Archive for September, 2008

Wahn hoch 64

Tuesday, 30. September 2008

blackburne

Vom 11. bis zum 30. Oktober findet in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn der Kampf um die Schachweltmeisterschaft zwischen dem amtierenden Weltmeister, dem 38-jährigen Inder Viswanathan Anand (ELO 2783), und seinem Herausforderer, dem 33-jährigen Russen Wladimir Kramnik (ELO 2772), statt. Am gleichen Ort verlor Kramnik Ende 2006 in einem auf sechs Partien festgesetzten Wettkampf gegen das Schachprogramm Deep Fritz, nachdem ihm in der zweiten Partie der „Patzer des Jahrhunderts” (Susan Polgar) unterlaufen war: zum Wahnsinnigwerden.

Foster Wallace zitiert in seinem Buch über den Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) den englischen Schriftsteller G. K. Chesterton: „Dichter werden nicht verrückt, Schachspieler schon. Mathematiker werden verrückt und Kassierer, schöpferische Künstler sehr selten. Ich wende mich nicht gegen die Logik: Ich sage nur, dass diese Gefahr [verrückt zu werden] in der Logik, nicht in der Vorstellungskraft liegt.” (David Foster Wallace: Georg Cantor. Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen. München: Piper Verlag, 2007, S. 12.)

Anand hat gerade der verbreiteten Auffassung widersprochen, dass professionelle Schachspieler unverhältnismäßig häufig im Wahnsinn enden: „Man braucht ein Leben abseits des Schachs, dann besteht keine Gefahr. Man muss sich andere Interessen bewahren. Wirklich krank wurden nicht so viele. Nur werden diese Fälle gleich einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Bestimmt gibt es ebenso viele verrückte Ärzte oder Busfahrer.” (Ansbert Kneip u. Maik Großekathöfer: „Schach ist Schauspielerei”. Interview mit Viswanathan Anand; zit nach: Spiegel online, 29. September 2008.)

Na, ich weiß nicht. Zumindest nach der Lektüre des Standardwerks zum Thema, von dem erstklassigen Schachspieler (ELO 2762) und Psychoanalytiker Reuben Fine (1914-1993), kommt man zu einem anderen Ergebnis. Abgesehen davon, dass etliche Großmeister des Schachspiels einen ausgeprägten Hang zum Größenwahn bis hin zu Allmachtsphantasien hatten, was man noch mit ihrem unvermeidlichen Weltruhm entschuldigen mag: Die Liste der verrückten Meister auf den 64 Feldern ist lang. Paul Morphy und Wilhelm Steinitz litten unter psychotischen Wahnvorstellungen. Auch Aaron Nimzowitsch und Akiba Rubinstein zeigten gelegentlich ein, gelinde gesagt, auffälliges Verhalten. Ersterer machte neben dem Schachbrett Kopfstandübungen, Rubinstein sprang aus dem Fenster, wenn er sich von einem Zuschauer bei einer Partie „verfolgt” fühlte. José Raúl Capablanca litt unter Donjuanismus, der paranoide Antisemit Alexander Aljechin war ein ausgesprochener Sadist und verfiel dem Alkohol, ebenso wie Joseph Henry Blackburne, genannt „the Black Death”. Und in neuerer Zeit hat Bobby Fischer mit seinen zahllosen Spleens am Schachbrett und mit seinen abstrusen politischen Ansichten diese Ahnenreihe der Schachverrückten würdig fortgesetzt. (Vgl. Reuben Fine: Die Psychologie des Schachspielers. A. d. Am. v. Reinhard Kaiser. Frankfurt am Main: Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft, 1982.)

Zugegeben: Es gibt auch namhafte Gegenbeispiele, großartige Schachspieler, die zeitlebens bei völliger geistiger Gesundheit auf höchstem Niveau spielten, daneben ein ausgeglichenes Familienleben pflegten und sogar einem bürgerlichen Beruf nachgingen, wie etwa Adolf Anderssen, Max Euwe, Siegbert Tarrasch oder Emanuel Lasker. Ich schlage zwischen den beiden Standpunkten folgende argumentative Rochade vor: Man muss nicht verrückt sein, um Schachweltmeister zu werden; aber man läuft Gefahr, verrückt zu werden, wenn man das Schachspiel zu seinem einzigen Daseinsmittelpunkt macht.

[Titelbild: Joseph Henry Blackburne. Karikatur aus Vanity Fair.]

Dingwelt (IV)

Monday, 29. September 2008

Diese aparte Skulptur, gefeilt, geschliffen und poliert aus Speckstein (Steatit), acht Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit, 72 Gramm schwer, ist keine Plastik von Henry Moore, sondern Ergebnis häuslicher Handarbeit meiner Freundin Sabine P., ein Geschenk zu meinem 40. Geburtstag.

In seiner zweckfreien Existenz, nutzlos wie ein Kropf, hätte sie ein utilitaristischer Zeitgenosse als Staubfänger denunziert und, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, in den Abfall befördert. Nicht so ich.

Zwar hat das Figürchen, das mich in seiner spiraligen Form je nach Perspektive manchmal an den Oberkörper einer lockenden Marketenderin, manchmal an eine aus trüben Untiefen auftauchende Qualle erinnert, in den vergangenen zwölf Jahren leicht gelitten. Vom Kopf der bleichen Mutter Courage, bzw. von einem Tentakel der Meduse, ist ein kleines Stückchen abgesprungen, wie ich gerade erst feststellen musste. Und über dem unteren Teil – aber wer will sagen, wo hier unten und oben ist? – hat sich ein feiner Riss gebildet. Darum könnte ich diesen Handschmeichler dennoch niemals wegschmeißen.

Meine Ehrfurcht vor dem namenlosen Gegenstand hat übrigens nichts mit meiner Freundschaft zu Sabine P. zu tun. Es ist vielmehr gerade seine reine Bedeutungs- und Zusammenhanglosigkeit, die mich verpflichtet, ihm meine Treue zu bewahren. Vielleicht ist es sogar angebracht, dass ich hier mein Mitleid mit ihm bekunde.

Es lag mir noch nie besonders, Befehle zu erteilen. Sonst würde ich vielleicht verfügen, mir ihn – oder es? oder sie? – mit ins Grab zu legen, wenn ich für wahrscheinlich hielte, dass mir dereinst ein Grab beschieden ist; und dass es, wenn mein Stündlein geschlagen hat, noch Menschen gibt, die ihre Aufmerksamkeit den Bestattungswünschen eines Ahnen widmen können. Aber wer will das hoffen? Und warum? Der Schmelzpunkt von Steatit liegt übrigens bei lächerlichen 1635 °C.

Oikos

Sunday, 28. September 2008

Ich trachte in jeder wachen Minute nach Einsicht und Erkenntnis. Das ist kein leichtes Los. Nur zu oft stoße ich dabei an meine Grenzen, niemals meines Interesses, sondern an jene, die mir meine beschränkte Vorbildung setzt. Weil mir mein Mathematiklehrer ab der Obertertia die Grundlagen der Infinitesimalrechnung nicht vermitteln konnte, scheitere ich nun bei dem Versuch, das Buch von David Foster Wallace über den „Jahrhundertmathematiker” Georg Cantor und seine „Entdeckung des Unendlichen” zu verstehen. (A. d. Am. v. Helmut Reuter u. Thorsten Schmidt. München: Piper Verlag, 2007.) Solch ein Handicap wurmt mich schrecklich und kann mir das ganze Wochenende versauen.

Aber das Essener Gymnasium, das ich in den Jahren 1967 bis 1976 besuchte, hat mich noch mit ganz anderen Defiziten ins Leben entlassen. So standen dort weder Ökonomie noch gar Ökologie auf dem Lehrplan. Deshalb bin ich weit davon entfernt, die Ursachen des gegenwärtigen Finanzdebakels in den USA zu durchschauen. Immerhin weiß ich aus dem Geschichtsunterricht, dass durch den New Yorker Börsencrash vom 24. Oktober 1929, dem legendären „Black Thursday“, eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde, die nicht unwesentlich zur Massenarbeitslosigkeit im Deutschen Reich beitrug – und damit zu Hitlers „Machtergreifung”, zum „Ausbruch” des Zweiten Weltkriegs und zum größten Genozid der (bisherigen) Menschheitsgeschichte. Was sich jetzt in unserer globalisierten Weltwirtschaft seit dem 15. September abspielt, als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden musste, das kommt den verhängnisvollen Ereignissen vor 79 Jahren jedenfalls näher als jedes vergleichbare Krisengeschehen zuvor. Der aktuelle Wirtschafts-GAU verhält sich zur Ölkrise von 1973 und zur New-Economy-Krise im Gefolge von 9/11 wie die Pest zu einem gewöhnlichen Schnupfen, das begreife sogar ich mit meinem beschränkten ökonomischen Verstand. Wenn selbst der dem rechten SPD-Flügel zuzurechnende Finanzminister Peer Steinbrück angesichts dieses Debakels im Spiegel-Gespräch einräumt, „dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind”, dann ist das schon alarmierend.

Hinzu kommt, dass die Pleitewelle mitten in die heiße Phase des Wahlkampfs in den USA fällt, in dem sich der Republikaner John McCain als Fachmann für die Außenpolitik (Krieg gegen die Taliban und al-Qaida im Irak, Afghanistan und Pakistan) zu profilieren sucht, während sein Widersacher, der Demokrat Barack Obama, seinen Wählern verspricht, die marode Wirtschaft im Lande zu sanieren und ihnen wieder zu Arbeitsplätzen und Wohlstand zu verhelfen. Kein Wunder also, dass nach der Lehman-Pleite Obamas Umfragewerte nach oben schossen. McCain benötigt nun – horribile dictu! – dringend ein schweres islamistisches Attentat, möglichst auf heimischem Boden, um wieder Anschluss zu gewinnen. Dabei gerät freilich das noch wichtigere Thema, die bevorstehende ökologische Katastrophe, völlig aus dem Blick.

Die beiden Ö-Wörter, Ökologie und Ökonomie, leiten sich ja einerseits vom griechischen „Oikos” ab, das zugleich Haus, Haushalt, Familie, Großfamilie, Sippe, Stamm, Abstammung, Geschlecht und alle zu einem Haus gehörenden Menschen einschließlich der Sklaven bedeutet. Andererseits unterscheiden sich die Fachbegriffe durch ihre Endungen: -logie (von griech. „Logos”, Lehre) bzw. -nomie (von griech. „Nomos”, Gesetz). Interessant ist der Vergleich mit dem ähnlichen Begriffspaar Astrologie und Astronomie. Letztere ist ursprünglich die Wissenschaft von den Gesetzen, nach denen die Himmelskörper sich bewegen, während Erstere, die Sterndeutung, eine mittlerweile eher obskure Lehre ist, kaum seriöser als reine Kaffeesatzleserei. Und so werden auch die klugen Einsichten und Warnungen der Ökologen von den Mächtigen in Politik und Wirtschaft noch immer nicht so ernst genommen, wie sie’s verdienten.

