Archive for the ‘Time Machine’ Category

Optalidon (I)

Friday, 06. January 2012

„Das Einzige, das half.“ Nämlich gegen meine Kopfschmerzattacken, die mich seit frühester Kindheit zwar nicht regelmäßig, aber zuverlässig immer dann, wenn ich am wenigsten damit rechnete „aus der Bahn warfen“: grauenhafte Pein, Schwindel und blitzende Aureolen, schließlich gipfelnd in Kotzeruptionen „bis zur Galle“, dann totale Erschöpfung und Schlaf; zuletzt ein Erwachen „wie neugeboren“. Wenn ich mir diese Ochsentour ersparen wollte, griff ich zu einem jener rosafarbenen Zäpfchen aus dem Hause Sandoz. Wunderbar! Wenn man heute ,Optalidon‘ bei Wikipedia eingibt, findet man nur eine Erwähnung im Artikel über den Schauspieler Harry Meyen, der sich 1979 an einer Feuerleiter an der Rückfront seines Hauses in Hamburg erhängte, im Alter von nur 54 Jahren, mit einem Seidenschal. Und dort liest man: „Sein Leben lang litt Meyen unter starker Migräne und nahm daher viele Tabletten, unter anderem Optalidon und Staurodorm. Verbunden mit Alkohol führen diese Medikamente häufig zu Benommenheit, Müdigkeit, Lichtempfindlichkeit, Angst und Selbstmordgefährdung. Sein Rauschmittelkonsum steigerte sich im Laufe der Jahre.“ Meyen war als „jüdischer Mischling ersten Grades“ mit 18 Jahren ins KZ Neuengamme verschleppt worden. International bekannt wurde er als Ehemann von Romy Schneider. Einen Abschiedsbrief hat Harry Meyen nicht hinterlassen.

Lebens Zenit

Thursday, 29. December 2011

Ein anderer Mann, für den ich früh allerhöchste Verehrung empfand und der im Laufe der Jahre nur immer noch in meiner Achtung stieg, ist Bertrand Russell. In seiner Autobiographie beschreibt er, wie er im Alter von gerade einmal 28 Jahren seinen großen intellektuellen Durchbruch erlebte: „Meine Empfindungen ähnelten denen, die einen überkommen, wenn man im Nebel einen Berg erklettert, bei Erreichung des Gipfels den Nebel plötzlich weichen und das Land auf fünfzig Kilometer im Umkreis klar vor sich liegen sieht.“ Solche Gefühle hatte ich ebenfalls, aus vermutlich viel geringerem Anlass, in meiner Kindheit. Allerdings waren sie nicht Ergebnis einer geistigen Anstrengung, sondern überkamen mich eher impulsiv. Plötzlich begriff ich etwa, dass alle Dinge immer herabfielen, wenn ich sie losließ, und dass dies doch eigentlich nicht selbstverständlich war. Oder ich entdeckte, dass mein Spiegelbild das gleiche tat wie ich, und zwar exakt gleichzeitig. Aber natürlich meint Lord Russell hier einen viel erhabeneren Erkenntnisschritt, wenn er fortfährt: „Intellektuell war der September 1900 der Höhepunkt meines Lebens. Ich sagte mir dauernd selbst vor, jetzt endlich hätte ich etwas geleistet, was der Mühe wert war, und auf der Straße meinte ich, ich müsse jetzt ganz besonders aufpassen, nicht überfahren zu werden, ehe ich das zu Papier gebracht habe.“ Genau diese Sorge ist mir ebenfalls vertraut. Sie betraf gewisse Einsichten, die mich unter dem Einfluss psychotroper Substanzen beschlichen hatten. Allerdings genügte es mir, sie einigen vertrauten Mitmenschen mündlich mitzuteilen, was ich heute sehr bedaure. Der absolut nüchterne Bertrand Russell hingegen war so viel klüger und fleißiger als ich: „Anfangs Oktober machte ich mich daran, The Principles of Mathematics niederzuschreiben, wozu ich schon mehrfach erfolglose Versuche unternommen hatte. […] Während der Monate Oktober, November und Dezember schrieb ich jeden Tag meine zehn Seiten, so daß das Manuskript am letzten Tag des Jahrhunderts beendet war […].“ (Autobiographie I. 1872-1914. A. d. Engl. v. Harry Kahn. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1977, S. 223 f.) Nein, solch edlen Höhepunkt meines Lebens, noch dazu mit präzisem Timing zur Jahrhundertwende, vermag ich nicht vorzuweisen. Ich bin wohl eher ein Mensch der Ebene denn ein Gipfelstürmer. Mir reicht es schon, wenn ich alltäglich einen kleinen geistigen Hüpfer machen kann. Und wenn es mir dann noch gelingt, ihn leidlich auf die Zeile zu bringen, dann bin ich froh.

