Archive for August 28th, 2008

Sanary-sur-Mer

Thursday, 28. August 2008

siemsensanary

Nachdem Hans Siemsen über die Schweiz Anfang 1934 ins Pariser Exil geflohen war, lernte er dort im Februar 1936 den 21-jährigen Walter Dickhaut kennen und verliebte sich in ihn. Gemeinsam mit Dickhaut schrieb er 1937 Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers, die dessen Erlebnisse in der Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP zum Thema hat. Ein deutscher Verleger fand sich für das Buch nicht, was Alfred Döblin im Frühjahr 1939 in einem Artikel in der Exilzeitschrift Das neue Tagebuch (Paris) beklagte. Im Jahr darauf erschien es dann in englischer Übersetzung (Hans Siemsen: Hitler Youth. Translated by Trevor and Phyllis Blewitt. With a foreword by Rennie Smith. London: Lindsay Drummond Ltd., 1940).

Ende 1938 hielt sich Siemsen in Südfrankreich auf. Möglicherweise besuchte er zu dieser Zeit erstmals das malerische Küstenstädtchen Sanary-sur-Mer am Mittelmeer, in der Nähe von Toulon, das sich in diesen Jahren zu einem Treffpunkt vieler deutscher und österreichischer Emigranten entwickelte. Die Liste jener Literaten, die auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hier eine vorübergehende Zufluchtstätte fanden, ist lang. Eine Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet in alphabetischer Reihenfolge eine Reihe prominenter und (zumindest heute) weniger prominenter Namen von Dichtern und Schriftstellern, Journalisten und Verlegern.

Hans Siemsens Name fehlt auf dieser Tafel. Verbürgt ist, dass er im August 1939 mit seinem Geliebten Walter in Sanary-sur-Mer Urlaub machte und dort Besuch von Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906-1984) erhielt, der im gleichen Jahr die “American Guild for German Cultural Freedom” gründete und sich später von seinem Exil in den USA aus für die Rettung verfolgter Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aus dem besetzten Europa einsetzte. Nach seiner vorübergehenden Internierung in den Lagern von Colombes bei Paris (Ende 1939) und Chambaran bei Lyon (Mai/Juni 1940) floh der inzwischen ausgebürgerte und somit staatenlose Siemsen mit Walter Dickhaut nach Sanary-sur-Mer ins unbesetzte Frankreich. Seine Pariser Wohnung wurde von der Gestapo ausgehoben, er verlor seinen gesamten Besitz.

Am 22. Januar 1941 berichtete Hans Siemsen aus Sanary in einem Brief an seinen Freund, den Schweizer Maler und Buchkünstler Max Hunziker (1901-1976), von seiner prekären Lage: „Max, wir leben noch, der Walter und ich. Es ist fast ein Wunder – aber wir leben. Seit Anfang August [1940] leben wir sogar zusammen. Nachdem wir elf Monate getrennt gewesen waren. Ich habe ein Visa für U. S. A. Walter wird eins bekommen. Nur – wie wir hingelangen und ob wir noch können, das wissen wir nicht. Alles, aber auch alles, was wir hatten, haben wir verloren. Nicht nur Kleidung und Wäsche, sondern auch Deine lieben Bilder – und alles andere, was wir lieb hatten. Wir führen ein sonderbares Leben. Jeden Tag und jede Nacht kann sich alles zum Guten – aber auch zum Allerschlimmsten ändern. Wir haben aber vorgesorgt und können rechtzeitig Schluß machen. – Ebenso gut aber ist es möglich, daß wir nach U. S. A. kommen. Für mich lohnt es sich kaum. Aber den Walter hätt‘ ich gern drüben und in Sicherheit. Er ist noch so jung. […] Laßt einmal von Euch hören. Charles Walter, Hotel Beauport, Sanary (Var.) – das genügt. Nichts weiter! Euch allen von Herzen alles Gute! Immer! Dein alter Hans.“ (Hans Siemsen: Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 257 f.) Unter dem Pseudonym „Charles Walter“ hatte sich offenbar Walter Dickhaut in Sanary angemeldet, während Hans Siemsen vorsichtshalber namentlich gar nicht in Erscheinung treten wollte. Im Februar 1941 begaben sich die beiden Freunde von Sanary-sur-Mer aus wieder auf die Flucht. Über Marseille und Spanien erreichten sie im März mit Hilfe von Varian Fry Lissabon, von wo aus sie im Juni auf der SS Guinee New York erreichten.

Ganz in Vergessenheit geraten ist Hans Siemsen an seinem Fluchtort Sanary-sur-Mer übrigens nicht. Am dortigen Place Albert Cavet betreiben noch die hochbetagten Geschwister Louis, Marcelle und Paulette Cavet die „Villa de l’Enclos“, fünf Reihenhäuser als Pensionsbetrieb für Feriengäste in einem kleinen Park. Sie erinnern sich noch gut an den Flüchtling aus Deutschland. Eines dieser Häuser bewohnte einst der deutsch-polnische Kunsthistoriker und Maler Erich Klossowski (1875-1949), Vater des Schriftsteller Pierre Klossowski (1905-2001) und des Malers Balthasar Klossowski, gen. Balthus (1908-2001). Und in einem anderen Haus fanden Siemsen und Dickhaut für ein paar Monate Unterschlupf. An dessen Fassade ist die Gedenktafel angebracht, die das Titelbild zeigt, mit einem Foto von Hans Siemsen im Profil, das ich sonst nirgends gefunden habe.

[Für die Informationen im letzten Absatz danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Gernot Lucas (Konstanz), der mir auch freundlicherweise das Foto der Gedenktafel zur Verfügung stellte.]

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