Das griechische Wort Oikos kommt in der Bibel an zahlreichen Stellen vor. Eine besonders bedenkenswerte Ermahnung findet sich im Neuen Testament, wo Jesus bei der Tempelreinigung zu den Taubenhändlern sagt: „Schafft das hier weg, macht das Haus [oikos] meines Vaters nicht zu einer Markthalle!” (Joh. 2.16) Genau dies jedoch ist in den letzten zweitausend Jahren geschehen. Und jetzt steht diese Markthalle erneut unmittelbar vor dem Konkurs – mit katastrophalen Folgen für das „Haus des Vaters”, den Tempel der Natur: die Biosphäre.

Spiel (II)

Saturday, 27. September 2008

Partie in der „Schacharena“, Sargon – Revierflaneur (26.09.08, 15:47 bis 16:52 Uhr): 1. Sg1-f3. Das ist die nach dem polnisch-deutschen Schachmeister Johannes Hermann Zukertort (1842-1888, s. Titelbild) benannte Eröffnung. Als der zeitweise neben Steinitz stärkste Schachspieler der Welt sie in die Turnierpraxis einführte, erregte er damit einiges Aufsehen. „Bizarr” – so das Urteil der Zeitgenossen. Ich hatte mit dieser selten gespielten Eröffnung (ECO-Code A04-A09) keinerlei Erfahrung und spielte 1. … d7-d5, was sich wohl auch als gebräuchlichste Erwiderung durchgesetzt hat (A06-A09). – Als spielbar gelten auch die passiveren Entgegnungen 1. … Sg8-f6 (A04) und 1. … g2-g3 (A05).

Sargon spielte nun weiter wie der klassische Zukertort: 2. d2-d4. Dies ist spätestens seit den 1920er-Jahren außer Gebrauch gekommen, als der tschechoslowakische Großmeister Richard Réti (1889-1929) den Zug 2. c2-c4 einführte und damit als Schöpfer der Réti-Eröffnung (A09) in die Schachgeschichte einging. Geläufig sind daneben heute noch die Züge 2. b2-b4 (A06) und 2. g2-g3 (A07). – Und so ging’s weiter: 2. … e7-e6 3. Dd1-d3 Sb8-c6 4. a2-a3 a7-a6 5. Lc1-f4 Lf8-d6 6. Lf4xd6 Dd8xd6 7. e2-e4. Sg8-e7. (Hier hätte ich offensiver 7. … Dd6-f4 spielen können, mit der Drohung Df4-c1† und Verlust des Ta1. Stattdessen droht nun 8. e5-e6 und meine Dame wäre zum Rückzug gezwungen, doch Weiß spielt anders.) 8. Dd3-e3 d5xe4 9. De3xe4 f7-f5 10. De4-e3 Se7-d5.

Ein riskantes Spiel, auf das ich mich da einlasse: 11. De3-g5. Möglich wäre 11. … g7-g6, aber die Rochade schien mir besser: 11. …0-0 12. c2-c3, womit mir Weiß die Offensive überlässt: 12. … h7-h6 13. Dg5-g3. Dieses Tauschangebot wollte ich nicht annehmen: 13. … e6-e5 14. Sf3xe5 Sc6xe5 15. d4xe5 Dd6-b6 – mit der erneuten Drohung, über Db6xb2 den Ta1 zu schlagen, die mit 16. b2-b4 zunächst aus der Welt geschafft wird. Aber es gibt ja noch ein viel attraktiveres Opfer unter den Weißhäuten: 16. … f5-f4 17. Dg3-f3 c7-c6 18. Lf1-c4 Lc8-e6 19. 0-0 Tf8-f5 20. Tf1-e1 Ta8-e8 21. a3-a4 Db6-c7 22. g2-g4. – Wie schön, dass vor einem halben Jahrhundert die En-passant-Regel eingeführt wurde! 22. … f4xg3 23. Df3xg3. Das ist natürlich verhängnisvoll, aber ich sehe auch keinen besseren Zug. Der Verlust der weißen Dame ist wohl unvermeidbar: 23. … Tf5-g5 24. Dg3xg5 h6xg5 25. Lc4xd5 Le6xd5 26. Sb1-d2 Te8xe5 27. c3-c4 Te5xe1 28. Ta1xe1 Ld5-f7 29. Sd2-e4 g5-g4 30. Sg4-e3 g7-g6 (um dem Se3 die Felder h5 und f5 zu verstellen). 31. b4-b5 a6-a5 32. c4-c5 Lf7-b3 33. Te1-e4 Dc7-d7 34. b5-b6 Dd7-d1† 35. Sg3-f1.

Und nun mache ich meinen spielentscheidenden Fehler! Nach 35. … Dd1-f3 hätte noch 36. Te4-e8† Kg8-g7 37. Te8-e7† Kg7-f6 folgen können. Entweder droht Weiß nun der Verlust des Turms, oder er rettet ihn vorläufig (38. Te7-h7 oder Te7xb7). Doch mein Zug 38. … Lb3-d5 hätte anschließend unausweichlich zum Matt geführt. (Auch 38. Te7-d7 verzögert dieses Matt bzw. den Turmverlust nur um einen Zug mit 38. … Kf6-d6.)

Stattdessen ziehe ich 35. … Lb3-d5, und die schon gewonnen geglaubte Partie geht verloren, zumal ich nach 36. Te4-e7 zum zweiten Mal das sichere Matt durch 36. … Dd1-f3 verpasse und stattdessen 36. … Ld5-h1 ziehe. 37. Te7-e3 Kg8-f7 38. h2-h3 g4xh3 39. Te3xh3 Dd1-g4† 40. Th3-g3 Dg4-e4 41. Sf1-d2 De4-e1 42. Sd2-f1 Lh1-e4 43. Tg3-e3 De1-b4 44. Sf1-g3 Db4-b1† 45. Kg1-h1 Le4-f5 46. Sg3-e2 Db1-f1 47. Kh2-g3 Df1-h3 48. Kg3-f4 Dh3-g4† 49. Kf4-e5 Dg4-c4 50. Ke5-d6 Dc4-d5† 51. Kd6-c7 Dd5-d7† 52. Kc7-b8 Dd7-d8† 53. Kb8-a7 Lf5-d3 54. Te3-f3† Kf7-e6 55. Se2-f4† Ke6-e5 56. Se4xd3 Ke5-d4 57. Tf3-f7 Kd4xd3 58. Tf7xb7 Dd8-d4 59. Tb7-f7 Dd4xa4 60. b6-b7 Da4-b5 61. b7-b8D Db5xc5† 62. Db8-b6 Dc5xb6† 63. Ka7xb6 a5-a4 64. Kb6xc6 Kd3-e2 65. f2-f4 a4-a3 66. Kc6-d5 Ke2-f3 67. Kd5-e5 a3-a2 68. Tf7-a7 Kf3-g4 69. Ta7xa2 g6-g5 70. f4-f5 Kg4-h4 71. f5-f6 g5-g4 72. f6-f7 g4-g3 73. f7-f8D g2-g3 74. Ta2xg2 Kh4-h3 75. Df8-g8 aufgegeben. Wieder mal erweist sich, dass ich auf der Siegerstraße übermütig werde und meinen kühlen Kopf verliere. Selbst nach den beiden verpassten Siegchancen hätte ich vermutlich das Ruder noch rumreißen können und mindestens ein Remis herausholen müssen. Aber das will ich hier gar nicht mehr im Detail analysieren. Schade!

Volksopium

Friday, 26. September 2008

Es gibt eine, vielleicht zwei Handvoll Sätze, die in ihrer durchschlagenden Wirkung auf das Bewusstsein der Menschen folgenreicher gewesen sein mögen als tausend kluge Bücher. Einer dieser Sätze lautet: „Religion ist Opium fürs Volk.” Seine Strahlkraft reicht bis in die Gegenwart und in die Popkultur. So brachte die Düsseldorfer Punkrockband Die Toten Hosen 1996 eine Platte mit dem Titel Opium fürs Volk heraus. Im Booklet zur CD ist u. a. Lenin als Redner vor Arbeitern zu sehen, vermutlich aber nicht, weil er öfter mal als Urheber des Zitats genannt wird, sondern weil auch die kommunistische Propaganda als eine modernere Form von „Opium fürs Volk” bloßgestellt werden soll. Schließlich hatte Campino schon zehn Jahre vorher prophezeit: „Das Ende ist nah, / für Lenin und Marx, / das Ende ist nah.” (Refrain von Disco in Moskau auf Damenwahl).

Die unverbesserlichen Besserwisser weisen dankenswerterweise ein ums andere Mal fröhlich pfeifend darauf hin, dass der Satz erstens nicht von Lenin stammt, sondern von Karl Marx; und dass er zweitens richtig lautet: „Religion ist das Opium des Volkes.” Nichts macht bekanntlich mehr Spaß, als Besserwisser zu belehren, besonders dann, wenn sie ihren Spitzfindigkeiten den Ritterschlag einer tieferen Bedeutung geben wollen. In diesem Falle meinen sie, dass ein entscheidender Unterschied bestehe zwischen „Opium fürs Volk” und „Opium des Volkes”. In der ersten Variante werde der Schwarze Peter den Herrschenden zugeschoben, die das willenlose Volk mit der Droge Religion vergiften, während das Marxsche Originalzitat dem Volk die Schuld gebe, das nach dem Trost spendenden Rausch selbst verlange. Wenn wir im Bilde bleiben, wird die Absurdität dieser Argumentation schnell offenkundig. Wir müssten dann die Junkies in unseren Städten hart bestrafen, statt ihnen Therapieangebote auf Kosten der Allgemeinheit zu machen, während die Dealer straffrei davonkämen.

Auch mit ihrem Nachweis der Urheberschaft des berühmten, viel zitierten Satzes liegen die Besserwisser nur halb richtig. Auf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, kann man sich durchaus auch berufen. In seinem heute noch lesenswerten Aufsatz Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion schreibt er: „Die Religion ist das Opium des Volkes – dieser Ausspruch von Marx bildet den Eckpfeiler der ganzen Weltanschauung des Marxismus in der Frage der Religion. Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und umnebeln sollen.” (Zuerst ersch. in: Proletary, Paris, Nr. 45 v. 13. Mai 1909.)

