Summertime ’69

woodstockhavens

Ende Juli, Anfang August machte unsere kleine Familie zum letzten Mal Urlaub in Noordwijk aan Zee. Bevor wir mit unserem weißen Ford Taunus in Richtung Holland aufbrachen, erlebten wir noch am 21. Juli um vier Uhr in der Frühe wie 500 Millionen Menschen in aller Welt vorm Fernseher die erste Mondlandung: “That’s one small step for a man, one giant leap for mankind!” Zehn Tage vorher hatte ich meinen 13. Geburtstag gefeiert, nun freute ich mich auf Sonne, Strand und Meer.

Wie üblich wohnten wir im Hotel Op De Hoogte, ganz in der Nähe der Tennisanlage und nicht allzu weit vom Strand entfernt. Ich erinnere mich, dass mein Vater, es muss am Vormittag des 10. August gewesen sein, wohl zum ersten und einzigen Mal eine Bild-Zeitung kaufte, weil die WAZ überall ausverkauft war. In riesigen Lettern wurde ein schrecklicher, fünffacher Mord in Kalifornien bekannt gegeben. Das prominenteste Opfer war die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate. Der Hausbesitzer, ihr Ehemann Roman Polanski, hielt sich zur Tatzeit in Europa auf.

Bei unserer Heimkehr nach Essen wenige Tage später fühlte sich mein Vater unwohl. Er konnte nach Ablauf seines Urlaubs nicht an seinen Arbeitsplatz bei der Ruhrgas zurückkehren und musste sich zum ersten Mal in seinem Leben von unserem Hausarzt krank schreiben lassen. Im Februar dieses Jahres hatte er bei bester Gesundheit seinen 43. Geburtstag gefeiert, im Jahr zuvor hatte er, kurz bevor dies infolge der „Trimm-dich!“-Kampagne in den frühen 1970er-Jahren zum Massentrend wurde, auf der Schillerwiese sein Goldenes Sportabzeichen „gemacht“ und sich vorher einem allgemeinen Gesundheits-Check unterzogen, der keinerlei körperliche Beeinträchtigungen ergeben hatte. Nun lag er im Bett und schlief.

Am 15. August eröffnete Richie Havens mit Motherless Child nahe der Kleinstadt Bethel im amerikanischen Bundesstaat New York jenes legendäre Open-Air-Festival, das unter dem Namen „Woodstock“ als Höhepunkt der Hippie-Bewegung in den USA in die Geschichte eingegangen ist. Seinen Refrain („Freedom“) wird niemand vergessen, der damals jung war und sein Herz seither nicht verkauft hat. Als Jimi Hendrix am frühen Morgen des 18. August mit Hey Joe das Festival ausklingen ließ, lag mein Vater schon im Krankenhaus und wartete auf eine Notoperation.

Da war aber nichts mehr zu machen. Am Mittwoch, dem 20. August, ging ich mit meinem Cousin Jörg ins Kino. In seiner Nachmittagsvorführung zeigte das Filmstudio im Glückaufhaus Ken Annakins Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten (1965). Ich schüttete mich aus vor Lachen und kam in bester Laune heim. Meine Mutter brachte es nicht übers Herz, mir am gleichen Tag noch die traurige Nachricht zu überbringen, die mich am nächsten Morgen dann wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ich hatte keinen Vater mehr.

[In memoriam Hans Heinz Heßling, gen. „Hanno“, geb. am 1. Februar 1926, gest. am 20. August 1969.]