Mein 20.000ster Lebenstag

Thursday, 14. April 2011

Geburtstag feiert man üblicherweise einmal im Jahr, wenn sich das kalendarische Datum der Geburt wiederholt – es sei denn, man gehört zu den traurigen Schaltjahrskindern vom 29. Februar, die sich damit trösten können, erst mit 72 volljährig zu werden.

Ich fragte mich jüngst, wieviele Tage ich eigentlich genau auf dem Buckel habe. Dies zu ermitteln ist nun etwas umständlich, muss man doch erstens wissen, wieviele Tage vom Jahr noch am eigenen Geburtstag übrig blieben und wieviele Tage bis heute vom laufenden Jahr bereits verflossen sind. Sodann muss man die Zahl der dazwischenliegenden Jahre mit 365 malnehmen. Und schließlich gilt es noch, die Schalttage dieser Jahre nicht zu vergessen.

Man kann sich solche Rechnereien erheblich vereinfachen, wenn man einen der zahlreichen Ewigen Kalender im Internet nutzt und mit diesem praktischen Hilfsmittel für alle fraglichen Tage das Julianische Datum ermittelt. Diese Zahl gibt die Anzahl der Tage an, die seit dem 1. Januar 4713 v. Chr. vergangen sind.

Das Julianische Datum von heute ist zum Beispiel 2.455.666 und das Julianische Datum meiner Geburt war 2.435.666 – zwischen beiden Daten gibt es also eine Differenz von exakt 20.000 Tagen. (Natürlich bin ich genau andersherum vorgegangen und habe vor ein paar Monaten errechnet, dass der 20.000ste Tag meines Lebens auf den heutigen 14. April 2011 fällt.)

Bei dieser Gelegenheit wurde mir bewusst, dass jeder Mensch höchstens drei solcher runden Julianischen Geburtstage erleben kann: in seinem 28., im 55. und zuletzt im 83. Lebensjahr. Ob mir letzteres vergönnt sein wird und ich den 30.000sten Tag meines Lebens noch erlebe? Immerhin weiß ich schon, auf welches Datum er fällt, nämlich auf den 30. August 2038, einen Montag. (Wer mir dazu gratulieren möchte, sollte sich dieses Datum schon einmal vormerken.)

38°19′19″ N 142°22′8″ O 14:46:23 Uhr

Tuesday, 29. March 2011

Sonnenaufgang bei klarem Himmel. Es war ein Tag wie jeder andere. Ein eher freundlicher Märztag mit Temperaturen zwischen 2 °C und 11 °C. Um kurz nach sechs Uhr Ortszeit ging die Sonne auf. Die Erwachsenen fuhren zur Arbeit, die Kinder machten sich auf den Weg zur Schule. Nichts deutete darauf hin, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorstand, die tausende Bewohner des Landes das Leben kosten, zehntausende obdachlos machen und eine noch unbekannte Zahl von Menschen, möglicherweise auch weit außerhalb der Grenzen des Landes, dem Risiko lebensbedrohlicher Gesundheitsgefährdungen aussetzen würde.

Aber noch ist es nicht soweit. Noch ahnt kein Mensch das kommende Unheil. Noch gehen alle beflissen ihren gewohnten Alltagstätigkeiten nach. Es ist ein Freitag, das Wochenende steht bevor. So sind die Menschen vielleicht etwas entspannter als an den anderen Tagen der Arbeitswoche. Es kann angenommen werden, dass viele eine zarte, wohlige Vorfreude auf die Ruhepause empfinden, die sie erwartet, aller Wahrscheinlichkeit nach, sofern denn nichts Unvorhersehbares dazwischenkommt. Doch in wenigen Stunden wird genau dies geschehen.