Dieser „Ausspruch von Marx” findet sich in der Einleitung zu dessen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und lautet im Zusammenhang: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. – Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.” (Zuerst ersch. in: Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1944.) – Übrigens hört man den Satz oft falsch betont. Es muss nicht heißen: „Religion ist das Opium des Volkes.” Denn das würde ja unterstellen, dieses Rauschmittel sei eigentlich eine Droge der herrschenden Klasse gewesen, was weder in Asien noch in Europa je der Fall war. Vielmehr ist der Ausspruch nur mit dieser Betonung plausibel: „Religion ist das Opium des Volkes.”

Einiges spricht dafür, dass Karl Marx sich zu seinem Satz von Heinrich Heine inspirieren ließ, den er 1843 persönlich kennen gelernt hatte. Der Dichter hatte 1840 in seiner Denkschrift Über Ludwig Börne geschrieben: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goß, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!”

Langsam!

Thursday, 25. September 2008

Gestern stellte der Berliner Verleger Peter Moses-Krause (65) in der Stadtbibliothek Essen Hans Siemsen vor, dessen Feuilletons aus den Jahren 1919 bis 1950 er in einem Auswahlband vorgelegt hat. Ins Programm seines seit 1977 ebenso tapfer wie unverdrossen gegen die Übernahme durch die seelenlosen Branchenriesen kämpfenden Verlages Das Arsenal passt Siemsen insofern gut, als dort auch andere Meister der „Kleinen Form” eine Heimat gefunden haben: Victor Auburtin, Béla Balász, Arthur Eloesser und Franz Hessel.

Gleich eingangs stellte Moses-Krause klar, dass erstens sein Auftritt an diesem Ort eigentlich auf einem Missverständnis beruhe. Der Veranstalter hatte Hans Siemsen in seiner Ankündigung als einen „wiederentdeckten Essener Autor” propagiert, der er ja nun keineswegs war. Seine letzten sechzehn Lebensjahre verbrachte Siemsen zwar im Otto-Hue-Haus, einem Altersheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen, wo er schließlich auch am 23. Juni 1969 im Alter von 78 Jahren gestorben ist. Aber in dieser Zeit hat er keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Und zweitens, so der Verleger, müsste eigentlich ein anderer, berufenerer Siemsen-Kenner vor uns auf der Bühne sitzen, nämlich Dieter Sudhoff, der Herausgeber der Sammlung, der im vorigen Jahr im Alter von nur 52 Jahren einem Herzinfarkt erlag.

Moses-Krause widerstand dankenswerterweise der Versuchung, seinen Vortrag mit allzu vielen Kostproben aus Siemsens Werk zu überfrachten. Diese ebenso kurzen wie konzentrierten Texte führen, wollte man einen nach dem anderen „weglesen”, recht bald zur Übersättigung und stehlen sich sozusagen dann gegenseitig die Schau. Nur fünf Feuilletons wurden zu Gehör gebracht: Der Floh im Tasso; Baggesen im Wintergarten; Gartenhaus, I. Etage; Zerstörte Schönheit; Döblin. Eine zwar subjektive, aber durchaus stimmige Auswahl.

Da ich nun aber genug Lob gespendet habe, kann ich mir eine kleine Kritik nicht verkneifen: Moses-Krause las zu schnell, sowohl für seine Verhältnisse, denn er verhaspelte sich des Öfteren; als auch und erst recht für Siemsens Ansprüche. „Nein! Langsam! Langsam!” – so steht’s doch ausdrücklich vorn auf dem schönen schmalen Buch (das, nebenbei bemerkt, sogar fadengeheftet ist), über der Zeichnung von George Grosz [Bei Aschinger, siehe Titelbild]. Warum so eilig? Dies der Titel eines anderen Textes in der verdienstvollen Sammlung. Ja, warum nur?

Hauptsächlich aber erzählte der Verleger von dem tragisch scheiternden Menschen Hans Siemsen. Wer er war und was er wollte. Was er konnte und woran er zerbrach. Kenntnisreich und ohne gravierende Fehler. Gern würde Moses-Krause, glaubt man seinem Bekenntnis, einen weiteren Band von diesem vergessenen Autor veröffentlichen; etwa mit Siemsens Schriften zum Film, die unbedingt eine Wiederentdeckung lohnen. Doch dazu bedürfte es der Ermutigung durch das Interesse der Leser, die allerdings in der Essener Stadtbibliothek am gestrigen Abend leider ausblieb: Die zahlenden und kaufenden Zuhörer waren an den Fingern einer Hand abzuzählen.

[Hans Siemsen: Nein! Langsam! Langsam! Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Sudhoff. Berlin: Verlag Das Arsenal, 2008.]

Ausgezählt

Wednesday, 24. September 2008

Zur Abwechslung mal eine Kulturnachricht aus der Provinzhauptstadt an der Ruhr. Am vergangenen Montag wurde der Gründungsintendant der Essener Philharmonie, Michael Kaufmann (47), im sechsten Jahr seiner Tätigkeit vom 13-köpfigen Aufsichtsrat der Essener Theater und Philharmonie GmbH (TuP) „wegen wiederholter Etatüberschreitung” fristlos entlassen. Mit diesem „Höhepunkt einer hässlichen Sinfonie voller scharfer Dissonanzen” (Neue Osnabrücker Zeitung) ziehen die wirtschaftlich für dieses Abenteuer Verantwortlichen nun die Notbremse.

Allerdings muss sich diese “Wilde Dreizehn” wohl die Frage gefallen lassen, warum sie zwei Spielzeiten lang der eigenmächtigen Etatüberschreitung ihres Intendanten um mittlerweile 1,5 Millionen Euro zugesehen haben. Und warum sie dessen blauäugige Hans-guck-in-die-Luft-Mentalitat erst im vorigen Jahr mit einer Vertragsverlängerung bis 2013 belohnt haben. Wie soll ein solches Konzerthaus Bestand oder gar eine Zukunft haben, wenn von seinen 1.900 Stühlen im Durchschnitt pro Veranstaltung nur 722 (38 Prozent) besetzt sind, und davon noch etliche durch Besucher mit Freikarten? Das sollte selbst einem schlechten Kaufmann einleuchten, Sponsoren hin oder her. Zum Thema der unzureichenden Auslastung der Essener Philharmonie habe ich schon im April 2007 einen kritischen Beitrag geschrieben, damals noch bei Westropolis: „Jetzt sind unkonventionelle Ideen gefragt, um neue Besucher zu gewinnen. […] Und diese Ideen müssen von Kaufmann recht bald einmal kommen – sonst sind (nach meiner unmaßgeblichen Einschätzung) seine Tage in Essen gezählt.” Die Ideen kamen nicht in den seither verstrichenen 515 Tagen – und jetzt ist Kaufmann ausgezählt.

Offenbar haben sich der Aufsichtsratsvorsitzende der TuP, Hans Schippmann (CDU), und seine zwölf Verschworenen zu lange von den unbestreitbaren künstlerischen Erfolgen des guten Prof. Kaufmann blenden lassen. Immerhin zeichnete der angesehene Deutsche Musikverleger-Verband ihn erst neulich noch für das beste Konzertprogramm der letzten Spielzeit aus. Der immer optimistisch strahlende Intendant war zudem bei seinen Mitarbeitern überaus beliebt. So beliebt, dass seine Pressesprecherin ihm nach dem Rauswurf noch mit einer offiziellen Presseerklärung der Philharmonie ihre Solidarität bekundete – und dafür gleich auch ihren Hut nehmen durfte.

Mindestens vorübergehend war Michael Kaufmann auch erfolgreich beim Eintreiben von Sponsorengeldern. Seit aber feststand, dass Essen die Kulturhauptstadt 2010 ist, waren die Wartezimmerstühle vor den Vorstandsbüros in den großen Firmen wohl deutlich besser besetzt als die Stühle des Musentempels an der Huyssenallee. Die Gelder wurden knapper. Erstaunlich immerhin, dass noch vor wenigen Tagen die Gründung eines „Kuratoriums der Philharmonie Essen” bekannt gegeben wurde, initiiert vom Vorstandsvorsitzenden der MAN Ferrostaal AG, Dr. Matthias Mitscherlich, und mit Beteiligung weiterer sieben Großunternehmen. Nun nennt Mitscherlich die Entlassung Kaufmanns „absolut unwürdig für eine Kulturhauptstadt, schädlich für Essen und abschreckend für Geldgeber”.

Dass die Entlassung Kaufmanns falsch war, sagt der MAN-Vorstandschef freilich nicht. Er stört sich bloß an der Form des „Vorgangs” – vermutlich, weil er davon erst aus der WAZ erfuhr. Solche gekränkte Eitelkeiten von Leuten, die fremdes Geld verteilen, fehlen noch, um das Bild einer Provinzposse zu vervollständigen. Und als i-Tüpfelchen möchte ich noch den Kommentar des Leiters der Stadtredaktion des hiesigen Provinzblättchens zitieren: „Dass auch ein Intendant sich an sein Budget halten muss, ist unstrittig. Das muss heute jede Führungskraft in seinem [!] Unternehmen.” Sollte Kaufmann von einer Intendantin abgelöst werden, muss Wulf Mämpel auf seine alten Tage noch deutsche Grammatik lernen. Dann sind wir endlich gewappnet für die Kulturhauptstadt Europas.

Der Flüsterer

Tuesday, 23. September 2008

Ein Dutzend Buchveröffentlichungen zu Lebzeiten, dazu über 200 Zeitungsartikel zwischen 1913 und 1950 verzeichnet meine Hans-Siemsen-Bibliographie mittlerweile, und es kommen ständig neue Textfunde hinzu. Siemsen, dessen literarischer Leistung man wohl am ehesten gerecht wird, ohne seine Bedeutung überzubewerten, wenn man ihn einen „Kleinmeister der kleinen Form” nennt, wurde nach seinem Tod 1969 im Otto-Hue-Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Essen-Holsterhausen gleich zweimal wiederentdeckt. In den 1980er-Jahren gab der Essener Verleger Michael Föster-Düppe in seinem Torso-Verlag eine dreibändige Ausgabe von Siemsens Schriften heraus. Und erst jüngst stellte der Literaturwissenschaftler Dieter Sudhoff zwei Sammlungen seiner Feuilletons zusammen. Sowohl Föster-Düppe (1942-1996) als auch Sudhoff (1955-2007) sind leider allzu jung verstorben.

Siemsen hat sich schon in einer Zeit, als dies noch mit großen persönlichen Risiken verbunden war, offen zu seiner Homosexualität bekannt, was ihn posthum, in der Zeit des Coming-out seit den 1970er-Jahren, zu einem Vorkämpfer der Schwulenbewegung gemacht hat. Dabei steht dieses Thema in seinem Werk durchaus nicht im Vordergrund, von den „Jungensgeschichten” in Das Tigerschiff (1923) einmal abgesehen.

