kreativen Handlung umgewidmet, unter der Voraussetzung, dass der Verlag stellvertretend für seine Autorin bekannt macht, wen sie wo beklaut hat – und ganz egal, wann. Mit der Bekanntmachung darf man jedenfalls getrost warten, bis der Fall durch Zufall ruchbar geworden ist, schon erst recht, da in diesem Falle ja die Täterin im Stande kindlicher Unschuld und das professionelle Lektorat chronisch überlastet war.

Hauptsache, das Werk rechtfertigt dank seiner genialischen Originalität diese blindwütigen Regelverstöße. Dies zu behaupten ist nun freilich mit Verweis auf die Lobeshymnen aus der Zeit vor dem Ruchbarwerden des Plagiats eine leichte Übung für die gut geölte Marketingabteilung. Und weil da alle Instrumente der Absatzförderung so geschmeidig ineinandergriffen, ward schließlich doch noch mein Interesse geweckt und ich legte ein Dossier an, um bald einmal, aber doch nicht allzu bald das Büchelchen der scheinfrommen Helene und seine Wirkungsgeschichte zum Thema einer Fassadendemontage zu machen.

[Fortsetzung folgt nicht vor Ende März.]

Was’n das?

Thursday, 25. February 2010

offerten

Ich bin noch ganz verdattert. Was ist passiert? Seit nahezu zwei Jahren blogge ich jetzt hier still und heimlich vor mich hin und habe mich längst daran gewöhnt, dass meine Anklagen, Stimmungsbilder, Strafpredigten, Jammerarien und Lobeshymnen kaum einmal Resonanz finden; und wenn, dann kommt sie von ein paar versprengten Sympathisanten, die mir noch aus der Zeit meiner Westropolis-Hospitanz verbunden sind und mich gelegentlich aufmuntern zu müssen meinen.

Und jetzt das! Auf eine eher beiläufig hererzählte Episode aus meinem destabilisierten Alltag hin geht unvermittelt ein warmer Regen durchweg freundlicher Kommentare nieder, von Hansi, Hoshi, amo, saba, Mata, Ole, Paco, ch, Horst, JanDob, Julian, Brandbarth, Gerd, Leo, jules nut, Bernd das Brot, Oliver, docmed, mailo, Brent und Andi – lauter Menschen, die sich hier bisher noch nie haben vernehmen lassen. (Oder doch höchstens ganz selten einmal.)

Was hat das kleine Geschichtchen bloß an sich, dass es plötzlich einen solchen Applaus auslöst und seine Leser gar – das Wort ist nicht von mir – zu einer gründlichen Exegese veranlasst? Zu Pfennigfuchsereien garadezu? Oder gibt es vielleicht in der Blogosphäre irgendwelche Multiplikations-Mechanismen, die eine Flüsterpropaganda nach dem Schneeballprinzip in Gang setzen? Der Vorgang ist mir jedenfalls einigermaßen unheimlich.

Schon ertappe ich mich bei dem offenbar von schierer Eitelkeit erkitzelten Einfall, hier künftig in schöner Regelmäßigkeit ähnliche Alltäglichkeiten unter die Lupe zu nehmen, wie etwa: Was mir unlängst vor den Altglascontainern widerfuhr; Traurige Beobachtungen am Rande des diesjährigen Karnevalszugs; Wie mich die Zeuginnen Jehovas zum allerletzten Mal besuchten; „Würden Sie vielleicht eine Obdachlosenzeitung erstehen, der Herr?“; Stammgäste bei Starbucks usw. Aus dem Stegreif würden mir wohl zwei Dutzend ähnlich ergiebige Geschichtchen einfallen.

Aber will ich das? Ich weiß nicht so recht. Erfolg war mir immer schon verdächtig. Komplimente korrumpieren ja leicht. Immerhin mag ein wenig Zuspruch alle paar Jahre vielleicht noch hingehen. Und wenn er überhandnimmt, ist es mir bekanntlich ein Leichtes, die Gäste schleunigst wieder aus dem Haus zu ekeln. Vielleicht darf ich das Experiment wagen. Die neue Kategorie soll also Alltäglichkeiten heißen.

Wer ist dran?

Tuesday, 23. February 2010

marktstaende

Gestern Vormittag vorm Backwarenstand. Ich stehe links, in der Mitte eine ältere Dame, die sich gerade eine sehr spezielle Auswahl von Teilchen zusammenstellen lässt. Ich spüre, dass ich ungeduldig werde, nicht weil ich in Eile bin, sondern einfach vom Zuhören: „Und dann bitte noch zwei Quarktaschen. Oder nein, geben sie mir doch besser drei! Aber nicht die zerdrückte, lieber die links daneben. Nein, von mir aus gesehen links.“ Und so weiter in der Manier einer einsamen Frau, die für den Rest des jungen Tages keinen Gesprächspartner mehr findet. Dass die Backwaren seit heute vor dem Supermarkt verkauft werden, hat seinen Grund offensichtlich darin, dass der Verkaufsstand im Geschäft komplett neu aufgestellt wird. Handwerker tragen die Einzelteile des alten Standes hinaus und werfen sie krachend in einen Container. Im Hintergrund schrillt eine Säge. Zudem liegt ein feiner Nieselregen in der Luft. Jede dieser kleinen Unannehmlichkeiten ist, für sich genommen, gewiss keine Katastrophe, alle zusammen aber lassen es nicht unbedingt als wünschenswert erscheinen, vor diesem Backwarenstand Wurzeln zu schlagen. „Momentchen,“ höre ich die ältere Dame sagen, „das müsste ich passend haben.“ Dann lässt sie mit ungelenken Fingern neun Euro und 78 Cent auf den Zahlteller klappern, gestückelt in 19 einzelne Münzen. Ein Zwei-Cent-Stück fällt zu Boden, ich bin ganz Kavalier und klaube es aus dem Matsch. Misstrauisch nimmt sie es entgegen, als hätte sie befürchtet, ich könnte mich damit aus dem Staub machen. Gleichzeitig höre ich die Brotverkäuferin sagen: „Es sind aber Neuneuroneunundsiebzig! Hätten Sie vielleicht noch einen Cent für mich?“ Sofort greife ich nach meiner Geldbörse, damit dieses grausame Spiel endlich ein Ende hat. Aber ich muss feststellen, dass sich in meinem Münzfach nur ein einziges Zwei-Euro-Stück befindet. Auch die ältere Dame hat bei der Suche in ihrem Portemonnaie und in den Taschen ihres Mantels offenbar keinen Erfolg. Da kommt ihr ein älterer Herr zu Hilfe, den ich jetzt erst bemerke. Er hatte wohl zuvor auf der, von uns aus gesehen, rechten Seite des Backwarenstandes gewartet. „Sie erlauben, dass ich ihnen diesen Glückscent zum Geschenk mache?“

Die überschwängliche Begeisterung, mit der die ältere Dame dieses Präsent von ihrem Altersgefährten entgegennahm, gab mir einen kleinen Stich. Zugleich beschäftigte mich die Frage, ob dieser spendable Kavalier bereits um Backwaren angestanden hatte, als ich hinzukam; oder ob er erst nach mir an der Reihe war. Möglicherweise hatte die zwischen uns stehende Teilchenkäuferin mir den Blick auf ihn verstellt. Vor dieser provisorischen Verkaufsstelle hatte sich in der Kürze der Zeit noch keine Gewohnheitsregel etablieren können, ob sich die Warteschlange nun nach rechts oder links zu bilden hätte. Ich kam aus Richtung der Bushaltestelle und stand darum links. Dass der ältere Herr hingegen rechts stand, konnte vielleicht darauf hindeuten, dass er mit dem Auto unterwegs war, denn rechts vom Standort, eben von diesem soeben erst aufgebauten Backwarenstand, befindet sich der Parkplatz des Supermarkts, der ungefähr die gleiche Fläche in Anspruch nimmt wie der Supermarkt selbst.

Bevor ich diese Erwägungen zu einem für mich eindeutigen Ergebnis hätte führen können, hatte die Backwarenverkäuferin gegen mich entschieden, indem sie sich dem älteren Herrn zuwandte: „Und was darf’s denn für Sie sein?“

Bevor er antwortete, schaute er kurz zu mir herüber, wie mir schien aber nicht mit einem fragenden, sondern eher mit einem triumphierenden Blick. Es war einer dieser Augenblicke, in denen eine kleine Ewigkeit Platz findet und die sich uns einbrennen, als läge in ihnen eine Weisheit verborgen, die weit über die in Sekunden oder in Jahren messbare Zeit hinausreicht. Er sah mich nicht so an, als wollte er sich vergewissern, ob er wirklich vor mir an der Reihe sei; und noch nicht einmal so, als wollte er prüfen, ob ich mich mit diesem Verlauf der Ereignisse abfinden würde, obwohl ich vielleicht davon ausginge, dass die Reihe eigentlich an mir sei. Er schaute vielmehr drein, als wollte er sagen: ,Pass mal auf, Du Trottel. Ich weiß zwar besser als Du selbst, dass ich nach Dir gekommen bin. Aber Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich die Gunst des Augenblicks verstreichen lasse, in dem mich die Verkäuferin zuerst angesprochen hat.‘ Und ehe ich mich’s versah, hatte er schon das Wort ergriffen. „Ich hätte gern … ich wollte eigentlich … aber ich hörte ja gerade … dass ihre Brotschneide-Maschine ja leider … wegen dem Umbau, tja … sehr ärgerlich.“ An Stelle der drei Pünktchen muss man sich jeweils eine so lange Pause vorstellen, wie man in einer solchen Situation eben noch für möglich hält. Offenbar litt die Backwarenverkäuferin genauso wie ich, denn nachdem sie kurz „Jasoisses“ gesagt hatte und darauf seitens des älteren Herrn erst einmal gar nichts mehr kam, wandte sie sich sichtbar erleichtert mir zu: „Und bei Ihnen?“ Wie aus der Pistole geschossen stieß ich hervor: „Nur drei Brötchen. Ich hab’s auch passend.“ Und sie steckte meine drei Brötchen schon in die Tüte, als der ältere Herr, ich ahnte es ja, seiner Entrüstung Ausdruck verlieh: „Das glaube ich jetzt nicht! Wieso sind Sie denn jetzt dran. Ich war doch noch längst nicht fertig.“ – „Und deshalb sind ja auch schon wieder dran. Ich wusste, was ich wollte und hab’s auch schon.“ Hier schwenkte ich mit der Linken die Brötchentüte und legte mit der Rechten abgezählte 81 Cent auf den Teller. Und nach einem verständnisinnigen Blickwechsel mit der Verkäuferin fügte ich hinzu: „Ich dachte, wir nutzen die Zeit, bis sie mit Ihren Überlegungen zu Rande gekommen sind.“ – „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Meinen Sie etwa, weil ich auf meine alten Tage nicht mehr ganz so schnell bin, können Sie sich hier alles erlauben? Entschuldigung, dass ich noch lebe!“ – „Aber keine Ursache. Das stört mich nur mäßig.“ Und weg war ich.