Das Magazin der Süddeutschen zeigt zwei Wochen später genau 50 Fotos, die in den acht Stunden zwischen Sonnenaufgang und ,Weltuntergang‘ entstanden sind. Es sind die Bilder einer alltäglichen Normalität, die durch das Wissen um diese ,Pointe‘ nicht mehr mit unschuldigem Blick wahrgenommen werden können. Genau dieser gruselige Schauder ist es ja, worauf die Magazinredaktion abzielt. Man kann geteilter Meinung sein, ob diese Bildstrecke eine zwar provozierende, aber doch zum Nachdenken anregende journalistische Meisterleistung ist; oder ob wir es hier mit einem geschmacklosen Tabubruch zu tun haben, mit dem riskanten Vorstoß in eine ethische No-go-Area.

Ich stelle mir vor, dass das Heft einem japanischen Opfer in die Hände fällt, vielleicht noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Verheerungen. Unmöglich ist das ja keinesfalls. Vielleicht sind Menschen aus den vom Tsunami betroffenen Gebieten nach Tokio geflohen. In großen Zeitschriftenläden der Hauptstadt wird man vielleicht die Süddeutsche kaufen können. Wie mag es auf einen solchen Betroffenen wirken, wenn er sieht, mit welchen eleganten Gedankenspielen sich die deutschen Zeitgenossen unterhalten, die sich im viele tausend Kilometer entfernten Europa halbwegs sicher fühlen? Ich bemühe mal einen Vergleich, wohl wissend, dass ich damit über Unvergleichliches spekuliere: Wie ist jemandem zumute, dem man das Foto eines fröhlich lachenden Angehörigen zeigt, aufgenommen unmittelbar vor dessen unvorhersehbarem Unfall mit tödlichem Ausgang?

Gestern wurde ich unfreiwilliger Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei Damen meines Alters im Bus. Sie unterhielten sich über die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima-Daiichi. Die Wortführerin sagte aber immer ,Fukujama‘ statt ,Fukushima‘. Das ist verzeihlich, schließlich ist der Ortsname ja erst neuerdings Präsent in allen Medien. Der Versprecher erinnerte mich aber an folgende Geschichte von Günther Anders: „Die Existenz gewisser Städte wird uns erst dann bekannt, wenn diese durch ein Erdbeben zerstört worden sind. ,Nicht anders‘, heißt es in den Molussischen Theologoumena, ,wird es auch unserer Welt gehen. Erst dann werden die Götter etwas von uns erfahren, wenn sie im Himmlischen Morgenblatt die Notiz über unseren Untergang finden werden. ,Wie hieß der Platz?‘ wird der Gott Bamba beim Frühstück seine ihm aus der Zeitung vorlesende Frau fragen. – ,Welt oder so, glaube ich.‘ – ,Namen gibt es!‘ wird Bamba dann ausrufen. – Und außer in diesem sofort wieder vergessenen Gespräch wird unser niemals gedacht worden sein.“ (Namen gibt es; aus: Der Blick vom Turm; hier zit. nach: Das Günther Anders Lesebuch. Hrsg. v. Bernhard Lassahn. Zürich: Diogenes Verlag, 1984, S.87.)

[Titelbild: Ausschnitt aus einer Abbildung im hier besprochenen Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 12 v. 25. März 2011, S. 48/49.]