Wenn man um seine sexuelle Orientierung weiß, dann erklärt man sich vielleicht die Zartheit seines Tonfalls, seine geschärfte Sensibilität, seinen Blick auf das Unscheinbare damit und findet bei ihm möglicherweise gar den typischen Ausdruck einer „schwulen Ästhetik”. Das kann aber ebenso gut auch reine Einbildung sein und der Leser sollte sich hüten, sich im Zuge einer solchen Interpretation zu neuen Vorurteilen verleiten zu lassen.

Folgende Schwerpunkte in der Themenwahl des Feuilletonisten Hans Siemsen in den Jahren zwischen den Weltkriegen lassen sich ausmachen: Film, Varieté, Kunst, Literatur und Reiseimpressionen. Ein im engeren Sinne politischer Autor war er nicht, wenngleich die Zeitläufte ihn zwangen, Stellung zu beziehen. Mit seinem Reisebuch Russland ja und nein (1931) und seinem Erlebnisbericht Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers (engl. 1940, dt. 1947) hat er zuletzt zwei hochpolitische Werke vorgelegt, deren Tendenz aber nicht ideologisch determiniert ist, sondern – wie zuvor schon Die Geschichte meines Bruders (1923) – einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden folgt.

Was mich aber hauptsächlich an Hans Siemsens Texten fasziniert, das ist ihr völliger Verzicht auf kraftmeierisches Auftrumpfen. Nirgends sagt er direkt oder auch nur hinter vorgehaltener Hand Sätze wie diese: ,Ich weiß, was wahr und was falsch ist! Ich hatte ein starkes Erlebnis! Was ich jetzt erzähle, haut euch garantiert vom Hocker, denn es ist völlig neu und überraschend!‘ Ganz im Gegenteil ist seine Tonlage die einer leisen Behutsamkeit – und das in den Roaring Twenties, die uns im Rückblick erscheinen mögen wie ein nicht enden wollendes Silvesterfeuerwerk vor den tausendjährigen Jahren der Finsternis.

GEZ

Monday, 22. September 2008

In der vorigen Woche bekamen wir unangemeldeten Besuch. Vor der Wohnungstür stand ein ernster Herr mittleren Alters, nennen wir ihn Spyri, der mir ein Schreiben mit dem Briefkopf des Westdeutschen Rundfunks (WDR) unter die Nase hielt, seinen Namen nannte und mich mit den Worten begrüßte: „Sie sind, wie ich hier in meiner Liste sehe, ja auch Kunde bei uns.” Ohne mit der Wimper zu zucken, bestätigte ich dies, schickte allerdings gleich die Einschränkung hinterher: „Ja, allerdings nur als Radiohörer. Ein Fernsehgerät haben wir nach wie vor nicht.”

Erst nachträglich wunderte ich mich, warum sich der Kontrolleur – denn um einen solchen handelte es sich ja wohl – als WDRMitarbeiter ausgewiesen hatte und nicht als Emissär der Gebühreneinzugszentrale (GEZ). Inzwischen weiß ich aber, dass diese auf Provisionsbasis tätigen Gebühreneinzugsbeauftragten, wie die Leute im Amtsdeutsch heißen, von den jeweiligen Landesrundfunkanstalten ausgesandt werden. Die GEZ ist lediglich ein Dienstleistungszentrum der Sender und keine rechtsfähige Institution, die einen eigenen „Secret Service” betreiben dürfte.

„Haben Sie kein Fernsehgerät – oder nutzen Sie es nur nicht?” Herr Spyri blätterte dabei in seinen Unterlagen, als könnte er mit ihrer Hilfe den Wahrheitsgehalt meiner Antwort auf diese bohrende Frage unverzüglich überprüfen. Das Rascheln der Papiere hätte einem Schuldbewussten nun wohl wie ein drohendes Donnergrollen erscheinen können, für mich aber galt: ‘A quiet conscience sleeps in thunder!’ „Nein, wir haben keinen Fernseher, ob Sie’s glauben oder nicht!” Daraufhin verabschiedete sich Herr Spyri auch schon wieder. Das war ja, für beide Seiten, ein kurzes Vergnügen.

Zufällig befand ich mich gerade im Begriff, meinen Papierkorb zu den Abfalltonnen zu tragen, als der GEZ-Mann klingelte. Diesen Vorsatz setzte ich nun in die Tat um und trat vors Haus. Da bemerkte ich einen Polizeiwagen, der im Schritttempo unsere stille Einbahnstraße entlangfuhr und dreißig Meter weiter neben Herrn Spyri anhielt. Es kam zu einem kurzen, aber intensiven Austausch zwischen den Ordnungshütern und dem Gebührenfahnder, ganz so, als kenne man sich und kooperiere im besten Einvernehmen.

Ich will mich jetzt aber davor hüten, unbegründbare und erst recht unbeweisbare Verdächtigungen gegen staatliche Beamte oder einen selbstständig tätigen Subunternehmer im Auftrag einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt auszustoßen. Vielleicht haben die Polizisten Herrn Spyri bloß nach dem Weg gefragt? Vielleicht kam er ihnen ja sogar verdächtig vor, wie er da von Haus zu Haus ging, mit seinem Klemmbrett und seinen raschelnden Formularen: „Dürfen wir mal fragen, was Sie hier eigentlich machen?” Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König. Auch ist wohl ein rein’s Gewissen stets ein gutes Ruhekissen.

Dingwelt (III)

Sunday, 21. September 2008

Heute: Schachuhr. – Meine habe ich 1981 bei Spielwaren Roskothen am Kornmarkt 7 in der Essener Innenstadt gekauft. Sie hat damals 69,00 D-Mark gekostet, Gehäuse aus Buchenholz, 150 mm breit, 80 mm hoch und 40 mm tief, Uhrenwerke mit goldenen Blenden. Ein zum Verwechseln ähnliches Modell ist heute noch im Handel. Der Preis dafür hat sich erstaunlicherweise nahezu gehalten, während Roskothen vor ein paar Jahren gegen die übermächtige Konkurrenz von Toys “R” Us die Segel streichen musste. Jetzt lockt am Kornmarkt ein 1-Euro-Shop mit seinen Supersonderangeboten: „Nix Teuro – nur ein Euro!”

Für den Schachlaien erkläre ich mal kurz und bündig die Funktionsweise dieses Uhrenzwillings. Die Zifferblätter zeigen die verbleibende Zeit der beiden Spieler an. Bei Blitzschachpartien ist die Bedenkzeit für jeden Spieler auf insgesamt fünf oder zehn Minuten begrenzt, bei Turnierpartien auf ein oder zwei Stunden. Entsprechend werden die beiden Uhrwerke voreingestellt. Die Schachuhr steht an einer Seite des Bretts zwischen den Spielern. Der anziehende Spieler mit den weißen Figuren betätigt nach seinem Eröffnungszug als erster das Knöpfchen über seiner Uhr und setzt damit das Laufwerk der gegnerischen Uhr in Gang. Wenn Schwarz seinen ersten Zug gemacht hat, verfährt er ebenso, und nun tickt wieder die Uhr von Weiß. Wenn die Bedenkzeit eines der beiden Spieler abgelaufen ist, bevor ein reguläres Spielergebnis (Matt, Remis oder Spielaufgabe) erreicht wurde, dann hat dieser durch Zeitüberschreitung verloren. An der Uhr ist dies erkennbar, indem der Minutenzeiger das kleine rote „Fallbeil” kurz vor der Zwölf auf dem Zifferblatt anhebt und schließlich fallen lässt.

Ich habe mich auf dem hölzernen Brett ans Schachspielen mit begrenzter Zeitvorgabe nie gewöhnen können. Immer wieder vergaß ich im Eifer des Gefechts, mein Knöpfchen zu drücken und geriet dadurch in Zeitnot. Darum gab ich, zumal ich nur ein Hobbyspieler bin, das Spiel mit der Schachuhr bald wieder dran. Insofern war die Geldausgabe für diesen speziellen Zeitnehmer eine Fehlinvestition.

Seit ich gelegentlich dem Online-Schachspiel fröne, habe ich aber den besonderen Reiz des Spielens auf Zeit entdeckt. Hier muss man sich um die Schachuhr nicht weiter kümmern. Das Drücken aufs Knöpfchen erübrigt sich, denn die Umstellung auf die Uhr des Gegners erfolgt automatisch, sobald ich meinen Zug vollendet habe.

Was tun mit der Schachuhr in Buchenholz? Neulich kam mir in den Sinn, dass man sie für Streitgespräche zwischen zwei Kontrahenten nutzen könnte. Wie oft hört man doch in solchen verbalen Konflikten den Vorwurf: „Du lässt mich ja nie ausreden!” Oder die rhetorische Frage: „Darf ich vielleicht auch mal etwas sagen?” In solchen Begegnungen könnte die Schachuhr als unbestechlicher Richter über die Einhaltung des fairen Gleichheitsgrundsatzes wertvolle Dienste tun. Wer weiß? Vielleicht wäre manche gescheiterte Ehe mit diesem so einfachen und neutralen Zeitmessgerät zu retten gewesen.

Snapshot (II)

Saturday, 20. September 2008

Die Vorhaltungen, die ich häufig von mir wenig gewogenen Fremden zu hören bekomme: dass ich ein unleidlicher Stänkerer sei, ein verkappter Spießer, wie ja schon mein Familienname sagt, ein bornierter Möchtegern-Intellektueller mit Hang zum Elitarismus, ein langweilender Faktenhuber und zugleich cholerischer Haudrauf – geschenkt! Da geht die Kritik der näheren Mitmenschen, die einen Blick auf die Person und nicht bloß auf ihr Geschreibsel tun, schon eher an die Nieren.

Richtig weh tut mir aber nur der Selbsthader. Das unbarmherzige Über-Ich macht mir mit seinem distanzlosen Geraune oft genug das Leben zur Hölle. Schon dass es mich ungefragt duzt! Und immer trifft es mich an meinen jeweils empfindlichsten Punkten. Heute zum Beispiel blies es mir diesen vernichtenden Tadel aufs Wernicke-Areal: ,Du fängst viel an – und führst nichts zu Ende!‘ So hatte ich vor einem Vierteljahr hier eine Serie von Schnappschüssen eröffnet, die über den ersten Beitrag nicht hinauskam.

Ist ja schon gut: ,Wird gemacht, Chef!‘ Setzen wir die Reihe also fort mit einem abgründigen Selbstporträt. Es zeigt den Autor, reflektiert von einer verspiegelten Fensterfront, sich selbst fotografierend und darum sein Gesicht hinter der Kamera verbergend. Das Foto ist von heute Mittag. Unter der Fensterfront, nicht mehr im Bild, befand sich früher eine ölig stinkende Imbissstube, in der ich vor 38 Jahren erstmals auf eigene Faust für 60 Pfennig eine Portion Pommes Mayo pickte.