Bin ich nun hiermit zu weit gegangen? Hätte ich dem Motto folgen sollen, das da heißt: Der Klügere gibt nach? Hätte ich bis zum fernen Ende weiter mit Engelsgeduld die schikanöse Slowmotion-Darbietung dieses offenbar unter Langeweile leidenden Rentners auf der Suche nach Streit ertragen müssen? Nun weiß ich nicht, was Dr. Dr. Rainer Erlinger im SZ-Magazin auf diese Gewissensfrage antworten würde. Ich werde ihn allerdings auch nicht fragen. Ich bin nämlich nach diesem kleinen Zwischenfall völlig im Reinen mit meinem Gewissen. So einer bin ich!

Hillebille

Monday, 22. February 2010

pinwand

Ich weiß ja, dass ich gegen ein journalistisches Tabu verstoße, wenn ich aus unschuldigen, aber vielsagenden Personennamen Profit für meine polemischen Attacken schlage. Das Argument gegen solch billige Häme lautet, für seinen Namen könne ja keiner was. Prinzipiell halte ich mich auch an dieses Gebot und würde zum Beispiel niemals der Versuchung erliegen, auf Ludwig Hohl das lateinische Sprichwort nomen est omen zu münzen. Aber gelegentlich, sehr selten gestatte ich mir eine solche Namendeutung dann doch einmal und legitimiere mich hierzu mit dem Hinweis, dass die Bezüge zwischen dem Namen und der Person nicht offenkundig waren, sondern erst mit viel Phantasie und noch mehr Spürsinn ans Licht gebracht werden mussten. – „Eine Hillebille,“ so weiß die deutschsprachige Wikipedia, „ist ein Schlagbrett aus Hartholz, welches […] als primitives Signalgerät diente, wahrscheinlich aber auch als Rhythmusinstrument verwendet wurde. Sie wurde freischwebend an einem Lederriemen aufgehängt und man brachte sie durch Schlagen mit einem Klöppel zum Tönen. Auf diese Weise konnten Nachrichten von Ort zu Ort übertragen werden.“ Und ein schlauer Wanderfuchs klärt mich auf: „Bis in das 20. Jahrhundert diente die Hillebille den Holzfällern und Köhlern im Harz als Alarminstrument und zum Übermitteln von Nachrichten.“

Der studierte Politologe, Soziologe, Historiker, Philosoph und Islamwissenschaftler Sven (nicht Jens, wie die Zeitung fälschlich schreibt) Hillenkamp (*1971), ehemaliger ZEIT-Redakteur und jetzt als freier Autor in Berlin und Stockholm lebend, beschreibt in der heutigen SZ die Befindlichkeit des freien Menschen in der freien Welt und in einer Gegenwart der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine Pointe liegt auf der Hand, jede andere wäre ja auch langweilig und unverkäuflich: Nie waren wir so unfrei wie heute, unter diesen paradoxerweise doch grenzenlos freizügigen Bedingungen. (Sven Hillenkamp: Müde geworden vor der Zeit; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 43 v. 22. Februar 2009, S. 9.) Beim Lesen dieses Zweispalters auf der ersten Feuilletonseite stellte sich bei mir der typische Feuerwerk-Effekt ein: viele bunte Lichter, mancher laute Knall – und im Hintergrund ein dumpfes Donnergrollen. Mich stört an solchen Einlassungen zum Zeitgeist regelmäßig, dass sie ihren Bezugsrahmen und ihre Adressaten nicht klar benennen. Wo genau sollen wir jenen „freien Menschen“ ausmachen, über den Hillenkamp so viel zu wissen vorgibt und mitteilen zu müssen meint? In den Industrieländern der Ersten Welt? Und dort dann in der tonangebenden upper class? Vielleicht können wir es uns mit der Ortung leichter machen und die Zielgruppe eingrenzen, indem wir sie als die kleine aber feine Minderheit der SZ-Leserschaft hierzulande identifizieren, die kaum ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmacht. (Vielleicht würde der große Rest, erhielte er Kenntnis von Hillenkamps Zeitgeistdiagnosen, müde lächelnd zur tristen Tagesarbeit zurückkehren, so er denn noch eine hat, mit dem lakonischen Kommentar: „Eure Sorgen möchte ich haben.“)

Hillenkamp, der im vergangenen Jahr bereits den Tod der Liebe verkündet hat, und zwar gleich in Buchstärke, knöpft sich also jetzt die Freiheit vor, von der ja aufgewecktere Geister gerade in den letzten Dekaden immer nachdrücklicher behaupten, dass es sie nie gegeben habe. Der vielgebildete Alarmist mit seinem primitiven Signalgerät weiß nichts von diesen Bedenken und kommt mir vor wie der Rufer in der Wüste mit der Botschaft, dass der Wald brenne. Hillenkamp schreibt: „Einst war alles Prestige ans Sein geknüpft: den Adel, die edle Herkunft. Dann ans Haben, den Besitz. Jetzt ist es ans Tun gebunden: die außerordentliche Leistung, das künstlerische Werk sowie – die jüngste Entwicklung – ans Leiden.“ Die jüngste Entwicklung? Gab es da nicht vor gut zwei Jahrtausenden eine Erscheinung, bei der sich das Prestige in besonderem Maße eben ans Leiden knüpfte, an einen qualvollen Tod am Kreuz nämlich? Und die mit ihrem Vorbild durch viele Jahrhunderte eine zahllose Gefolgschaft mobilisierte, Märtyrer für den Glauben, die durch ihr schmerzvolles Opfer ebenfalls Prestige im höchsten Maße erlangten? „Alle Zusammenhänge,“ so Hillenkamp, „in die der Mensch sich begeben kann, drohen permanent mit Kündigung. Aus dem Unternehmen, dem Team, der Kunstgalerie, der Mannschaft, der Liebesbeziehung kann das Individuum jederzeit entlassen werden.“ Auch diese Risiken bestehen schon seit einer guten Weile, nämlich seit der Abschaffung der Sklaverei und der Einführung der bürgerlichen Ehe samt Scheidungsrecht. Dass die Freiheit nur um den Preis geringerer Sicherheit erhältlich ist, das dürfte doch wohl eine angestaubte Binsenwahrheit sein, die zu finden es keiner akademischen Ausbildung bedarf.

Besonders am Herzen liegt dem studierten Kritiker des Zeitalters der unendlichen Freiheit „der junge Mensch“, der in diesem Zwangsvakuum nicht weiß, was er werden soll. Er schämt sich, „in seiner Zukunft nichts zu sein. Seine Angst ist unerträglich. Er lebt auf das Nichts hin, ist bereits das Nichts. Jeden jungen Menschen trifft heute dieser Schock – und er hält ihn fest, bis es keine Zukunft mehr gibt.“ Hier bleibt offen, ob Hillenkamp, traurig genug, die individuelle Zukunft des jungen Menschen meint – oder unser aller Zukunft, gar die Zukunft des Sonnensystems? Zuzutrauen wäre es ihm, schreckt er ja auch sonst nicht vor Absolutsetzungen und Superlativen zurück.

Bevor nun auch meine Angst unerträglich wird, nämlich davor, dass solcherart „Apokalyptik aus dem Kaffeesatz“ Schule macht, wende ich mich lieber ab und danke artig, dass mich diese Kostproben hinreichend gewarnt haben vor des Autors Schmöker über den Tod der Liebe. Da lese ich lieber noch mal Günther Anders’ Notizen zur Geschichte des Fühlens, Lieben gestern. Dieses Büchlein hat nun auch bald schon wieder ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel, dürfte aber selbst beim zweiten Lesen noch auf jeder Seite mehr Erkenntnisgewinn erzeugen als ein ganzes Billyregal voller brandaktueller Zeitseelenausdeutungen via Hillebille.

Q’s Gequatsche (I)

Sunday, 21. February 2010

q1

Ich werde jetzt nicht bei Adam und Erika anfangen und erzählen, wo und wann und wie ich Q kennengelernt habe. Vielleicht später einmal. Auch eine umständliche Beschreibung seiner Äußer- und Innerlichkeiten erspare ich mir und der Leserin. Q spricht für sich, und da er dies ohne Unterlass tut, dürfte dies fürs Erste nicht nur reichen, sondern immer ein Schlag mehr als genug sein, um sich ein Bild von diesem Quatschkopf zu machen. Weil ich aber weiß, wie hungrig die Einbildungskraft des Lesers danach giert, sich das Erscheinungsbild des Helden mit ein paar starken Strichen wenigstens näherungsweise auszumalen, gebe ich hier einen der zahlreichen Schnappschüsse preis, die ich von Q im Laufe der Jahre ohne sein Wissen gemacht habe [Titelfoto v. Revierflaneur / Osnabrück 1998].