Heute vor 200 Jahren

Sunday, 02. January 2011

keulenaermel

Eine auf den ersten Blick begeisternde, auf den zweiten immerhin noch gut gemeinte Idee ist die Animation von Lesern im Internet durch tageweise Publikation klassischer Texte über einen mehr oder weniger „runden“ Zeitabstand hinweg. So publiziert der auch sonst überaus fleißige Giesbert Damaschke seit dem 10. Juni 2010 tagessynchron über einen Zeitraum von 187 Jahren hinweg die Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens von Johann Peter Eckermann, beginnend mit dem Eintrag Weimar, Dienstag den 10. Juny 1823. Der Nachteil hierbei: Eckermann machte große Pausen, sei es, dass er nicht zu seinem Herrn und Meister vorgelassen wurde, sei es, dass dieser ihn mit anderen Schreibarbeiten auf Trab hielt, sei es, dass Goethe vielleicht auch mal nichts Nennenswertes von sich gab – obwohl: daran kann es nicht gelegen haben, denn wann immer Goethe schwafelte, schrieb es sein getreuer Eckermann dennoch andachtsvoll in seine Kladde. Wie dem auch sei, gegenwärtig warten die Eckermann-Getreuen bereits seit knapp einem Monat auf die nächste Lieferung. Da ich in der glücklichen Lage bin, Besitzer einer der äußerst seltenen Buchausgaben der Gespräche zu sein, kann ich ihre Ungeduld mit dieser präzisen Auskunft dämpfen: Am 27. Januar ist es wieder soweit!

Was die regelmäßige Publikationsweise angeht, ist ein ähnliches Projekt modernen Klassiker-Recyclings wesentlich verlässlicher. Die von Heinrich von Kleist herausgegebenen Berliner Abendblätter erschienen vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811 (täglich außer sonntags). Seit dem 1. Oktober vorigen Jahres stellt nun die Julius-Maximilians-Universität Würzburg alltäglich die auf den Tag genau 200 Jahre alte Ausgabe dieser Zeitung als PDF-Faksimile ins Internet. Allerdings muss man sich zuerst in eine Mailing-Liste eintragen. Per E-Mail wird man dann täglich über die Freischaltung des neuesten „Blattes“ informiert. Die standardisierte Serien-E-Mail der Uni Würzburg enthält allerlei ellenlange Links, bloß der allerletzte ist entscheidend. Wenn man darauf klickt, ist man fast schon am Ziel, jetzt muss man nur noch sein Passwort eingeben – und schon hat man eine stellenweise etwas vermanschte Frakturschrift auf dem Schirm.

Ich habe dieses Unternehmen erst vor zwei Wochen zufällig entdeckt, aber schon in dieser kurzen Zeit hatte ich zwei Aha-Erlebnisse, die die etwas mühselige Prozedur verlohnten und die ich hier für die Ewigkeit dokumentieren will. (Oder doch wenigstens für die nächsten 200 Jahre.)

An Silvester las ich im 77ten Blatte der Kleistschen Zeitung vom 31. December 1810: „Nach Briefen aus der Wallachei ist der Reis-Effendi, der wegen Friedensunterhandlungen daselbst angekommen war, unverrichteter Sache wieder aus dem Russ. Hauptquartier nach Constantinopel zurückgekehrt.“ Anlässlich dieser Meldung wurde mir erstmals klar, dass die Ortsbezeichnung Wallachei keineswegs ein Ulkname für eine unerreichbar ferne Gegend ist, wie ich bislang angenommen hatte, etwa wie das ähnlich komisch klingende Wort Jottwede, (als Abkürzung von „Janz weit draußen“), sondern vielmehr – wie ich dann schnell herausfand – der Name einer historischen Region im Süden des heutigen Rumänien. Sehr erstaunlich war dann aber mein dazu passendes Erlebnis am Neujahrstag. Ich hörte mit halbem Ohr im Deutschlandfunk die Sendung Bücher für junge Leser, in der die Jugendbuch-Bestenliste des Monats Januar vorgestellt wurde. Gleich der erste Titel war Tschick von Wolfgang Herrndorf, eine Art Roadmovie-Story von zwei jugendlichen Abenteurern. Die beiden Lausbuben stehlen ein Auto. „Wohin sollen wir denn fahren?“, fragt Maik. „In die Wallachai!“, antwortet der Russlanddeutsche Tschick. Und Maik? Der ahnt nicht, dass damit kein Phantasieland gemeint ist, sondern ein ganz konkretes Ziel. – Zufall?