Das Foto ist eine Fälschung insofern, als ich es bei der Bildbearbeitung vertikal gespiegelt habe. Sonst könntest Du die Firmeninschrift des gegenüberliegenden Geschäfts nur in Spiegelschrift lesen. Ich wollte es Dir aber leicht machen, damit Du auf den ersten Blick begreifst, warum dieser Schnappschuss für mich so aufgeladen ist mit Bedeutung. Dass ausgerechnet ein Geigenbauer jenen Familiennamen trägt, der in meiner Heimatstadt und weit darüber hinaus eine so unrühmliche Bekanntheit erwarb.

(Ich möchte noch aufmerksam machen auf den weißen Stoffbeutel, der unscheinbar zu Füßen des Fotografen an der Trennscheibe zum Gleis der Straßenbahnlinie 106 an der Haltestelle Rüttenscheider Stern lehnt. Er enthält vier soeben erworbene Dinge: drei panierte Fischfilets und eine Portion Kartoffelsalat, die dazu bestimmt sind, die Körperfunktionen des Fotografen für eine weitere Weile in Gang zu halten; und mit diesen das Erinnern, das Nachdenken, das Schreiben – und sein schlechtes, nun besänftigtes Gewissen.)

Montag, 16. Juli 1945: 33°40′ N, 106°28′ W

Friday, 19. September 2008

Das Ereignis hat wohl keinen seiner 260 Augenzeugen unbeeindruckt gelassen. Einige lachten, einige weinten. Die meisten schwiegen. Aber keiner würde es je vergessen können. Dass es stattgefunden hatte, sollte der Rest der Menschheit erst drei Wochen später erfahren. Bis dahin wurde das Ereignis vor der Öffentlichkeit als ein Unfall kaschiert, die bedauerliche Explosion eines Munitionsdepots in der Wüste von New Mexico.

Das Experiment „glückte” – wenn man in diesem Fall von Glück sprechen will. Die zur Entfaltung kommende Zerstörungskraft übertraf um ein Vielfaches alles, was der Mensch bisher auf dem Weg von der Steinschleuder bis zur V2 an Mordwerkzeugen ersonnen hatte. Zwei Milliarden Dollar Steuergelder hatten die Vorbereitungen verschlungen. Nun musste die Bombe auch zum Einsatz kommen, um sich bezahlt zu machen.

Die Augenzeugenberichte der Wissenschaftler, die die Wirkung der neuen Waffe berechnet hatten, machen den naiven Leser noch heute schaudern. Diese Mischung aus Erleichterung und Entsetzen, die aus ihnen spricht, sollte zu denken geben. „Ich glaube, einen Augenblick lang dachte ich, die Explosion könnte die ganze Atmosphäre in Brand setzen und so der Welt ein Ende bereiten, obwohl ich wußte, daß das nicht möglich war.”

Emilio Segrè, der italienische Physiker und spätere Nobelpreisträger, der als Jude 1936 zur Emigration aus dem faschistischen Italien gezwungen wurde, seit 1943 als Gruppenleiter am Manhattan-Projekt des Los Alamos National Laboratory mitwirkte und den ich hier zitiere, bewahrte sich bei aller mathematisch-physikalischen Gewissheit jenen Rest irrationalen Zweifels, der vielleicht den besseren Teil unseres begrenzten Verstandes ausmacht.

Gerade einmal 63 Jahre nach dem Experiment bei Alamogordo im US-Bundesstaat New Mexico spielen Prometheus’ Urenkel in der Nähe von Genf wieder einmal Russisches Roulette. Der Large Hadron Collider, den die Physiker dort jüngst in Betrieb genommen haben, ist ebenfalls nicht mehr zu stoppen, hat er doch stolze drei Milliarden Euro Steuergelder verschlungen. Diesmal geht es nicht um den beschleunigten Endsieg über die „Japsen”, sondern um die Sicherung des Energiebedarfs der nach wie vor exponentiell wachsenden Weltbevölkerung. Das kontrollierte „Schwarze Loch” könnte ja vielleicht die Trumpfkarte gegen das bevorstehende Versiegen der Ölquellen sein. Die Bedenken gegen diesen neuesten Eingriff in die Gesetze der Schöpfung werden wie üblich als sektiererische Nörgeleien ins Abseits befördert – und Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg eilends abgewiesen. Probieren geht über Studieren? Na, ich weiß nicht.

[Die Fakten und Zitate zum Trinity-Test sind entnommen aus Richard Rhodes: Die Atombombe oder Die Geschichte des 8. Schöpfungstages. A. d. Am. v. Peter Torberg, Karl Heinz Siber, Johannes Bohmann, Herbert Allgeier, Uda Strätling u. Ulrike Bischoff. Nördlingen: Greno Verlagsgesellschaft, 1988. – Das Titelbild zeigt Robert Oppenheimer unterm weißen Cowboyhut und rechts neben ihm General Leslie Groves am Ground-Zero-Punkt des Trinity-Tests nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki.]

Orwell, well?

Thursday, 18. September 2008

Ich erinnere mich noch gut ans Eric-Arthur-Blair-Jahr. So heißt ja sein vielleicht folgenreichster Roman: Nineteen Eighty-Four, von – die letzten beiden Ziffern vertauschend – 1948. Da hat sich Mr. Always, wie er sich auch nannte, einiges zugetraut: den Blick in die Zukunft über drei Dutzend Jahre hinweg. Die meisten Romane, die die Zukunft ausfabulieren, entwickeln ein Bild, das hauptsächlich von den wissenschaftlichen Fortschritten und ihren möglichen Folgen bestimmt ist. Nicht ohne Grund heißt das Genre ja auch Science Fiction.

Das verstellt dem vorurteilsbeschränkten Leser, der seine Lektüre nach solchen oberflächlichen Genre-Kriterien ausfiltert, leider den Blick auf ein Dutzend überaus lesenswerter, dem Verständnis der Gegenwart zuträglicher Romanciers. George Orwell ist unter diesen ein Sonderfall, weil seine Verfolgungswahnideen, ähnlich denen Franz Kafkas, heute offenbar ein zutreffendes Bild der Ängste eines kultivierten Mitteleuropäers ergeben.

Beider Romanwerke taugen dann gemäß Erlass des Kultusministers als Schullektüre in der Oberstufe deutscher Gymnasien. Wäre man böswillig, dann könnte man sagen: Oberstufenbildung im Bereich der Geisteswissenschaften deutscher Gymnasien verfolgt das Ziel, Angst zu verbreiten. Da man aber gutwillig ist, gratuliert man der Bildungsbürokratie zu ihrer Arglosigkeit: Eine bessere Auswahl konntet ihr nicht treffen als diese beiden zum Selbstzweifel ermunternden Visionäre!

Die Welt vor zwei Dutzend Jahren, die nun auch bald wieder zur Geschichte des vorletzten Jahrhundertviertels gehört, hat sich der Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der trotzkistischen POUM als Überwachungsstaat ausgemalt. Seine Inspirationsquelle für diese Paranoia war die britische BBC, wo er von 1941 bis 1943 als Kriegspropagandist arbeitete. So bezwingend die Vorstellung sein mag, dass die Freiheit des Individuums durch einen totalitären Überwachungsstaat gefährdet ist, so harmlos ist sie doch angesichts der ernsteren Bedrohungen unserer Fortdauer auf diesem Planeten mittlerweile geworden.

Ich frage mal ketzerisch: Was ist an dem Satz “Big Brother is watching you!” eigentlich so bedrohlich? Mein großer Bruder passt auf mich auf, achtet auf mich, behält mein Wohlergehen im Auge. Das ist doch nicht beunruhigend, sondern schafft vielmehr ein angenehmes Gefühl von Sicherheit. Die Gesinnungspolizei hat ja schließlich nur einer zu fürchten, der was zu verbergen hat, oder? (Fortsetzung demnächst unter dem Titel „GEZ”.)

Dingwelt (II)

Thursday, 18. September 2008

Heute: Zuckerpott mit Löffel. – Ulla hat ihn vor vielen Jahren auf einem Basar an der Essener Freien Waldorfschule zum Spottpreis von zwei Mark erstanden. Wie lange ist das her? Das könnten wohl fast zwanzig Jahre sein, in denen er uns nun schon täglich gute Dienste leistet. Es ist ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!

Seine braune, wie hingewischte Glasur weist den Zuckerpott als ein bodenständiges, etwas hausbackenes, zünftiges, grundehrliches Gefäß aus. Er ist alles andere als ein artifizieller Luxusgegenstand für den großbürgerlichen Teetisch, wie die Zuckerdosen mit Deckel von Villeroy & Boch oder Hutschenreuther, die man alle paar Tage nachfüllen muss. Dieses Gefäß fasst gut ein Pfund Zucker, angemessen für eine Großfamilie. Kein Tag vergeht, an dem ich es nicht zur Hand nähme und mich aus ihm bediente, um meinen Kaffee zu süßen.

Soweit man das von einem toten Gegenstand sagen kann, liebe ich diesen Zuckerpott und würde ihm gewiss eine Zeit lang nachtrauern, wenn er doch einmal zerbräche. Dabei habe ich zu seiner praktischen Funktion, zu dem Dienst, den er mir leistet, ein mindestens zwiespältiges Verhältnis. So unkritisch bin ich ja nicht, dass ich nicht um die schädlichen Folgen raffinierten Zuckers für meine Gesundheit wüsste. Im Gegenteil! Ich habe mich mit dieser speziellen Ernährungsgewohnheit einmal sehr gründlich beschäftigt und mit Gewinn zwei Bücher zu diesem Thema gelesen.

Dass C12H22O11 kein harmloses Genuss-, sondern ein auf Dauer krank machendes Suchtmittel ist, für eine vollwertige, abwechslungsreiche und schmackhafte Ernährung absolut entbehrlich, das lernte ich aus William Duftys Zucker Blues (a. d. Am. v. Annemarie Telieps. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1996). Dufty kam zu dieser Erkenntnis durch Gloria Swanson, den legendären Stummfilmstar, deren sechster und letzter Ehemann er 1976 wurde, im gleichen Jahr, als sein Sugar Blues zuerst im amerikanischen Original erschien. Die Einsicht, dass der internationale Zuckermarkt ein kaum weniger mafiöses Krebsgeschwür ist wie der weltweite illegale Drogenhandel mit Heroin und Kokain, das wurde mir klar, als ich das Buch Zucker des Schweizer Journalisten Al Imfeld gelesen hatte (Zürich: Unionsverlag, 1983).