Anfang des Monats rief Q nach längerer Pause wieder einmal an. Er meldet sich grundsätzlich nicht mit Namen, sondern stets mit der hirnverbrannten Floskel: „Altes Haus! Schräger Sims? Ganz genau: Ich bin’s!“ Sprüche dieser sinnfreien Art hat er noch etliche auf Lager. Ich habe ihn mal gefragt, woher er die eigentlich hat. Das seien volkstümlich Redensarten, die seine Tante häufig im Munde geführt habe. Ich mag das nicht so recht glauben, denn ich habe dergleichen nie jemals anderswoher als aus Q’s Munde vernommen. Und auch gelegentliche Googelei führte zu nichts. Eher schon traue ich besagter Tante zu, dass sie sich den Nonsense aus den Rippen geschnitten und ihrem Neffen als altehrwürdige Sprichwortfolklore verkauft hat. Diese Tante muss es nämlich sehr im Unterschied zu Q fausdick nicht nur hinter den Ohren gehabt haben, nach allem, was ich mir aus Q’s Berichten über sie und über seine „irreguläre Kindheit“ (Q’s Worte) mit viel Phantasie und Spucke zusammenleimen konnte. Er habe, so Q zur Abwechslung wieder einmal, einen „mittelschweren Verdacht“.

Wenn er so anfängt, mache ich mich darauf gefasst, entweder mit einer neuen Ausgeburt seiner Paranoia oder mit dem aktuellen Auswuchs seiner Hypochondrie Bekanntschaft schließen zu müssen. Ich ließ mich also mit einem kaum unterdrückten Seufzer, die Sprechmuschel des Hörers immerhin leicht vom Munde abgewandt, auf meine preußischblaue Chaiselongue sinken und fragte zaghaft: „Und der wäre?“ – „Einiges deutet darauf hin, dass dem Eskalatismus allmählich die Puste wegbleibt.“ So Q. „Tatsächlich?“ Ich sprang wie elektrisiert von der Sitzliege. „Wäre das nicht ein Widerspruch in sich?“

Ich müsste nun, damit meine Erregung verständlich wird, weit ausholen und diese Privatideologie, die sich Q seit frühester Jugend zusammengezimmert hat, in all ihren Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, aber auch in den methodischen Vorgehensweisen ihrer Selbstvergewisserung vorstellen. (Q spricht, was letztere betrifft – gern von „szenischen Versuchsanordungen“.) Hier muss der Hinweise genügen, dass Q allen Fortschritt in der menschlichen Geschichte als zwangsläufige exponentielle Entwicklung interpretiert, ganz gleich, ob er die Zunahme der Weltbevölkerung, die Abnahme der fossilen Brennstoffe, die Kapitalkonzentration, den Schwund der Tier- und Pflanzenarten, das Aussterben der Sprachen, das Verkümmern der kulturellen Vielfalt, die Abstumpfung der individuellen Sensibilität oder die Erosion der Kreativität durch passiven Konsumismus in den Blick nimmt. Wohlgemerkt, solche Begriffe würde Q niemals verwenden, sie sind ihm vermutlich größtenteils sogar unverständlich. Q sagt sattdessen etwa: „Guck dir doch bloß an, was an Filmen gemacht wird. Immer schärferer Sex und immer härtere Gewalt für die Männer, immer seichterer Gefühlskitsch und immer grellerer Skandalklamauk für die Frauen. Stimmt nicht total, aber zu neunzig Prozent. Der Trend wird vielleicht jetzt erst deutlich. Aber es gab sie schon immer, die alte Sehnsucht des Tieres, das vor ein paar tausend Jahren in uns eingesperrt wurde und endlich wieder freigelassen werden will. Je länger es vom Ausbruch träumt, desto gefährlicher wird es.“

Ich gebe zu, dass mich anfangs Q’s Unkereien ziemlich beunruhigt haben, so grobschlächtig sein Denken auch sein mochte. Das mag auch an dem Tonfall liegen, in dem er seine Gedankengänge mitteilt und in dem immer etwas mitklingt, das ich einmal anderswo sein „Drohvibrato“ genannt habe. (Inzwischen bin ich daran gewöhnt und bleibe selbst dann verhältnismäßig gelassen, wenn Q mir von den grenzwertigeren seiner szenischen Versuchsanordungen Bericht erstattet.) Heute aber war ich wirklich nahezu fassungslos, denn die Ankündigung eines Bruchs in dem erklärten Urprinzip ewiger Eskalation hatte es noch nie gegeben, sie schien mir zudem auch deshalb sensationell, weil Q sie in einem absolut leidenschaftslosen Tonfall vortrug. Q spürte wohl meine Irritation und wiederholte seine Vermutung noch einmal in anderen Worten: „Wenn ich nicht irre, scheint der Eskalatismus neuerdings zu schwächeln.“

[Wird fortgesetzt.]

Voll Kwango

Thursday, 18. February 2010

hyänen

Im Zoo von Münster lebt ein Gorilla namens N’Kwango (* 1996). So stark er ist, hat er doch ein weiches Herz. Wenn Fatima (* 1973) traurig ist, schmilzt N’Kwangos Herz hinter dem hammerharten Brustkasten und er versucht, sie zu trösten. Das sieht dann so aus. Warum Fatima traurig ist, wissen wir nicht, können da nur mutmaßen. Vielleicht, weil sie den Tod ihrer Schwester Gana (1998-2010) nicht verkraftet hat?

Wenn man in Essen ungewöhnliche Begegnungen mit Tieren haben will, geht man ins Folkwang-Museum. Die Zeiten, als es im Essener Grugapark noch einen Affenfelsen, ein Seehundbecken und ein imposantes Aquarium samt Terrarium gab, sind längst Geschichte. Noch nicht ganz so lange zurück liegt aber die Folkwang-Ausstellung Das fotografierte Tier. Und unvergessen ist mein Eindruck von der privaten Führung, die mein alter Freund Jürgen Lechtreck als Kurator dieses modernen „Bestariums im Rahmen und hinter Glas“ für mich und meinen ältesten Sohn im Dezember 2005 veranstaltet hat.

Heute habe ich mir den gerade eröffneten Neubau des Museum Folkwang [siehe hierzu die Kommentare] angeschaut. Ein großformatiges, zwanzigseitiges Heft Eröffnung des Neubaus wird am Empfang kostenlos ausgegeben. Darin und in allen anderen Verlautbarungen, die mir bisher zu Gesicht gekommen sind, ist die adjektivische Dopplung „hell und licht“ besonders beliebt zur Beschreibung der Qualitäten dieses Bauwerks von David Chipperfield. Und was sieht man an den teuren Wänden, in den edlen Hallen? Die Zusammenstellung von Werkgruppen und Installationen der Gegenwartskunst schien mir etwas willkürlich. Immerhin war ich froh, Gerhard Richters Wolkenbild Nr. 265 endlich einmal wiederzusehen. Es hängt jetzt in Augenhöhe des Betrachters, somit viel tiefer als früher, wo es in dem großen Saal mit dem Calder-Mobile unerreichbar entrückt schien – wie Wolken ja üblicherweise auch zu sein pflegen. Hier nun kommt es mir kleiner vor als in meiner Erinnerung. Soll das so bleiben? Bitte nicht!

Eine angenehme Überraschung boten hingegen die drei kleinen Ausstellungen Raumeroberungen (mit Plakaten von Günther Kieser, Holger Matthies und Gunter Rambow), Wünsche und Erwerbungen (mit zeitgenössischen Zeichnungen) und insbesondere die imponierende Zusammenstellung von Porträts unter dem Titel Fotografie und Individuum. Wieder einmal konnte man sich überzeugen, welch großartige Sammlung Ute Eskildsen hier in den vergangen drei Jahrzehnten zusammengetragen hat. Ich wäre sofort bereit gewesen, einen Katalog mit den Fotos dieser Teilausstellung zu erwerben, musste aber mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, dass es einen solchen nicht gibt. – Somit ist ein Besuch dieser Ausstellung (bis zum 4. April) nicht nur empfehlenswert, sondern dringend geboten: Go to Folkwang! (Eintritt 5 Euro.)

Auch heute entdeckte ich übrigens wieder ungewöhnliche Tierfotos, diesmal im Rahmen verschiedener Serien mit Schausteller-Porträts. Unvergleichlich schienen mir die Farbfotos mit nigerianischen Hyänenführern von Pieter Hugo [Titelbild aus seinem Bildband The Hyena & Other Men © Pestel Verlag]. Hatte ich nicht eine dieser Hyänen auch im Eröffnungsprospekt gesehen? Ich blätterte und suchte und kam zu dem Ergebnis, dass ich mich da wohl von ganz oberflächlichen Ähnlichkeiten hatte täuschen lassen. Übrigens sind Hyänen ja im Allgemeinen viel harmloser, als ihr schlechter Ruf uns glauben machen will.

Schweiger & Schwätzer

Tuesday, 16. February 2010

rothbristol

Neben der sechsbändigen Joseph-Roth-Werkausgabe, der Ausgabe seiner Briefe von Hermann Kesten, den Roth-Biographien von David Bronsen und Wilhelm von Sternberg und dem prachtvollen Bildband von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos (Joseph Roth. Leben und Wek in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994), den ich immer wieder von vorn bis hinten durchblättern muss, allein schon deshalb, weil ein Namenregister fehlt, müssen in diesen Tagen einer neu erwachten Roth-Begeisterung auch die Erinnerungen seines Freundes Soma Morgenstern (1890-1976) stets zur Hand sein, die mich wie schon bei der ersten Lektüre vor neun Jahren auch jetzt wieder mit mancher überaus prägnanten Anekdote beglücken (Joseph Roths Flucht und Ende. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998).