Heute lese ich in den Berliner Abendblättern vom 2. Januar 1811 unter „Miscellen“: Zu Montesquieu’s Zeiten waren die Frisuren so hoch, daß es, wie er witzig bemerkt, aussah, als ob die Gesichter in der Mitte der menschlichen Gestalt ständen; bald nachher wurden die Hacken so hoch, daß es aussah, als ob die Füße diesen sonderbaren Platz einnähmen. Auf eine ähnliche Art waren, mit Montesquieu zu reden, vor einer Handvoll Jahren, die Taillen so dünn, daß es aussah, als ob die Frauen gar keine Leiber hätten; jetzt im Gegentheil sind die Arme so dick, daß es aussieht, als ob sie deren drei hätten.“ Bei der letzten der genannten Modetorheiten fielen mir gleich die Keulenärmel ein, die ich anlässlich meiner Pynchon-Lektüre und -Kommentierung hier einmal zu würdigen hatte. Aber da ging es erstens um die Mode der 1890er-Jahre in den USA; und zweitens beschränkte sich die voluminöse Aufplusterung der Ärmel in diesem Falle auf die Schulterpartie. Eine Ärmelmode, auf die die Beschreibung in Kleists Zeitung passen würde, gab es im Biedermeier [s. Titelbild]. Diese Epoche begann aber erst zehn Jahre später: Ab 1820 setzt die Biedermeier-Mode in Europa ein, keineswegs früher. – Wer kennt sich aus und kann diese Unstimmigkeit aufklären?

Vorsätze

Saturday, 01. January 2011

schwarzeaugenbohnen

Ruhig Blut bewahren! Keine Wutausbrüche zulassen. An mindere Dinge keinen Spott verschwenden. Gleichgültigkeit gegenüber Gleichgültigem beweisen. Immer dran denken, dass die vermeintliche Tücke des Objekts bloß Kraft gewordene Kumulation der eigenen Ungeduld ist.

Noch grundsätzlicher zweifeln. Die Skepsis niemals auf angenehmen Denkprovisorien zur Ruhe betten. Nicht fluchlos einschlafen. Die Furcht am Köcheln halten. Geborgenheit in der Flucht suchen. Weiter, weiter, weiter … aber stets im Zickzack.

Nichts überstürzen! Übermorgen ist fast immer ein günstigerer Tag. Zeitlupe vergrößert Erkenntnisse. Rückschritte führen auch voran. Wozu Wettervorhersagen? Das nächste Wetter kommt bestimmt.

Abschlaffen, nicht anschaffen! Beschleuniger? Weg damit! Wegweiser? Aus dem Weg damit! Ratgeber ausschlagen, Mutmacher auslachen, Wahrsager ausweisen. Zu Glück machen, was nicht niet- und nagelfest ist; den Rest verscherbeln.

Kraft sparen. Fragen spenden. Fehler sammeln. Träume meiden.

Überlebt

Monday, 08. February 2010

marcal

Am 30. Januar las ich zur Feier des 50. Geburtstags einer guten Freundin in Düsseldorf-Flingern Gedichte von Johannes Bobrowski (1917-1965) und kurze Prosastücke von Hermann Harry Schmitz (1880-1913), Edgar Allan Poe (1809-1849) und Joseph Roth (1894-1939). Erst nachdem ich das Programm zusammengestellt hatte, wurde mir bewusst, was allen vier Autoren gemeinsam ist: Keiner von ihnen hat das Alter der Jubilarin erreicht.

In den Kalendern und natürlich auch im Internet, so zum Beispiel auf der Startseite von Wikipedia, werden wir alltäglich daran erinnert, wer heute vor wieviel Jahren geboren wurde oder gestorben ist. Und wenn ich wissen will, welche Geburts- und Sterbefälle prominenter Menschen auf meinen Geburtstag fallen, ist die Antwort auf diese Frage auch nur einen Mausklick weit entfernt.