Rationale Erkenntnis ist ein erster Schritt – aber daraus ganz persönliche Schlüsse zu ziehen und eine lebenslange liebe Gewohnheit aufzugeben, ist ein langer und schmerzvoller Weg. Bis dahin habe ich weiter mein tägliches Tête-à-Tête mit dem Zuckerpott, den ich um seiner Treue willen liebe und wegen seines tödlichen Inhalts hasse. Vielleicht würde mir der endgültige Abschied vom Zucker leichterfallen, wenn ich wüsste, wozu ich den Pott anschließend nutzen könnte?

[Titelbild: Zuckerpott mit Silberlöffel und Zucker auf Raster 10 x 10 mm.]

Dingwelt (I)

Wednesday, 17. September 2008

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„Bundesbürger besitzen laut Statistik im Durchschnitt 10.000 Dinge. Sie helfen ihnen im täglichen Leben, steigern das Wohlbefinden, verschaffen soziales Ansehen und dienen oft auch der Kompensation unerfüllter Wünsche.“ So heißt es im Klappentext des Katalogs zu einer Wanderausstellung, die 1995/96 in fünf deutschen Museen gezeigt wurde und im Titel die interessante Frage stellte: Welche Dinge braucht der Mensch? (hrsg. v. Dagmar Steffen. Gießen: Anabas-Verlag, 1995.)

Ich weiß nicht, ob sich die Zahl der Dinge im Besitz von Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann seither noch erhöht hat. Im Klappentext heißt es weiter: „Und noch immer lautet die Maxime unseres Wirtschaftens: ,Je mehr, desto besser.‘“ Dieser konsumistische Lebensgrundsatz bestimmt wohl nach wie vor das Verbraucherverhalten, auch wenn die Reallöhne und damit die Kaufkraft in Deutschland seither gesunken sind. Fragwürdig ist zudem der Ding-Begriff, der solchen Zählungen zugrunde liegt. Wenn acht gleiche Stühle um meinen Wohnzimmertisch stehen, gehen sie vermutlich jeder für sich in die Summe meiner Dinge ein. Aber wie steht es mit hundert Heftzwecken oder tausend Büroklammern? Hier wird wohl die Packung mit Inhalt als ein Ding bewertet und das Einzelstück steht Pars pro Toto für seine ununterscheidbar gleichen Geschwister.

In lockerer Folge werde ich hier einige bemerkenswerte Dinge aus meinem Besitz vorstellen und sie auf ihre – im weitesten Sinne – Brauchbarkeit hin prüfen: dauerhafte und verderbliche, schöne und hässliche, täglich genutzte und längst vergessene, erworbene und gefundene, gestohlene und ererbte, winzig kleine und sperrig große. Die vielgestaltige Dingwelt, mit der wir uns umgeben, ist ja manches zugleich: Kokon, Werkzeugkasten, Heimat, Luftschloss, Rumpelkammer und Herd.

Im Titelbild will ich das jeweilige Ding im Foto zeigen, bevor ich mich ihm forschend, erklärend und deutend zuwende. Heute, beim Eintritt in meine private Dingwelt, präsentiere ich ein Lineal aus gelbem Plastik, Werbegeschenk eines Telefonbuchverlags, 30 Zentimeter lang, 30 Gramm schwer, wohl aus den 1970er-Jahren.

Auf seiner Rückseite erklärt es kurz und bündig eine Fertigkeit, die ich dank meiner Ausbildung zum Buchhändler vor dreißig Jahren noch perfekt beherrsche, die aber dank der komfortablen Suchfunktionen des Internets im Aussterben begriffen ist: das Auffinden eines Begriffs in einem alphabetisch nach DIN 5007 geordneten Verzeichnis. In dieser praktischen Gebrauchsanweisung steht schwarz auf gelb der berückende Satz: „Für alle Dinge, die nicht nur zur eigenen Orientierung bestimmt sind, muß eine Regel gefunden werden, nach der sich alle Anwender richten müssen.“ Sooft ich diesen Satz schon gelesen habe – noch nie konnte ich seinen gewiss tiefen Sinn ergründen. Und nie könnte ich mich von diesem flexiblen Maßstab trennen. (Das Plastik knistert leise, wenn man es biegt.)

Bloody Print

Tuesday, 16. September 2008

blood

Manch helfende Hände wirken uns zu Diensten im Verborgenen, schemenhaft hinter den Kulissen unseres Alltags oder im Dunkel der Nacht, während wir noch in süßen Träumen schweben, gelegentlich auch uns unter der Last eines Albdrucks im schweißgetränkten Linnen wälzen. So der Bote, der frühmorgendlich die Tageszeitung meiner Wahl durch den Briefkastenschlitz schiebt, irgendwann zwischen halb sechs und halb sieben.

Ich bin, seit Eintreten meiner Andropause, obwohl Spät-zu-Bett-Geher doch ein Frühaufsteher, kurzum: ein „Wenigschläfer“. Diese unterdurchschnittliche Verweildauer in Morpheus’ Armen mag meine Lebenserwartung, nach Jahren gerechnet und statistisch betrachtet, zwar verkürzen. Per saldo gesehen jedoch erreiche ich vermutlich auf diese ungesunde Art die gleiche quicklebendige Wachzeit wie ein Langschläfer und kann die entgangenen Tiefschlafphasen dann ja post mortem nachholen.

Ein eher unbeträchtlicher der vielen Vorteile, die dieser untypische Lebensrhythmus mit sich bringt, ist der, dass ich gelegentlich vom unbekannten Zeitungsboten wenigstens einen akustischen Eindruck empfange. Wenn ich früh genug erwache und er spät genug kommt, vernehme ich deutlich das Klappern des Briefkastendeckels. Heute kam ich verhältnismäßig spät zur Besinnung, so gegen sechs Uhr. Und da mein Haupt durch keine unabweislichen Gedankengänge mehr zum Verweilen auf dem Federpfühl veranlasst ward, erhob ich mich, um nach dem Morgenblatt zu schauen.

Zufällig just in dem Moment, als ich den Kasten von innen öffnete, wurde von außen die Zeitung hereingeschoben. Das Hineinstecken jenseits und das Herausnehmen diesseits verschmolzen, wohl für beide Beteiligten gleichermaßen überraschend, zu einer fließenden Bewegung. Dieser Zufall, nach tausend distanzierteren Zustellungen ein Fall mit hohem Seltenheitswert, war wunderlich genug. Noch wunderlicher speziell für mich war aber, dass ich auf der Frontseite meiner Zeitung eines roten Flecks gewahr wurde, der sich bei näherer Betrachtung als frischer Blutstropfen erwies. [Siehe Titelbild.]

Solche merkwürdigen Flecke hatte es auf der Zeitung früher schon öfter mal gegeben, allerdings konnte ich mir bisher ihre Herkunft, da sie bereits abgetrocknet und nachgedunkelt waren, nicht recht erklären. Woher nun dies? Meine Theorie: Der Zeitungsbote ist Diabetiker, der in regelmäßigen Abständen eine Blutzuckermessung vornehmen muss. Gerade in unserer stillen Straße findet er dazu die passende Gelegenheit. Und wenn er kurz darauf die Zeitung falzt, damit sie durch den Briefkastenschlitz passt, hinterlässt er besagte Spur. Wüsste ich nicht aus nahezu unmittelbarer Erfahrung, welches Päckchen die von dieser scheußlichen Krankheit Betroffenen zu tragen haben, ich würde mich vermutlich als zahlender Abonnent bei der Telefonhotline meiner Tageszeitung beschweren. So aber lege ich meine schützende über diese helfende Hand – und schweige.

The Bomb

Tuesday, 16. September 2008

harris

Ich lese gerade einen Roman des Iren Frank Harris: Die Bombe. Das Buch erschien im Original zuerst 1908 in London. Der Ich-Erzähler, ein Rudolf Schnaubelt aus Lindau bei München, stellt sich gleich eingangs als jener Mann vor, der am 4. Mai 1886 am Haymarket in Chicago bei einer sozialistischen Kundgebung die Bombe warf, die „acht Polizisten getötet und sechzig verwundet hat. Jetzt liege ich hier in Reichholz in Bayern unter falschem Namen, todkrank an Schwindsucht und habe endlich den Frieden gefunden.“ (Frank Harris: Die Bombe. A. d. Engl. v. Antonina Vallentin. Berlin: E. Laubsche Verlagsbuchhandlung, 1927, S. 9.)

Tatsächlich war Rudolph Schnaubelt (1863-1901) einer der vielen Tatverdächtigen, die für das nie aufgeklärte Verbrechen verantwortlich gemacht wurden. Dank Harris’ Roman stand er sogar zeitweise ganz oben auf der Liste – und in der Wikipedia steht er dort noch immer, obwohl Zeitgenossen, die Schnaubelt persönlich gekannt hatten, energisch widersprachen. Auch die anarchistische Freiheitskämpferin Lucy Parsons (~1853-1942), Witwe eines der „Haymarket Eight“, hatte keine hohe Meinung von The Bomb, das 1909 auch in den USA erschienen war: “A lie from cover to cover!” (Brief v. 17. Januar 1933 an Carl Nold; zit. nach Henry David: The History of the Haymarket Affair. New York: Farrar & Rinehart, 1936.)

Der Roman hat aber noch ganz andere Schwächen. Frank Harris gibt darin dem Leser einen Vorgeschmack zu kosten auf jene unfreiwillig komischen Schilderungen seiner zahllosen Liebschaften, die den schwächsten Teil seiner fünfbändigen Autobiographie My Life an Loves (1922-1927) ausmachen. Die Liebesaffäre zwischen Schnaubelt und der Stenotypistin Elsie Lehmann trägt zum Thema des Romans, der „Haymarket Affair“, kaum etwas bei. Vielleicht hat der Autor sie eingestreut, um auch bei seiner weiblichen Leserschaft Anklang zu finden?

Eine Kostprobe kann ich mir nicht verkneifen: „Meine Leidenschaft war voller Zwischenfälle, schien mir immer neu und überraschend. Das erstemal, als ich ihren Nacken küßte (der Gedanke daran treibt mir noch heute das Blut ins Gesicht), bildete eine neue Epoche in meinem Leben, jede Umarmung war ein Rausch […]. Ich war von einer unsinnigen Neugier nach ihrem Körper gequält. Ihre Hände waren so schmal und schön; ich wollte ihre Füße sehen und fand sie zu meinem Entzücken ebenfalls schmal und gewölbt mit zarten Fesseln. Aber sie stieß mich zurück.“ (Harris, a. a. O., S. 127.)