Soeben stolpere ich dort über die Porträts zweier sehr gegensätzlicher Männer der Feder, die nebeneinander zu halten gerade deshalb reizvoll sein könnte. Mit dem ersten macht uns Morgenstern in der Redaktion der Frankfurter Zeitung bekannt, wo er 1927 als Nachfolger von Heinrich Hauser einen festen Bureau-Posten bezogen hatte. Seine Nachbarn waren dort der berühmte Siegfried Kracauer – und eben unser erster Charakterkopf, der heute vergessene Rudolf Geck (1868-1936), welcher intern nur „der alte Geck“ genannt wurde und von 1907 bis 1924 das Amt des Feuilletonchefs bekleidete. In seiner Einarbeitungszeit spürt Morgenstern, dass ihm Geck, der das Geschäft wie im Schlaf beherrscht, bei der Erledigung der täglichen Post einiges an Routine voraus hat. Während sich der Neuling noch mit der Lektüre herumplagt, steht „der alte Geck“ auf ein Pläuschchen vor seinem Schreibtisch und lenkt ihn von der Arbeit ab. Morgenstern leidet still, denn es steht ihm nicht zu, seinen Chef aus dem Büro zu weisen. Der ergreift schließlich das Wort zu folgender Grundsatzerklärung: „Lieber Herr Dr. Morgenstern, ich sehe mit Freuden, wie sie von Woche zu Woche schneller mit dem Posteinlauf fertig werden, obwohl ich ihren noch schnelleren Fortschritt, so gut ich es zuwege bringen konnte, verhindert habe. Aber ich bin, wie sie vielleicht schon gemerkt haben, ein unentwegter Schwätzer. Das war ich schon in meinen jüngsten Jahren. Ich habe auch dem Umstand, der stadtbekannt ist, schon Rechnung getragen. Als alter Schwätzer habe ich dafür gesorgt, daß alle Welt das erfahre. Ich habe eine Grabinschrift für mich entworfen und in sauberer Handschrift aufgeschrieben: Hier ruht Geck, | Ein Dichter. | Geh weg, | Sonst spricht er.“ (Morgenstern, a. a. O., S. 90 f.)

Während Joseph Roth den „alten Geck“ früher kennengelernt hatte als sein Freund, machte er die Bekanntschaft eines geradezu gegensätzlichen Unikums jener Zeit, aber eines ebenfalls heute nahezu Verschollenen, erst durch Morgensterns Vermittlung: die des hebräischen Lyrikers Abraham Sonne (1883-1950). In seinen Erinnerungen spannt Soma Morgenstern den Leser auf die Folter, wenn er den Namen zunächst gesprächsweise im Herbst 1937 in Wien aufscheinen lässt. Im dortigen Hotel Bristol [Titelbild] erörtert er mit Joseph Roth und Stefan Zweig die Appeasement-Politik von Arthur Neville Chamberlain. Morgenstern beruft sich auf einen Freund in Wien, der ein paar Jahre als Sekretär von Dr. Chaim Weizmann in London gelebt habe und viel von der Großpolitik Englands verstehe. Dieser Dr. Sonne habe gesagt, Chamberlain werde Europa Stück um Stück an Hitler ausliefern (ebd., S. 144). Bei einer späteren Gelegenheit streiten Zweig, Roth und Morgenstern über die Frage, ob England stillhalten werde, sollte Hitler den Anschluss Österreichs wagen. Dr. Sonne, der mittlerweile am Jüdischen Pädagogischen Institut lehre, habe dies verneint, so Morgenstern. „,Wer ist dieser Sonne, von dem ihr schon wieder redet?‘ fragte Roth. – ,Er war einmal ein hebräischer Dichter, hat aber das Dichten schon im Weltkrieg aufgegeben. Er stammt aus Przemyśl, Galizien.‘“ (Ebd., S. 162.) Auch Morgensterns Buch verzichtet auf ein Namenregister, weshalb man etwas stöbern, blättern und suchen muss, bis man endlich mit Dr. Abraham Sonne persönliche Bekanntschaft schließen darf. Dort erzählt er seinen Besuchern, dem nun schon gut eingeführten Trio, eine Geschichte zu der Frage, ob es außer Stefan Zweig auf der Welt noch einen zweiten Menschen gebe, der seinen Pazifismus so weit treibe, sich zu weigern ein Gewehr auch nur zu berühren. Man lese diese Geschichte selbst bei Morgenstern nach auf S. 182 f., sie hat mit dem eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags nichts zu tun.

Dieser „eigentliche Gegenstand“ könnte als das Verhältnis von extremer Gesprächigkeit und extremer Verschwiegenheit identifiziert werden. Vielleicht sind dies ja nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Irre ich mich, oder erwirbt man nicht den Ruf eines Weisen auf sowohl kürzerem als auch bequemerem Wege, wenn man möglichst wenig von sich gibt? Und zieht man sich nicht als Vielreder und Vielschreiber sehr leicht den Vorwurf zu, ein Großmaul, eine Plaudertasche, ein Quatschkopf zu sein? Dies schien mir immer schon eine große Ungerechtigkeit und zudem ein albernes Missverständnis, wie übrigens auch das vielleicht blödeste aller Sprichworte: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich bin im Übrigen ebenso weit davon entfernt, mich mit Sonne vergleichen zu wollen, wie mit der Schwatzhaftigkeit eines Geck konkurrieren zu können. Wenn ich etwas mit ihnen teile, dann das Schicksal, nur ganz kurz und blass aus meinem Inkognito aufzutauchen – um schon wieder so gut wie weg zu sein.

Dr. Abraham Sonne, den man bei Wikipedia unter seinem hebräischen Namen Avraham Ben Yitzhak findet, ist einem größeren Leserkreis durch jenes Sonne überschriebene Kapitel im dritten Band von Elias Canettis großer Autobiographie, Das Augenspiel, bekannt geworden. (Elias Canetti: Das autobiographische Werk. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, o. J. [2001], S. 801-818.) Die wenigen Gedichte aus den Jahren 1903 bis 1910, die von Sonne auf uns gekommen sind, hat Wayne Myers aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt. Er nennt Avraham Ben Yitzhak “the great poet of silence”. Und Naomi Dison Kaplan kann in ihrem Essay The Silence of Avraham Ben Yitzhak sein literarisches Gesamtwerk der Nachkriegszeit in einem einzigen Satz abhandeln: “From about the First World War he maintained a self-imposed literary silence and published nothing except a few anonymous articles in the Viennese Jewish press, and an essay on the Yiddish writer, Mendele Mocher Sefarim, which appeared in Der Jude.

Roth im Revier (II)

Sunday, 14. February 2010

kaiserhof

In der bahnbrechenden Roth-Biographie des Amerikaners David Bronsen heißt es über die erste Revier-Stippvisite von Joseph Roth: „Im Frühjahr 1926, auf der Rückreise von einer Redaktionskonferenz in Frankfurt, machte Roth einen Abstecher nach dem Ruhrgebiet, ehe er seine Reise nach Paris fortsetzte. Die Reportagen, die daraus entstanden, stehen in krassem Gegensatz zu denen über Südfrankreich, dessen heilsamer Einfluß ihn nicht losließ. […] Das Temperament des Berichterstatters nahm vieles mit Unwillen auf. ,Dunst, Rauch, Staub‘ stoßen ihn ab. Nachdem er den organisch gewachsenen französischen Midi gepriesen hat, klagt er über die ,Enge‘ und ,die Kälte‘ des Ruhrgebietes, die ihm zur Qual werden. Er reibt sich an der Grobheit des Arbeiterlebens und der primitiven Anspruchslosigkeit der sozialen und kulturellen Einrichtungen. […] In Frankreich feierte er den Sieg der Natur. Hier schildert er den trostlosen Sieg über die Natur.“ (David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974, S. 277 f.) In der Frankfurter Zeitung, bei der Roth damals unter Vertrag stand, erscheinen die Artikel Tübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet und Der Rauch verbindet Städte (am 9. und 18. März 1926; in: Werke 2, S. 544-549) sowie, mit etwas Verzögerung, weshalb man es in der streng chronologisch geordneten Werkausgabe leicht übersieht, ein so luzides wie zynisches Resümee seines Aufenthaltes an der Ruhr unter dem Titel Privatleben des Arbeiters (am 10. April 1926; ebd., S. 552-556). Diesem trostlosen Fazit hat die Zeitung eine „redaktionelle Bemerkung“ vorangestellt, die Bronsen zitiert: „Wir bringen diese Eindrücke von einer Reise durch das Ruhrgebiet, Eindrücke aus dem Alltag des Arbeiters, die uns um so wertvoller erscheinen, als sie unabhängig von jeder programmatischen Forderung entstanden sind. Es versteht sich von selber, daß mit den folgenden Betrachtungen prinzipielle Fragen nur aufgeworfen, aber nicht grundsätzlich beantwortet sein sollen. Es sind Impressionen, gesehen durch ein Temperament.“ (Bronsen, a. a. O., S. 278.)

Bei seinem Aufenthalt in Essen logierte Joseph Roth im Hotel Kaiserhof [Titelbild], wie wir dem Absendevermerk eines auf den 11. Februar 1926 datierten Briefes an Bernhard von Brentano entnehmen können. Darin klagt Roth: „Ich reise jetzt einige Wochen herum. Aber ohne Geld. Es ist furchtbar, so zu fahren, ich bin verzweifelt, kann meine kostspieligen Bedürfnisse nicht aufgeben und die Zeitung spart und spart erbärmlich. Es macht mir keine Freude mehr, man hat mir nicht einmal einen Vorschuß für März gegeben, ich habe keinen Vertrag, ich bin ganz trostlos.“ (Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hrsg. u. eingel. v. Hermann Kesten. Köln / Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1970, S. 78.) Das Verhältnis zu seinem langjährigen Auftraggeber, der Frankfurter Zeitung, ist schon seit einer Weile gespannt und wird es bleiben. Im Sommer 1930 löst Roth das Verhältnis und schließt einen Vertrag mit den Münchner Neuesten Nachrichten. Auch in anderen Zeitungen erscheinen nun vermehrt seine Feuilletons.