Dabei wäre es doch viel interessanter, beim Frühstück daran erinnert zu werden, welche Heldinnen und Helden der Vergangenheit ich heute wieder „überholt“ habe, weil sie auf den Tag genau in dem Alter, das ich jetzt erreicht habe, das Zeitliche gesegnet haben. Ein solcher Datenservice müsste natürlich für jeden Menschen je nach seinem Geburtstag individuell eingerichtet werden, aber das wäre mit den heutigen technischen Mitteln kaum ein Problem. Die Grundlage eines solchen Geburtstags-Sterbetags-Vergleichsrechners wäre ein Datenstamm, bei dem das erreichte Alter aller verstorbenen Berühmtheiten exakt ein Lebenstagen ausgedrückt ist. Damit ist die einfache Vergleichbarkeit mit meiner eigenen Lebenszeit (und der jedes anderen Interessenten) gewährleistet.

Praktischerweise rechnet man dazu alle Daten zunächst in das Julianische Datum (JD) um. Mein Geburtstag fiel auf das JD 2.435.666, heute haben wir das JD 2.455.236. Die Differenz dieser beiden Zahlen beträgt 19.570, das ist somit die Summe meiner bisherigen Lebenstage. Maria Callas (1923-1977), um eine beliebige bekannte Vergleichsperson zu wählen, deren Sterbealter ich noch nicht erreicht habe, wurde am 2. Dezember 1923 geboren (JD 2.423.756), starb am 16. September 1977 (JD 2.443.403) und erreichte somit ein Alter von 19.647 Tagen. Am Sonntag, dem 25. April dieses Jahres werde ich mich auf den Tag genau im Alter von Maria Callas am Tage ihres Todes befinden und sie dann „altersmäßig“ überholen.

Ich stelle mir vor, dass es manchen griesgrämigen Zeitgenossen allmorgendlich erfreuen würde zu erfahren, welche berühmten Menschen er, was das Lebensalter betrifft, heute wieder hinter sich lässt. Ist ein solcher „Vitalitätsrechner“ nicht vielleicht eine pfiffige Internet-Geschäftsidee, mit der ich viel Geld verdienen könnte? Oder gibt es diesen Rechner schon längst? In meiner Vorstellung besteht er aus einem achtstelligen Eingabefenster für das individuelle Geburtsdatum nach Tag, Monat und Jahr; darunter zeigt er sodann die siebenstellige Zahl für den Julianischen Geburtstag an; in der dritten Zeile erscheint das aktuelle Alter in Tagen. Und schließlich werden alle Prominenten mit ihren Geburts- und Sterbedaten aufgezählt, die zum Tag der Abfrage exakt dieses Alter erreicht haben.

Time is Honey

Friday, 11. September 2009

Mein neuer Telekommunikationsdienstleister, der eigentlich Handyhändler ist, aber solchen kommunikationstechnischen Anachronisten wie mir zuliebe im Nebenberuf auch noch Festnetzanbieter, wendet sich in seiner aktuellen Mobilfunkwerbung offenbar an Kunden, die dreißig Jahre jünger sind als ich und insofern noch viel mehr Zeit zu verschwenden haben. Trotzdem (oder gerade deshalb?) ist die Zeit eine zentrale Botschaft des Marketings dieses Global Players: „Lebe im Jetzt. Surf sofort. […] Es ist Deine Zeit.“ So heißt es in der plump-vertraulichen Duz-Form, an die man ja schon von Ikea her gewöhnt ist.

So ganz möchte man sich’s aber doch nicht mit mir verderben, denn auf der zweiten Seite werde ich dann wieder ganz förmlich gesiezt: „Holen Sie sich das Surf-Sofort-Paket […] und surfen Sie mit DSL-Speed ab der ersten Minute. […] Sofort telefonieren und surfen ohne Wartezeit […] Auspacke, anschließen und gleich lossurfen! Mit dem […] Surf-Sofort-Paket müssen Sie nicht lange warten. Surfen und telefonieren Sie sofort los! […] Konzentrieren Sie sich vom ersten Tag an auf das Wesentliche: Ihren Spaß.“ (Das Titelbild zeigt, wie genau man sich diese Art konzentrierten Spaßes eines solchen stolzen Telekommunikations-Kriegers vorzustellen hat.)