Durchaus heute noch lesenswert hingegen sind die Schilderungen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Senkkammern beim Bau der Brooklyn Bridge in New York (Ebd., S. 33-40) und in den Chicagoer Streichholzfabriken (S. 106 f.) sowie über die katastrophalen hygienischen Zustände in den Schlachthöfen (S. 146-148), die zuvor schon Upton Sinclair in seinem großen Roman The Jungle (1906) zum Thema gemacht hatte. – Ich habe das Buch erst zur guten Hälfte gelesen und will immerhin wissen, wie es ausgeht. Vielleicht folgt dann noch eine abschließende Bewertung.

FINITE JEST CABLE

Monday, 15. September 2008

wallacesun

+++ POSTMODERN WRITER IS FOUND DEAD AT HOME +++ AUSDRUCK REINSTER VERZWEIFLUNG STOP GESCHICHTEN VOLL DER UNGEWOEHNLICHSTEN TODESARTEN STOP WIE DROGENBEFEUERTES SCHREIBEN STOP TRUNKEN VON ABSCHEU UEBER DIE WARENWELT STOP LUFTSCHNAPPEN IM MEER DER DIESSEITIGKEIT STOP UNENDLICH TALENTIERTER UND NICHT BLOSS SCHLECHT GELAUNT STOP MIKROSKOPISCH GENAUE SCHILDERUNG STOP VERZWEIFLUNG UEBER DEN NIEDERGANG AMERIKAS STOP BEIM TOD WEISS AUCH DIE LITERATUR NICHT MEHR WEITER +++

+++ DER SPRACHMAECHTIGE BELESENE HOCHGRADIG REFLEKTIERTE UND GENIALISCHE SCHRIFTSTELLER STOP MEDIALISIERUNG UND POPKULTURALISIERUNG UNSERER GEGENWART STOP EINER DER BEGABTESTEN TENNISSPIELER STOP UNTER DIE OBERFLAECHE STOP HINTER DEN SCHEIN STOP KOMPLEX VERSCHLUNGENE MANCHMAL VERSTOERENDE MANCHMAL BEWUSST STILLOSE PROSA STOP MITUNTER TOXISCHE WIRKUNG STOP NICHT IMMER EIN REINES VERGNUEGEN STOP QUAELEND FAST ABSTOSSEND +++

+++ DER WICHTIGSTE KOMISCHSTE ANREGENDSTE SCHRIFTSTELLER DER AMERIKANISCHEN LITERATUR DER LETZTEN ZWANZIG JAHRE STOP UM DEN WAHNSINN ZU KOMPLETTIEREN ANZUSPITZEN ZU VERDICHTEN STOP IN DER VERBLOEDETEN KORRUPTEN UND VERFETTETEN MEDIEN UND KONSUMWELT STOP ARTISTISCH HOCHKOMISCH GNADENLOS STOP DER GANZE KREUZFAHRT WERBE FERNSEHMIST STOP THERAPIE BEDUERFTIGKEITS GEBRABBEL STOP SEINEN EIGENEN NACHRUF VORWEGGENOMMEN STOP NACH LEISTUNGSSPORT DROGEN MATHEMATIK UND WORTMONSTEREXISTENZ +++

+++ DER ZU REDEN NICHT AUFHOEREN KONNTE STOP DER ERZAEHLEN UND ABSCHWEIFEN MUSSTE STOP ZWANGHAFT KOMMENTIERTE STOP NOCH VON DER ABSCHWEIFUNG ABSCHWEIFTE STOP IM MANISCHEN BEMUEHEN EINER UEBERKOMPLEXEN WELT GERECHT ZU WERDEN STOP SCHLEUDERTE BLITZE UND GROLLTE WIE DONNER STOP HOCHINTELLIGENTES WOERTERBUCHVERLIEBTES TENNISASS STOP UNTER GENIE VERDACHT STOP AUF DEM KAMM EINES LACHENS HOCH UEBER EINEM GAEHNENDEN ABGRUND +++

+++ AUGENZWINKERNDE IRONIE STOP WIE KAUM EIN ZWEITER STOP AUSRUFEZEICHEN HINTER EINEM LEBEN DAS VON INSTITUTIONEN GEPRAEGT WAR STOP KASCHIERTE BRUECHIGKEIT STOP SUMMA CUM LAUDE STOP DER OFFENBAR FOLGSAME UND VORBILDLICHE STOP TYPISCHERWEISE BIRST DER TEXT VOR FABULIERKUNST STOP DASS ER BISWEILEN STUNDENLANG AN KOMMAS FEILE STOP IM ZENTRUM STEHEN UND ZUM EXZELLENT BEOBACHTETEN SCHRILLEN DOCH GLAUBWUERDIGEN PANOPTIKUM DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT WERDEN +++ ALAS POOR DAVID STOP I KNEW HIM STOP A FELLOW OF INFINITE JEST +++

[Dieser Nekrolog auf David Foster Wallace, geb. am 21. Februar 1962 in Ithaca, New York, gest. am 12. September 2008 in Claremont, Kalifornien, ist im Wesentlichen eine Montage aus folgenden Würdigungen in den deutschsprachigen Feuilletons v. 14./15. September 2008. – Abs. 1. Willi Winkler: Die unentrinnbare Unterhaltung; in: Süddeutsche Zeitung. – Abs. 2. Gerrit Bartels: In Zukunft ohne mich; in: Tagesspiegel. – Abs. 3. Guido Graf: Manischer Zweifler; in: Frankfurter Rundschau. – Abs. 4. Wieland Freund: Sterben ist nicht schlimm; in: Die Welt. – Abs. 5. Thomas Leuchtenmüller: Am Ende der grossen Freiheit; in: Neue Zürcher Zeitung.]

Märchen (II)

Thursday, 04. September 2008

suzannetamim

Neulich habe ich hier von dem grausamen Mord an der libanesischen Popsängerin Suzan Tamim berichtet, nicht um den blutrünstigen Skandalmeldungen der Weltpresse Konkurrenz zu machen, sondern weil mich an diesem speziellen Fall die Wirksamkeit von Zensurmaßnahmen über die Grenzen eines halbtotalitären Staates wie Ägypten hinweg bis hinein in unsere angeblich doch so freie Medienwelt hinein empörte.

Der Spiegel hatte sich über die Nachrichtensperre mokiert, die dort die Nennung des Namens eines einflussreichen Immobilen-Tycoons unterdrücken wollte. Jener Hesham Talaat Mustafa war in dringenden Verdacht geraten, den Mord an Tamim in Auftrag gegeben zu haben. Peinlich fand ich, dass der Spiegel eine dicke Lippe riskierte, den Namen aber ebenfalls unterdrückte. Inzwischen wurde der Milliardär verhaftet. Und jetzt traut sich auch der Spiegel, seinen Namen zu nennen.

Nicht so die Süddeutsche Zeitung, die heute auf ihrer „Panorama“-Seite unter Berufung auf die Nachrichtenagentur Associated Press meldet: „Kairo – Der Mord an der arabischen [!] Popdiva Susanne [!] Tamim ist aufgeklärt: Die Polizei verhaftete einen der reichsten Unternehmer Ägyptens. Oberstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmud sagte, der Mann werde verdächtigt, einem ehemaligen Polizisten zwei Millionen Dollar für die Tat bezahlt zu haben. […] Der festgenommene Unternehmer ist Mitglied der regierenden Nationaldemokratischen Partei und soll für das Kabinett [von Staatspräsident Muhammad Husni Mubarak] in Erwägung gezogen worden sein. Die ägyptische Regierung hatte die Berichterstattung über den Fall untersagt. Mehrere Zeitungen beklagten [sich] daraufhin, die Regierung schütze den Geschäftsmann. Er machte sein Vermögen mit Immobiliengeschäften in der Golfregion. Staatsanwalt Mahmud erklärte, der ebenfalls verhaftete Expolizist sei Tamim nach Dubai gefolgt und habe sie dort ermordet.“ (SZ Nr. 206 v. 4. September 2008, S. 10.)

Von der Bild-Zeitung unterscheidet sich die Süddeutsche dadurch, dass sie die Gelegenheit verstreichen lässt, ihren Lesern zum Frühstück noch einmal die grausamen Details der Tat in Erinnerung zu rufen. Von einem ernst zu nehmenden Nachrichtenmedium unterscheidet sie sich dadurch, dass sie allerlei unterschlägt, was doch unbedingt zur Sache gehört: dass der gedungene Auftragskiller Mahmoud el-Sukkary nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes von Hesham Talaat Mustafa war; dass er nach seinem Geständnis im Kairoer Gefängnis selbst auf unbekannte Weise zu Tode gekommen ist; dass der mutmaßliche Auftraggeber des Mordes Beziehungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft hat und Mitglied des Schura-Rates, des Oberhauses des ägyptischen Parlaments, ist – und natürlich seinen Namen: Hesham Talaat Mustafa. (Stattdessen wissen die SZ-Leser nun, wie der ermittelnde Oberstaatsanwalt heißt.)

Und einen solchen Artikel setzt die Süddeutsche Zeitung in vollem Ernst unter die Überschrift: „Mord an arabischem Popstar aufgeklärt“! Tatsächlich ist doch bloß durch die Verhaftung des Hesham Talaat Mustafa noch gar nichts aufgeklärt. Auch für ihn gilt bis zur Verurteilung in einem ordentlichen Gerichtsverfahren die Unschuldsvermutung in dubio pro reo. Und alle in diesem Fall wirklich interessanten Fragen wurden noch gar nicht gestellt, geschweige denn beantwortet: Was war das Tatmotiv von Hesham Talaat Mustafa, wenn er denn der Auftraggeber des Mordes an Suzan Tamim war? Was veranlasste die Machthaber in Ägypten, die Berichterstattung über den Mord wochenlang zu verhindern? Wie kann der wichtigste Belastungszeuge, der beauftragte Mörder, kurz nach seinem Geständnis in einem ägyptischen Gefängnis zu Tode kommen? – Und was soll man von einer angesehenen überregionalen Tageszeitung in Deutschland halten, wenn sie hinter den Mord an Suzan Tamim einen banalen Haken setzt, statt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln des investigativen Journalismus nachzubohren und dem einzigen Geschäft nachzugehen, das ihre Existenz rechtfertigt: der Aufklärung?

Tauchen (I)

Wednesday, 03. September 2008

skulpturpaul

Als ich dem Essener Historiker Dr. Ernst Schmidt vor zwanzig Jahren das Foto von der Bücherverbrennung am 21. Juni 1933 auf dem Gerlingplatz übergab, das ich kurz zuvor zufällig bei einem Freund entdeckt hatte, revanchierte er sich mit einem Gegengeschenk. Seine Sammlung zur Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Essen enthielt auch den Nachlass von Paul Waldhorst, einem Kommunisten, der in Sachsenhausen und Oranienburg im KZ gesessen hatte. Dieser Mann, den ich als Kind noch persönlich kennen gelernt und in lebhafter Erinnerung habe, war mit einer älteren Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits verheiratet.