Ab Anfang Mai 1931 bringt die Kölnische Zeitung eine längere Folge von Reiseimpressionen, aus Magdeburg, Leipzig und schließlich erneut aus dem Ruhrgebiet, beginnend in Duisburg mit Der Hafen von Ruhrort, In andern Kneipen und Gustav (24. Mai und 7. Juni; in: Werke 3, S. 320-329). Darauf folgen die Ankunft in Essen, Abend in Essen, Die Bar erster und zweiter Klasse, Die andere Bar, Der Morgen aber, Ein Ingenieur mit Namen K. und Ein Arbeiter mit Namen M. (7., 14. u. 21. Juni 1926; ebd., S. 330-346).

Wilhelm von Sternburg hat in seiner jüngst erschienen Biographie Zweifel angemeldet, ob Joseph Roth in der ersten Jahreshälfte 1931 tatsächlich eine zweite Reise ins Ruhrgebiet gemacht hat: „Am 3. Mai 1931 erscheint in der Kölnischen Zeitung der erste von 15 Artikeln, in denen er von einer Reise berichtet, die ihn nach Magdeburg, Leipzig und in das Ruhrgebiet geführt haben soll, und in denen er feuilletonistisch über Gustav den Kneipenwirt oder einen Ausflug am Sonntag plaudert. Die Daten der überlieferten Briefe geben keinerlei Ansatzpunkte, dass Roth diese Reise gemacht hat. Vielleicht schrieb er sie alle im Pariser Hotelzimmer.“ (Wilhelm von Sternberg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 393.) Ich habe eine andere Vermutung. Am 7. April 1926 hatte der Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, Benno Reifenberg (1892-1970), an Joseph Roth in Paris geschrieben: „Ich habe Ihnen für vielerlei zu danken […], für Ihre weitere Arbeit aus dem Ruhrgebiet Persönliches Leben des Arbeiters [sic] und jetzt für Ihren Bericht von den Schlachtfeldern […].“ (Gemeint ist Roths Bericht St. Quentin, Perronne, die Maisonette, erschienen in der Frankfurter Zeitung v. 2. Mai 1926.) Nach diesen einleitenden Komplimenten kommt Reifenberg bald zum eigentlichen Anlass seines Briefes: „Lieber Herr Roth, ich muß wohl nicht sagen, daß Ihr Ausscheiden aus unserer Zeitung für mich den schwersten Schlag bedeutet, den ich in diesen Anfangsjahren erleben könnte. Ich habe einfach auf Sie gerechnet. Ich brauche die Mitarbeit von Menschen meiner Generation, mit denen ich mich ohne weiteres verstehe, mit denen ich Ideen teile, die uns ohne weiteres selbstverständlich sind. Es wäre nach meiner Überzeugung eine verlorene Schlacht, wenn Ihr Name plötzlich in Berliner Blättern auftauchen müßte. Ich habe das deutlich dem Verlag mitgeteilt und nun bitte ich mir zu glauben, daß der Verlag nicht sehr viel anders als ich denkt und daß ihm sehr darum zu tun ist, mit Ihnen ein gutes Einvernehmen zu pflegen.“ (Briefe 1911-1939, a. a. O., S. 83 f.) Dank dieser Intervention konnte ein vollkommener Bruch mit der Frankfurter Zeitung vorläufig noch verhindert werden. Es kann aber gut sein, dass durch diese vorübergehende Verstimmung die Veröffentlichung weiterer, bereits vorbereiteter oder gar ausformulierter Ruhrgebiets-Artikel ins Stocken geriet und dann ganz unterblieb. Schließlich hatte ja ihr Verfasser nicht einmal einen Vertrag, wie er im oben zitierten Brief aus dem Essener Kaiserhof beklagte. Fünf Jahre später kam der viel beschäftigte Journalist dann auf die Idee, diese liegengebliebenen Blätter der Kölnischen Zeitung als brandneu zu verkaufen. Tatsächlich enthalten alle zehn Artikel keinen einzigen Hinweis, der eine eindeutige Datierung zuließe. Klang nicht übrigens auch die oben zitierte „redaktionelle Vorbemerkung“ von 1926 eher nach der Ankündigung einer längeren Folge von Artikeln? Dass daraufhin nur drei Texte erschienen, musste die Erwartungen enttäuschen, die durch die Ankündigung geweckt worden waren.

Ich vermute, dass die insgesamt 13 Revier-Feuilletons von Joseph Roth zusammengehören, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Sollten gründlichere Recherchen zu diesem Gegenstand und in diese Richtung meine Annahme bestätigen, dann wäre es vorstellbar und wünschenswert, diese Kleine Reise ins Revier von Joseph Roth aus dem Frühjahr 1926 als kommentierten Separatdruck neu herauszubringen.

Texttraum (I)

Friday, 12. February 2010

trauma

Seit ich die produktive Zeit meiner Tage ganz überwiegend mit dem Verfassen von Texten verbringe, seit knapp drei Jahren also hat sich bei mir ein neuer Traumtyp eingestellt.

Diese Textträume, wie ich sie nennen will, suchen mich in unregelmäßigen Abständen heim, und zwar immer in den Morgenstunden an der Grenze zum Erwachen. Ich bin mir sogar bewusst, dass ich träume, beschließe aber, den Traum noch nicht durch vollständiges Hinüberwechseln in den Wachzustand zu beenden, weil ich gern wissen möchte, wie er ausgeht, wenn ich ihn sich selbst überlasse. Darin verbirgt sich allerdings ein Widerspruch, denn gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass ich selbst es bin, oder besser: dass es etwas in mir selbst ist, dass den Traum in allen Einzelheiten verfertigt.

Dies mag schon befremdlich genug klingen. Was mich aber wirklich immer wieder erstaunt und anfangs sogar beunruhigt hat, ist etwas anderes. In diesen Träumen spielt die Sprache – die ausformulierte Sprache in wörtlicher Rede, in gelesenen Texten, aus dem Radio oder in Büchern – die entscheidende Rolle. Und die sprachlichen Äußerungen, mit denen ich in diesen Textträumen konfrontiert bin, richtiger: mit denen ich mich selbst konfrontiere, ohne mir einer schöpferischen Leistung bewusst zu werden, sind so wohlgesetzt, teils syntaktisch erstaunlich kompliziert und doch fehlerfrei gebaut, dass ich den Zweifel nicht ganz abweisen kann, ob sie wirklich von mir allein stammen. Hinzu kommt, dass ich, ihr Träumer, von ihrem eigentlichen Inhalt oft genug selbst überrascht bin.

Der jüngste Texttraum liegt unmittelbar zurück und ich habe ihn noch in sehr frischer Erinnerung. Als gutes Beispiel will ich ihn hier möglichst genau wiedergeben. Ich befinde mich mit einem etwa 30jährigen, blonden, gut aussehenden Mann im Halbdunkel eines kleinen Häuschens, von dem ich annehme, dass es auf dem Lande gelegen ist. Ich erinnere mich, dass er irgendwann den geografischen Namen Västerbotten erwähnt, weshalb ich ihn für einen Skandinavier halte und vermute, dass wir uns in Schweden befinden. Es ist Winter, durch ein beschlagenes Fenster hinter dem Mann ist eine Schneelandschaft zu erahnen. Ich habe das Gefühl, dass noch weitere Personen sich mit uns in diesem schwach beleuchteten, aber gemütlichen Zimmer befinden, die eher zu mir gehören. Die Art, wie der Mann spricht, lässt darauf schließen, dass er uns auf eine Frage antwortet. Vielleicht sind wir Reporter, die ihn interviewen? Vielleicht sind wir aber auch neue Freunde, denen er bedeutsame Episoden aus seinem Leben erzählt, damit wir ihn besser kennenlernen. Der Mann spricht in kurzen, klaren Sätzen, nicht laut, nicht leise, nicht tonlos, aber auch nicht dramatisierend. Vielleicht könnte man seinen Tonfall am ehesten als beherrscht bezeichnen, und zwar durchaus in dem Sinne, dass er seine Stimme mit Macht beherrschen muss, weil sie sonst ausbrechen könnte. Von Anfang an habe ich, während ich ihm zuhöre, das Gefühl, dass das, was er uns erzählt, auf etwas Ungutes hinauslaufen wird. Und ich bin ganz sicher, dass ich ihn unter keinen Umständen unterbrechen darf. Dies erzeugt in mir ein deutliches, aber nicht unerträgliches Gefühl von Ausgeliefertsein. Vermutlich ist es die Neugier, die ich gleichzeitig empfinde, die mir die Lage des stummen Zuhörers dennoch halbwegs erträglich macht. Zugleich weiß ich ja, siehe oben, dass ich dies nur träume. „Nein,“ sagt der blonde Mann, „ich bin nicht gern in diesem Haus. Es ist nicht etwa deshalb, weil an dem Haus selbst etwas zu beanstanden wäre. Es ist günstig gelegen. Es hat für einen bescheidenen Menschen wie mich genug Komfort. Und dennoch kehre ich nur hierher zurück, wenn es nicht vermeidbar ist. Die Heizung hat ihre Mucken, gewiss. Auch das Regenrohr verstopft im Herbst, und das Wasser pläddert anschließend gegen die Fenster, was ganz schön an die Nerven gehen kann. Aber damit lässt sich ja schließlich leben. Es hat einen anderen Grund, warum ich dieses Haus meiner Kindheit meide. Es sind die Erinnerungen, die dann wach werden. Sie stecken in jedem Winkel, kriechen aus jeder Ritze. Jedes Astloch raunt mir diese alten Geschichten ins Ohr.“ (Ich muss hier kurz unterbrechen, um meine Begeisterung für dieses Sprachbild zum Ausdruck zu bringen. Darauf wäre ich im Wachzustand kaum gekommen. Übrigens fiel im Traum an dieser Stelle seiner Ausführungen mein Blick tatsächlich auf ein Astloch in der Tischplatte vor mir, zwischen uns, und es schien mir, dass es die Form und Färbung eines zum O geformten Mundes hatte.) „Meine Mutter arbeitete in der Stadt. Und im Winter waren mein Vater und mein Onkel daheim und hatten nichts zu tun. Deswegen ertrage ich es nur mit Mühe und nur für kurze Zeit, mich in diesem Haus aufzuhalten. Ich bereue jetzt wieder, mich auf den Vorschlag eingelassen zu haben, hierher zu kommen. Es ist ja so, dass mein Onkel mit mir hier Dinge getan hat, die mir nicht gefielen. Und es ist so, dass diese Dinge mir immer unerträglicher wurden. Ich ertrug es schließlich nicht mehr und bin, obwohl ich mich so sehr schämte, zu meinem Vater gegangen. Aber mein Vater hat mich nicht vor seinem älteren Bruder in Schutz genommen. Das ist der Grund. Das ist alles. – Gehen wir!“