Dr. Schmidt übergab mir also eine zehn Zentimeter hohe Messingskulptur auf grauem Marmorsockel, die aus dem Vorbesitz dieses angeheirateten Großonkels stammte. Dieser „Onkel Päule“, wie er in unserer Familie genannt wurde, konnte mit seinen alten KZ-Geschichten die holdselige Stimmung jeder Weihnachtsfeier erbarmungslos auf den Nullpunkt treiben. Als Mitte der 1960er-Jahre die „Hippies, Rocker und Gammler“, wie die jugendlichen Rebellen gegen das Wirtschaftswunderland BRD damals summarisch genannt wurden, ihre Verweigerungshaltung durch lange Haare, lässige Kleidung und provokantes Herumlungern zur Schau stellten, empörte sich „Päule“, der Rebell einer anderen Zeit, mit dem mir unvergesslichen Ausspruch: „Bei uns im KZ hätte es das nicht gegeben!“

Das goldige Figürchen, das ich gestern mal wieder hervorgekramt und entstaubt habe, zeigt sechs unbekleidete Männer vor einem Pfahl, an dem sie ihre Hinrichtung durch ein faschistisches Exekutionskommando erwarten (siehe Titelbild). Die aufgeklebte Inschrift auf dem Marmorsockel lautet: „Souvenir de Châteaubriant“. Paul Waldhorst hat es von einer Frankreichreise mit der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) aus dem kleinen Städtchen in der Bretagne mitgebracht.

Wie ich jetzt dank einer Internet-Recherche weiß, handelt es sich um eine miniaturisierte Nachbildung des Denkmals an der Carrière des Fusillés in Châteaubriant, das an ein blutiges Verbrechen der deutschen Besatzer erinnert. Am 22. Oktober 1941 wurden dort zur Vergeltung für die Ermordung des Feldkommandanten von Nantes, Oberstleutnant Karl Hotz, 27 kommunistische Häftlinge aus dem Internierungslager Châteaubriant erschossen. Das jüngste Opfer war der gerade einmal 17 Jahre alte Guy Môquet. Sogar zwei Fotos des Originalmonuments habe ich im Internet gefunden.

Dieses Hinabtauchen in die Geschichte mit den Mitteln moderner Technik, ausgehend von einem rätselhaften Gegenstand aus ferner Zeit, der konkret greifbar vor mir auf dem Tisch steht, hat für mich etwas Berauschendes, eine Wirkung, die ich mir rational gar nicht erklären kann. Mit dem neuen Wissen um die Bedeutung der kleinen Skulptur, die sich schon so lange in meinem Besitz befindet, hat meine Beziehung zu ihr zugleich etwas gewonnen und etwas verloren. Sie ist nun nahezu restlos erklärt – aber sie hat mit ihrer Rätselhaftigkeit auch etwas von ihrem Zauber eingebüßt.

Abwege

Tuesday, 02. September 2008

marcuseludwig

Die Beschäftigung mit dem Schicksal des nahezu vergessenen deutschen Schriftstellers Hans Siemsen hat mein Interesse für jenes malerische Fischerstädtchen an der Côte d’Azur geweckt, das in den Jahren nach 1933 und erst recht nach 1940 so vielen Intellektuellen auf der Flucht vor dem Naziregime eine vorübergehende Bleibe bot.

Die meisten der 36 Personen, die die Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet und die in jener dunklen Zeit an der „französischen Riviera“ zusammentrafen, waren mir längst vertraut. Auch mit einigen heute weniger Bekannten aus dieser geistigen Elite – wie Franz Hessel und Mechtilde Lichnowsky – hatte ich mich aus anderen Gründen früher einmal intensiv beschäftigt. Andere Namen kannte ich nur vom Hörensagen – wie Franz Theodor Csokor oder Valeriu Marcu. Und wieder andere hatten zwar gelegentlich mein Interesse geweckt, das immerhin so weit ging, ihre verstaubten Bücher zu Spottpreisen von den Flohmarkttischen aufzupicken, aber doch nicht weit genug, um anschließend die Nase hineinzustecken. Zu diesen zählen etwa Arnold Zweig, Alfred Neumann und Bruno Frank.

Wenn meine seltenen Gäste ihre Augen über meine Bücherregale schweifen lassen, mit einem Blick, der zwischen Staunen und Spott kein rechtes Mittelmaß findet, und wenn sie dann die banausische Frage über die Lippen bringen, ob ich das etwa alles gelesen habe, dann vergeht mir jede Lust, sie in den Keller hinabzuführen und ihnen die eigentlichen Schätze meiner Büchersammlung zu zeigen, aufbewahrt in glücklicherweise staubfreien, trockenen Katakomben. Oben ist Repräsentation, unten lockt das ungelüftete Geheimnis.

Die Beschäftigung mit dem Schicksal des nahezu vergessenen deutschen Schriftstellers Hans Siemsen hat mich auf Umwegen, die abzuschreiten an dieser Stelle leider zu weit führen würde, gestern wieder einmal veranlasst, im Chaos dieses bibliomanen Verlieses, mit der Taschenlampe in der zitternden Hand, nach den Büchern eines Autors zu suchen, den ich zunächst aus reinem Trotz ins Visier genommen hatte: Ludwig Marcuse. Nein, er war offenbar weder verwandt noch verschwägert mit jenem in den 68er-Jahren so populären Vordenker der Studentenbewegung, Herbert Marcuse, dessen Repressive Toleranz uns ein durchgeknallter Heidegger-Schüler als Philosophielehrer am Essener Helmholtz-Gymnasium zu lesen zwang, um uns unsere libertäre Gesinnung auszutreiben. Aber dass jener Ludwig Marcuse ein Büchlein mit dem Titel Obszön geschrieben hatte, die „Geschichte einer Entrüstung“, das machte ihn mir sympathisch genug, ihn nicht allein wegen seiner zufälligen Namensgleichheit mit dem unverstandenen dialektischen Materialisten ganz links liegen zu lassen .

Der Jude Ludwig Marcuse lebte von 1933 bis zu seiner zweiten Emigration 1939 in die USA in Sanary-sur-Mer und hat dem Ort im ersten Teil seiner Autobiographie, Mein zwanzigstes Jahrhundert, ein eigenes Kapitel gewidmet, wo er ihn die „Hauptstadt der deutschen Literatur“ jener Jahre nennt. Gerade dieses Buch ist leider (noch) ein Desiderat in meiner Büchersammlung, aber seine Fortsetzung, den zweiten Teil, habe ich gestern in tiefer Nacht zu lesen begonnen und darin den Satz von Johann Gottlieb Fichte zitiert gefunden: „Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm bekleidet sein, ehe einer sich prächtig kleidet.“ (Ludwig Marcuse: Nachruf auf Ludwig Marcuse. Zürich: Diogenes Verlag, 1975, S. 19.) Ich liebe solche Sätze, die mich bis ins Mark treffen und alles, was ich bin und lebe und denke, in Zweifel ziehen.

Ramadan

Monday, 01. September 2008

sonnejpg

Heute beginnt für die Muslime in Deutschland der Fastenmonat Ramadan. Erstmals haben sich alle annähernd zweitausend Moscheen, vertreten durch den Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM), auf einen einheitlichen Termin geeinigt. Mit der Morgendämmerung ist den Gläubigen das Essen und Trinken verboten, ebenso das Rauchen und der Geschlechtsverkehr. Erst nach Eintreten der Nacht darf bis zum 29. September wieder gegessen und getrunken, gequalmt und gevögelt werden.

Nun ist die Dämmerung eine etwas vage zeitliche Bestimmung, wie ja übrigens auch die Begriffe Sonnenauf- bzw. -untergang nicht ohne Weiteres exakte Zeitpunkte definieren. Ist der Sonnenaufgang jener Augenblick, in dem die Sonnenscheibe am Horizont ihr allererstes Licht aufscheinen lässt? Oder meint man mit diesem Begriff den etliche Minuten später eintretenden Zustand, wenn sie mit ihrem ganzen Rund aufgetaucht ist? „Tatsächlich ist der Moment des Aufgangs bei der Sonne definiert als der Moment, in dem die Oberkante der Sonnenscheibe den Horizont überschreitet[,] und unterscheidet sich um etwa 5 Minuten vom theoretischen Wert. Diese Zeitdifferenz, um welche die Sonne früher aufgeht, hängt mit dem scheinbaren Sonnenradius (0,5°) und der astronomischen Strahlenbrechnung (etwa 0,6°) zusammen.“ (Wikipedia)

Solchen Spitzfindigkeiten ist der Koran bewusst aus dem Wege gegangen, indem er den täglichen Fastenbeginn ganz praktisch wie folgt festlegte: „…esst und trinkt, bis ihr in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden könnt!“ (Koran, Sure 2, Vers 187.) Im Jahre 1429 islamischer Zeitrechnung, in dem wir leben, stellt der Fadentest die Anhänger dieser Religion hierzulande allerdings vor das Problem, dass sie gewöhnlich in Räumen leben, essen, trinken, rauchen und vögeln, die nächtens künstlich beleuchtet werden. Die Glühbirnen muss man am frühen Morgen also schon ausgeschaltet lassen. Und dann erreicht das Licht der Sonne bei ihrem Aufgang die beiden Fäden nur, wenn die Fenster auf der Ostseite des Hauses liegen.

Aber vielleicht ist das ja auch Haarspalterei und auf solche Differenzen von ein paar Minuten kommt es nicht an. Dennoch scheint mir die Frage angebracht, warum der Prophet gerade zwei Fäden für diese Art Lackmustest auf den Eintritt der Dämmerung vorgeschrieben hat. Es hätten doch auch zwei Würfel oder zwei Kugeln sein können, jeweils schwarz und weiß. Ist es nicht so, dass man deren Unterschiedlichkeit eher bemerkt als die von zwei dünnen Fäden? Und offenbart sich damit nicht eine gewisse Großzügigkeit des Religionsgründers, der seinen Gefolgsleuten noch ein paar Minuten gönnen wollte vor Beginn der harten Askese?

Unmündige Kinder sind übrigens vom Fasten ausgenommen. Die Mündigkeit ist allerdings nicht auf ein bestimmtes Lebensalter festgesetzt, sondern bemisst sich danach, ob der junge Mensch über Unterscheidungsvermögen (mumayyiz) verfügt, wobei jedoch nicht gesagt ist, was er unterscheiden können soll. Mann und Frau? Gut und Böse? – Oder bloß Schwarz und Weiß?