Ich beschließe, dass der Texttraum damit beendet ist, knipse ihn geradezu aus wie einen Film im Fernsehen und bin augenblicklich hellwach. Ich erzähle ihn meiner Gefährtin, damit ich ihn besser im Kopf behalte. Zweierlei fiel mir zu diesem speziellen Fall spontan ein, was als Quelle oder Material gedient haben könnte. Einmal die Autobiographie von Per Olof Enquist, die ich im Juni vorigen Jahres gelesen habe. Enquist stammt aus Västerbotton und hat in Ein anderes Leben ausführlich über seine problematische Kindheit gesprochen und über das Verhältnis zu seinem früh verstorbenen Vater. (Dass mein sehr starker Eindruck von diesem Buch hier keinen Wiederhall gefunden hat, ist einzig mit meiner umzugsbedingten Zwangspause beim Bloggen zu erklären.) Zweitens der Film Das Fest des Dänen Thomas Vinterberg, den ich 2005 gesehen habe und in dem es um Kindesmissbrauch durch den Vater geht. – Ich verspüre ansonsten nicht das Bedürfnis, meine Textträume zu interpretieren, zu deuten. Das erschiene mir fast wie die Beschädigung von etwas sehr Zartem, Verletzlichem, als wollte man einer Blüte die einzelnen Blätter ausrupfen.

Roth im Revier (I)

Thursday, 11. February 2010

burgplatzessen

Gerade erweist sich wieder einmal, dass das Ruhrgebiet bei aller blühenden Pracht diverser bildender und darstellender Künste literarisch nahezu nichts zu bieten hat. Im über 200 Seiten starken Programmheft für das erste Halbjahr der Kulturhauptstadt Europas entfallen auf die Sparte „Sprache erfahren“ gerade einmal sechs, dazu noch mühsam gefüllte Seiten (vgl. Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Buch zwei. Essen: RUHR.2010 GmbH, 2010, S. 116-121). Dieses unfreiwillige Selbstbekenntnis zum sekundären Analphabetismus einer Fünfmillionen-Metropole werde ich vielleicht gelegentlich, wenn ich in soliderer Stimmung bin, genauer unter die Lupe nehmen.

Hätte man ehrlich sein wollen, dann wäre noch am ehesten ein Programmschwerpunkt mit jenen schreibenden Revierflüchtlingen zu bestreiten gewesen, die bis auf ihre Abstammung und damit immerhin ihre früheste Prägung kaum etwas mit der Region verbindet, also mit Nachkriegsautoren wie Helmut Salzinger, Nicolas Born, Brigitte Kronauer oder Ralf Rothmann. Aber mit welchen Inhalten hätte man eine solche Revue der Fortgegangenen füllen können? Mit der Ausnahme von Rothmanns Frühwerk hat diese Herkunft, mit der man nirgends Eindruck schinden kann, kaum einen Niederschlag bei ihnen gefunden. Und auch über die Gründe ihres Weggehens haben sie, soweit ich weiß, nichts Nennenswertes zu Papier gebracht, vermutlich einfach deshalb, weil es jedem Außenstehenden unmittelbar verständlich ist und keiner besonderen Erklärung bedarf, wenn man als kulturell interessierter, weltoffener, sensibler und erfahrungshungriger junger Schriftsteller aus dieser Gegend nur fliehen kann. Und den Zurückgebliebenen muss man es nicht erklären, weil die es gar nicht merken, nicht wissen wollen und nicht verstehen würden. Niemand hat ja die Fortgegangenen je vermisst.

Wenn man sich die wenigen Sammlungen literarischer Zeugnisse aus dem bzw. über das Ruhrgebiet anschaut, dann fällt auf, dass es sich ganz überwiegend um nüchterne Berichte von eilig Durchreisenden handelt, so etwa in einer Textsammlung über meine Heimatstadt, Essen in alten und neuen Reisebeschreibungen (ausgew. v. Klaus Rosing. Düsseldorf: Droste, 1989). Indirekt spiegelt sich dies auch im Titel der von Dirk Hallenberger liebevoll zusammengetragenen Reportagesammlung über das Ruhrgebiet wider: Heimspiele und Stippvisiten. Schaut man sich die Auswahl genauer an, dann bestätigt sich schnell die Vermutung, dass die „Stippvisiten“ deutlich in der Überzahl sind, während mit „Heimspiele“ wohl bloß der lokalen Affinität zum Fußball eine kleine Reverenz erwiesen werden soll. Gerade aus dieser Beobachtung hätte ja ein in Sachen Literatur etwas ambitionierteres Team im Kulturhauptstadt-Büro den ispirierenden Funken schlagen können. Schließlich sind die touristischen Heerscharen, die das Großevent Kulturhauptstadt an die Ruhr locken soll, ebenfalls nur auf Stippvisite.

Und was hatten sie so zu berichtet, die großen Durchreisenden der 1920er-Jahre? – Alfred Kerr: „Die Einwohner sind nicht von überflüssiger Heiterkeit. Machen Wege nicht zum Spaß – sondern anscheinend immer zu irgendeinem sachlichen Ziel. (So sieht es für den hereinschneienden Gast aus.)“ (Es sei wie es wolle, es war doch so schön! Berlin: S. Fischer, 1928; hier zit. nach Rosing, a. a. O., S. 126.) – Egon Erwin Kisch: „Bei Tag sieht man Menschen, die von der Macht des Gußstahls zertrümmert und vom Atem der Kohle vergiftet sind.“ (Der rasende Reporter. Berlin: E. Reiß, 1925; hier zit. nach Hallenberger, a. a. O., S. 21.) – Und deutlicher als alle anderen Joseph Roth: „Es ist […] nicht anzunehmen, daß schon viele Vergnügungsreisende den Essener Bahnhof verlassen haben, um ihre Laune zu heben oder ihre Ferien zu würzen.“ (Ankunft in Essen; in: Kölnische Zeitung v. 7. Juni 1931; hier zit. nach Werke 3: Das journalistische Werk 1929-1939. Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1991, S. 330.)

Und damit komme ich zur Klimax meiner heutigen Reviermelancholie – und zum mich selbst überraschenden Umschlag aus der Tristesse in die Euphorie. So viele Jahre habe ich nach einem Epiker gesucht, der dieser nichtigen Landschaft, dieser ungestalten Stadtwüste, dieser profillosen Gemeinschaft und dieser unkultivierten Ödnis des Ruhrgebiets, wie es im vorigen Jahrhundert war, sprachlich gerecht geworden wäre. Noch vor ein paar Tagen hätte ich im Brustton der Überzeugung behauptet, dass es diesen Schreiber nicht gab. Jetzt bin ich eines Besseren belehrt. Joseph Roth hat, wenn ich es richtig übersehe, das Revier zweimal besucht, Anfang 1926 und fünf Jahre später, im Frühling 1931. Seine Eindrücke von den beiden „Stippvisiten“ hat er in zehn Feuilleton-Artikeln für die Frankfurter Zeitung bzw. die Kölnische Zeitung festgehalten (vgl. Joseph Roth: Werke 2, S. 544-549 u. Werke 3, S. 320-346). Und diese auf den ersten Blick unscheinbaren und weitgehend unbekannten „Reiseimpressionen“ – welch harmloses Wort! – sind nun wahrlich auf den zweiten das Kraftvollste und Ätzendste, das Bohrendste und Bitterste, das Hell- und Weitsichtigste, was ich je über meine Heimat gelesen habe. Von diesem freudigen Schreck muss ich mich erst einmal erholen. Ich hätte eine szenische Lesung aus diesen Texten arrangieren können, die an allen 365 Tagen des Kulturhauptstadtjahres an einem anderen Revierort zur Aufführung hätte kommen können. Das wäre was gewesen. Aber, ach! Zu spät …

Überlebt

Monday, 08. February 2010

marcal

Am 30. Januar las ich zur Feier des 50. Geburtstags einer guten Freundin in Düsseldorf-Flingern Gedichte von Johannes Bobrowski (1917-1965) und kurze Prosastücke von Hermann Harry Schmitz (1880-1913), Edgar Allan Poe (1809-1849) und Joseph Roth (1894-1939). Erst nachdem ich das Programm zusammengestellt hatte, wurde mir bewusst, was allen vier Autoren gemeinsam ist: Keiner von ihnen hat das Alter der Jubilarin erreicht.

In den Kalendern und natürlich auch im Internet, so zum Beispiel auf der Startseite von Wikipedia, werden wir alltäglich daran erinnert, wer heute vor wieviel Jahren geboren wurde oder gestorben ist. Und wenn ich wissen will, welche Geburts- und Sterbefälle prominenter Menschen auf meinen Geburtstag fallen, ist die Antwort auf diese Frage auch nur einen Mausklick weit entfernt.

Dabei wäre es doch viel interessanter, beim Frühstück daran erinnert zu werden, welche Heldinnen und Helden der Vergangenheit ich heute wieder „überholt“ habe, weil sie auf den Tag genau in dem Alter, das ich jetzt erreicht habe, das Zeitliche gesegnet haben. Ein solcher Datenservice müsste natürlich für jeden Menschen je nach seinem Geburtstag individuell eingerichtet werden, aber das wäre mit den heutigen technischen Mitteln kaum ein Problem. Die Grundlage eines solchen Geburtstags-Sterbetags-Vergleichsrechners wäre ein Datenstamm, bei dem das erreichte Alter aller verstorbenen Berühmtheiten exakt ein Lebenstagen ausgedrückt ist. Damit ist die einfache Vergleichbarkeit mit meiner eigenen Lebenszeit (und der jedes anderen Interessenten) gewährleistet.

Praktischerweise rechnet man dazu alle Daten zunächst in das Julianische Datum (JD) um. Mein Geburtstag fiel auf das JD 2.435.666, heute haben wir das JD 2.455.236. Die Differenz dieser beiden Zahlen beträgt 19.570, das ist somit die Summe meiner bisherigen Lebenstage. Maria Callas (1923-1977), um eine beliebige bekannte Vergleichsperson zu wählen, deren Sterbealter ich noch nicht erreicht habe, wurde am 2. Dezember 1923 geboren (JD 2.423.756), starb am 16. September 1977 (JD 2.443.403) und erreichte somit ein Alter von 19.647 Tagen. Am Sonntag, dem 25. April dieses Jahres werde ich mich auf den Tag genau im Alter von Maria Callas am Tage ihres Todes befinden und sie dann „altersmäßig“ überholen.

Ich stelle mir vor, dass es manchen griesgrämigen Zeitgenossen allmorgendlich erfreuen würde zu erfahren, welche berühmten Menschen er, was das Lebensalter betrifft, heute wieder hinter sich lässt. Ist ein solcher „Vitalitätsrechner“ nicht vielleicht eine pfiffige Internet-Geschäftsidee, mit der ich viel Geld verdienen könnte? Oder gibt es diesen Rechner schon längst? In meiner Vorstellung besteht er aus einem achtstelligen Eingabefenster für das individuelle Geburtsdatum nach Tag, Monat und Jahr; darunter zeigt er sodann die siebenstellige Zahl für den Julianischen Geburtstag an; in der dritten Zeile erscheint das aktuelle Alter in Tagen. Und schließlich werden alle Prominenten mit ihren Geburts- und Sterbedaten aufgezählt, die zum Tag der Abfrage exakt dieses Alter erreicht haben.

20th Century Trends

Sunday, 07. February 2010

hippie

Die Berlinale feiert 60. Geburtstag, wie übrigens auch der gerade nach Berlin umgezogene Suhrkamp-Verlag. Das Filmfestival hat Werner Herzog zum Präsidenten gemacht. Ist das eine Nachricht? Vielleicht lautet die Nachricht doch eher: Werner Herzog hat sich zum Jury-Präsidenten der Berlinale machen lassen. Aber ich muss noch grundsätzlicher werden. Für mich persönlich lautet die Nachricht zuallererst einmal: Werner Herzog lebt noch.

Mindestens scheint es so. Ein Mann dieses Namens hat aus Anlass seiner Bestallung längliche Interviews gegeben, so in der SZ (Jörg Häntzschel: Die Hornisse; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 28 v. 4. Februar 2010, S. 3) und in der ZEIT. Dort fragt ihn Katja Nicodemus nach seiner neuen Heimatstadt Los Angeles. Werner Herzog: „Los Angeles ist ja eine Stadt, in der man nicht zu Fuß gehen kann. Sie machen sich verdächtig. Die Polizei fährt langsam neben Ihnen her und fragt, was Sie da tun. Nur wenn Sie einen Hund ausführen oder joggen, dann fallen Sie nicht auf. Aber zu Fuß gehe ich eigentlich nur, wenn ein existenzieller Grund dahinter ist.“ (Herr der Schmerzen; in: DIE ZEIT Nr. 6 v. 4. Februar 2010, S. 45.) Das ist ziemlich genau die Situation, die Günther Anders Anno Domini 1941 in Kalifornien erlebt und 15 Jahre später mit nicht zu überbietendem Sarkasmus geschildert hat. (In: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck, 1956, S. 172-174; vgl. auch hier.)

Herzog nimmt aber längst keinen Anstoß mehr daran, dass an seinem Wohnort die natürliche Fortbewegung per pedes nurmehr in Tarnkleidung oder in Begleitung eines alibi animal möglich ist. Dabei sollte man ja gerade von ihm eine gesteigerte Empfindlichkeit gegen die Verkümmerung der natürlichen Körpermotorik erwarten, hat er doch vor vielen Jahren einmal bei seinem Marsch in 22 Tagen von München nach Paris vorgeführt, dass das Wissen des Menschen von den Füßen kommt und nicht von den Rädern. So fragt Katja Nicodemus auch ganz keck: „Früher sagten Sie, dass sich nur dem Fußgänger die Welt eröffne. Das ist hier wohl vorbei.“ Der schlecht versteckte Vorwurf gegen jemanden, der längst seine Jugendideale verraten hat, kommt bei Herzog nicht an. Los Angeles lässt es eben nicht zu.

Und trotzdem lebt der Regisseur gern dort: „Für mich ist Los Angeles die amerikanische Stadt mit der größten Substanz. Ich meine natürlich nicht die reine Oberfläche, den Glitz [!] und Glamour von Hollywood. Aber alle wichtigen Trends des vergangenen Jahrhunderts kommen aus Kalifornien […]“ – und dann zählt Werner Herzog auf, was er für die wichtigen Trends des vergangenen Jahrhunderts hält. Hier fasst er nun also den Wert der Jahre 1901 bis 2000 zusammen, über die er sich offenbar ein altersweises Urteil zutraut. Nebenbei bemerkt: Werner Herzog wurde erst im Jahre 1963 erwachsen. Aber man kann sich Geschichtskenntnisse ja auch auf dem ersten oder zweiten Bildungsweg aneignen. Der deutsche Filmemacher kommt also für besagte hundert Jahre auf genau acht wichtige Trends. Für deren sechs meint er den Ursprung in Kalifornien verorten zu können; und von diesen seien immerhin vier ernst zu nehmen.

Nun bitte ich meine Leser, vorsorglich die Schuhe selbst auszuziehen, es sich bequem zu machen, noch einmal tief durchzuatmen und sodann Werner Herzogs ultimative Trendshow des Zwanzigsten Jahrhunderts made in California zur Kenntnis zu nehmen. Es sind dies „[1] die kollektiven Träume im Kino weltweit. [2] Die Tatsache, dass Homosexuelle als integraler Bestandteil einer Gesellschaft anerkannt werden. [3] Die Computertechnologie. [4] Die großen Internetinnovationen. Und im Übrigen auch die Dummheiten wie [5] Hippie und [6] New Age. Es gibt nur zwei Ausnahmen. [7] Die grüne Bewegung kommt eher aus Skandinavien. Und der [8] islamische Fundamentalismus kommt auch nicht aus Kalifornien.“ Wow! Da bin ich tatsächlich sprachlos.

Ist’s der Fall?

Thursday, 04. February 2010

humpop

Demnächst, sehr bald klappen wieder einmal die letzten acht Ziffern der Weltbevölkerungsuhr von 9 auf 0 um, aus der 7 auf Platz zwei wird eine 8 und wir zählen dann 6,8 Milliarden Menschen hienieden. Ähnlich rasant läuft die Uhr der Staatsverschuldung in den USA oder in Deutschland. Solche ratternden Zählwerke versuchen, Entwicklungen fühlbar zu machen, die als statische Ziffernfolgen gänzlich unbegreifbar bleiben. Ehrlicher ist es übrigens, wenn die aktuelle Bevölkerungszahl als Differenz zwischen Geburten und Todesfällen dargestellt wird, wie zum Beispiel hier. Da gibt es dann ein noch schneller laufendes Zählwerk für die durch Geburten zum Bestand hinzukommenden Menschen, ein deutlich langsameres Zählwerk der durch Tod fortfallenden Menschen und schließlich die hieraus sich errechnende aktuelle Bestandszahl, so wie sie jetzt in der schlichteren Animation gezeigt wird.

Dennoch fehlt eine Zahl. – Zwischen Juni 1988 und November 1995 plauderten Alexander Kluge und Heiner Müller vor laufender Kamera über das Allgemeinste und das Privateste, sie kamen dabei von Hölzchen auf Stöckchen, von der Fernbedienung in der Hand von Müllers Töchterchen im Handumdrehen zur Apokalypse. In einem dieser Gespräche, Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll, stellt Kluge fest, „dass die Summe der Toten und dieses Lager der Lebendigen konstant bleiben über lange Perioden. Und würde je das Lager der Lebendigen das Lager der Toten an Zahlen übertrumpfen …“ – Müller: „Und das ist jetzt der Fall!“ – Kluge: „… dann habe ich Armageddon.“ – Müller: „Dann wird’s gefährlich.“ – Kluge: „Dann ist die Katastrophe.“ – Müller: „Ja, ich glaube schon.“ – Kluge: „Weil gewissermaßen der Rat, das Gewicht der Toten gibt sozusagen die Plätze … befestigt, verankert die Plätze der Lebenden.“ – Müller: „Ja, ja.“ Es fehlt die Zahl der Toten seit der Entstehung von Homo sapiens, seit der Vertreibung aus dem Garten Eden: die Zahl der Gräber auf dem Friedhof aller Zeiten seit Menschengedenken.

Heiner Müller meinte also, der Zeitpunkt sei gekommen, da aktuell mehr Menschen quicklebendig auf der Welt herumlaufen als mausetot unter der Erde liegen; somit stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor, wenn man der antiken Prophezeiung glauben wolle. Dies ist offenkundiger Nonsens. Vielmehr haben Berechnungen ergeben, dass die Zahl aller auf unserem Globus jemals geborenen Menschen seit 50.000 v. Chr. schätzungsweise 110 Milliarden beträgt. Der Anteil der jetzt lebenden von allen je geborenen Menschen beträgt also nur etwa 6,2 Prozent. Müller ist vermutlich einer Mitte der 1970er-Jahre verbreiteten Falschmeldung aufgesessen, welche besagte, dass damals 75 Prozent aller je geborenen Menschen auf der Welt lebten. Eine wohl unbestreitbare Tatsache ist vielmehr, dass der kritische Punkt einer Übereinstimmung beider Zahlen niemals erreicht werden kann.

Nun muss ja ein moderner Dramatiker kein Fachmann für Globaldemografie sein. Auch wollen wir dem offenbar schwerstabhängigen Zigarrenqualmer nicht verübeln, wenn er im Nebel seiner Havanna keinen ganz klaren Blick mehr auf die Tatsachen hat. Und dann ist hier noch die bekannte Neigung mancher Hirntiere in Rechnung zu stellen, in der Agonie zu Hiobsbotschaft und Kassandrageschrei ihre Zuflucht zu nehmen vor der offenbar unerträglichen Vorstellung, die Welt könne auch ohne sie weiter ihre Bahnen ziehen. Aber wenn ich einmal über eine solche krasse Verkennung der Tatsachen gestolpert bin, dann ist mein Misstrauen geweckt und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom bloßen großen Namen ins Bockshorn jagen.

Was ich jedoch Heiner Müller weit weniger verzeihen kann als seine naive Weltuntergangs-Prognose aus dem Kaffeesatz der Orestie, das ist die Kindesmisshandlung, die er zu Beginn des gleichen Gesprächs schildert: „Es ist zum Beispiel eine Frage, was passiert mit Kindern, die die Welt primär kennenlernen durch Abbildung, Fernsehen. Meine Tochter ist vierzehn Monate alt, die steht schon mit dem Gerät [der Fernbedienung] da vor dem Fernseher und kann das bedienen. Sie weiß nicht genau wie, aber irgendwas schafft sie immer. […] Und sie drückt dann auf den Knopf, und dann ist was anderes da auf dem Bildschirm, das hat sie schon verstanden. Aber sie lernt die Welt, die Außenwelt, wesentlich kennen über den Bildschirm. Was heißt das, was passiert da, wenn die Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwinden?“ – Das ist eine Apokalypse im Kleinen.

2001+8 = pfft

Wednesday, 03. February 2010

zwodusendone

Die Hannoversche Allgemeine nannte das Unternehmen „ein Kulturversandhaus“. Diese Titulierung passt insofern noch immer, als die Kultur unter diesem Label zunehmend versandet. In besseren Zeiten spuckte Zweitausendeins etwas von jenem Sand aus, der das Getriebe einer stumpf vor sich hin polternden Kulturmaschinerie ins Stocken geraten lässt. Das nannte man damals die subversive Kraft des Kreativen. Lutz Reinecke aka Kroth, der Gründer dieses „Neckermann für Intellektuelle“, konnte im September vorigen Jahres den 40. Geburtstag seines aus den Wimmelanzeigen von Pardon entschlüpften Erfolgsrezepts nicht verstreichen lassen, ohne en passant seine Stammkunden in den Stores und seine Merkheft-Abonnenten um „nur“ 3,90 Euro anzuschnorren für diesen Rückblick auf vier Jahrzehnte Versandgeschichte.

Der 9/11-Mystagoge Mathias Bröckers hat also die Geschichte aufgeschrieben: Wie ein merkwürdiger kleiner Versand die Kulturlandschaft veränderte (in: Zweitausendeins. Der Versand. 40 Jahre danach. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2009, S. 5-82). Merkwürdig war und ist Zweitausendeins ja tatsächlich, weil überaus zwittrig, nicht Fleisch nicht Fisch. Der Laden nennt sich noch immer Versand, reüssiert aber dann doch als ambitionierter Verlag und bildet sich darauf nicht wenig ein, um aber in seinen Selbstverlautbarungen ständig damit zu kokettieren, kackfrech und zugleich wieder durch ein Augenzwinkern relativiert, dass es ihm eigentlich doch bloß um Umsatz, Kohle, Moneten gehe – ganz genauso wie den lieben Kunden, den Bestellern und Ladenbesuchern, die sich ja schließlich auch ein Loch in den Bauch freuten, wenn sie statt 998 Euro nur noch 9,80 Euro für nahezu die gleichen zig Regalmeter allerintellektuellsten Lesestoffs latzen müssen.

In besagter Festschrift des Verlages auf sich selbst wird man selbstkritische Einsichten oder auch nur versteckte Hinweise auf die Widersprüchlichkeit einer solchen Unternehmung naturgemäß vergeblich suchen. Dass es dennoch gelegentlich knirschte im Gebälk, das ließ sich freilich nicht ganz verschweigen. Bröckers berichtet, wie seit 1980 Eva Kroth immer mehr Einfluss auf die Programmgestaltung gewann und Titel aus den Bereichen Ökologie, Feminismus, Selbsthilfe und Esoterik einen breiteren Raum im Sortiment einnahmen. „Einen zu breiten, wie die beiden ,Sub-Verleger‘ bei Zweitausendeins fanden – Jörg Schröder mit seinem März Verlag und der ehemalige Zeit-Redakteur Uwe Nettelbeck mit seinem gleichnamigen Verlag. Beide trennen sich in der Folge in ungütlichen Gerichtsverfahren von ihrem Dachverlag. Neben Intrigen, Eitelkeiten und dem üblichen Alpha-Männchen-Gehacke, das sowohl Nettelbeck (in seiner Zeitschrift Die Republik) und Schröder (in seiner Reihe Schröder erzählt) später ausführlich aus ihrer Sicht geschildert haben, ging es im Kern natürlich um Geld. Jörg Schröder sah sich spätestens nach dem Bestsellererfolg von Bernward Vespers Reise als der innovative literarische Macher und fühlte sich mit seiner prozentualen Beteiligung an den März-Titeln unterbezahlt. – Und Uwe Nettelbeck, von dem der Tipp zu den geheimen Deutschland-Berichten der SoPaDe 1934-1940 stammte, die dann auch 1980 in sieben Bänden bei Nettelbeck/Zweitausendeins herauskamen, wollte allein für diesen Hinweis ein reguläres Autorenhonorar, obwohl das doch eigentlich den unbekannten Verfassern zugestanden hätte. Man einigte sich schließlich auf einen reduzierten Prozentsatz, und Lutz Kroth verpflichtete sich, die übrigen Prozente zu spenden – nicht etwa an die SPD, sondern an eine gegenwärtige ,Widerstandsorganisation‘: an Greenpeace. Nachdem die Deutschland-Berichte zu einem unerwarteten Verlaufserfolg geworden waren, wollte Nettelbeck diese Klausel ändern, weil Zweitausendeins mit der Greenpeace-Spende – nach dem Motto ,Tue Gutes und rede darüber‘ – Werbung betrieb: Greenpeace konnte mit dem Spendenscheck über 94.000 DM einen Teil der 250.000 DM teuren ,Sirius‘ finanzieren, des zweiten Aktionsschiffes der Umweltaktivisten. Als die Änderung der Klausel nicht zustande kam, endete Nettelbecks Kooperation mit Zweitausendeins. Lutz Kroth fühlte sich dennoch weiterhin an die Spendenklausel gebunden. So gingen etwa noch im Frühjahr 1990 rund 8000 DM an ein Frankfurter Frauenhaus.“ (Ebd., S. 59 f.)

Ich zitiere hier so ausführlich, weil diese Passage vielleicht die aufschlussreichste in dem kleinen Heftchen ist – und die beiden Zerwürfnisse wahrscheinlich die Highlights der langen Verlagsgeschichte, jedenfalls für jeden wirklich an Aufklärung interessierten Branchenbeobachter. Auffällig ist, dass Bröckers den „Fall SoPaDe“ so detailliert darstellt, während er den „Fall März“ in einem einzigen Satz abfertigt. Dabei bedankt sich Bröckers in den Credits (S. 82) ausdrücklich auch bei Jörg Schröder „für Auskünfte und Unterstützung“. Bei Uwe Nettelbeck muss er sich nicht bedanken, der ist bekanntlich seit zwei Jahren tot und kann sich nicht mehr wehren. Thomas Steinfeld schrieb anlässlich seines Todes: „Wäre Uwe Nettelbeck weniger gebildet und vor allem weniger anspruchsvoll gewesen, so hätten der Verlag und die Buchhandelskette ,Zweitausendeins‘ sein Einfall sein können.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 19 v. 24. Januar 2007, Seite 11.)

Wenn man nachliest, wie Jörg Schröder den Bruch mit Zweitausendeins „ausführlich“ und „aus seiner Sicht“ geschildert hat, nämlich hauptsächlich in den Heften 4 bis 6 und 26 ff seines work in progress (1991/1996-97), dann muss man bezweifeln, dass er unterschreiben würde, auch ihm sei es damals „im Kern um Geld“ gegangen. Und dass diese Präferenz „natürlich“ sei, vernimmt man als unschuldiger Leser mit Befremden in der bestellten Lob-Arie auf einen Verlag, dem die Natur doch nach eigenem Bekenntnis stets mehr am Herzen liegt als der schnöde Mammon. Ich lasse mich überraschen, ob Schröder & Kalender in der mit Spannung erwarteten 14. Folge der Schwarzen Serie von Schröder erzählt, die dem Vernehmen nach in diesen Tagen unter dem Titel Das Äussere des Inneren erscheinen soll, auf die Selbstbeweihräucherung des Frankfurter Kulturversands eingehen wird, die uns nicht stören müsste, wenn sie nicht zugleich eine Vernebelung der wahren Sachverhalte und eigentlichen Zusammenhänge darstellte.

Protected: Zootiere im Krieg

Monday, 01. February 2010

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