Ich muss da mal nachhaken. Ist denn die mittlerweile zu einem allgegenwärtigen Zeitvertreib gewordene Telefonitis tatsächlich ein Quell der Freude? Ist – Hand aufs Herz! – der Zwang zur telefonischen Erreichbarkeit rund um die Uhr und an jedem beliebigen Ort und Örtchen spaßig? Genau besehen tröstet uns diese Werbebotschaft nur mit dem Fitzelchen Zeit, das man spart, weil der Zutritt zum grenzen- und endlosen Palaver im Idealfall ruckzuck von statten geht. Ansonsten gilt: Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren. Das Instrument, das du dir da nichtsahnend hast an die Backe nähen lassen, ist ein wahrer Zeitvampir.

Ich beobachte überdies gerade aus nächster Nähe, dass es ein extrem zeitraubendes Unternehmen ist, aus einem solchen ruckzuck geschlossenen Telefonvertrag wieder herauszukommen. Und übrigens gilt hier, wie sonst nur für den Junkie, das grausame Gesetz: Einmal Handy, immer Handy!

Eines muss der Neid den Werbefuzzis solcher Konzerne wirklich lassen: Es gelingt ihnen, ihren Zielgruppen, den juvenilen Kunden ihrer Auftraggeber, Scheiße für reinstes Gold anzudrehen. So lautet etwa eine ihrer unglaublichen Verheißungen: „Telefonieren Sie zum Beispiel günstig in andere Mobilfunknetze oder endlos in ausländische Festnetze.“ Wirklich endlos telefonieren? Ist es das, was sich der Warrior Nr. 10 erträumt? Dann wäre ihm ein Job in einem der zahlreichen Callcenter zu empfehlen. Da bekommt er sogar noch ein kleines Gehalt für seine Lieblingsbeschäftigung.

Favicon

Tuesday, 28. April 2009

Kürzlich entdeckte ich im Angebot eines Versandantiquars einen Titel, der meine Neugier weckte: Die Bibliothek der Zukunft von Dieter E. Zimmer, über „Text und Schrift in Zeiten des Internets”, erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag in Berlin („früher 9,95 €, jetzt 4,50 €”).

Das Büchlein ist acht Jahre alt, für diese Thematik also allenfalls noch von historischem Interesse. Es befasst sich auf 393 Seiten laut Prospekt „mit allen Fragen der Umwälzung”: „E-Book, virtuelle Weltbibliothek, E-Text, Hypertext, Enzyklopädien, Fachzeitschriften, Katalogrecherche, Geschichte der Textverarbeitung, Urheberrecht, Die Sterblichkeit der Information, www-Fakten und Zahlen.” Noch vor einem Jahr hätte ich so etwas für die Abteilung „Anachronismen und Kuriositäten” meiner Bibliothek bestellt. Jetzt, da ich nicht weiß, wo und wie meine Bücher und ich künftig wohnen werden, nehme ich von solchen Anschaffungen schweren Herzens Abstand.

Ich hätte Zimmers Buch übrigens gleich neben mein zwölf (!) Jahre altes SmartBooks Computer-Lexikon von Peter Fischer gestellt, in dem als Suchmaschine zwar schon Yahoo verzeichnet ist, nicht jedoch Google. Dafür sind dort noch rührenderweise uralte typographische Termini wie „Hurenkind” und „Schusterjunge” verzeichnet. Und vom Begriff „Icon”, der mittlerweile sogar schon in den Duden aufgenommen wurde, wird man allen Ernstes auf „Ikone” verwiesen, um dort die Erklärung zu lesen: „Bildsymbol, Sinnbild in grafischen Benutzeroberflächen oder Menüs. Beispiel: Gänsekiel für Textverarbeitungsprogramm.”

Apropos Icon. Unnötig zu sagen, dass ein ganz neuer Begriff wie „Favicon”, eine Legierung aus favourite und icon, in Fischers smartem Lexikon noch nicht vorkommt. Es benennt „ein kleines, 16×16 oder 32×32 Pixel großes Bildsymbol oder Logo, das in der Adresszeile eines Browsers links von der URL angezeigt wird und meist dazu dient, die zugehörige Website auf wiedererkennbare Weise zu kennzeichnen.” (Wikipedia)

Seit gestern ist die Adresse meines Weblogs mit einem solchen Favicon versehen. Mein Bildsymbol ist, versteht sich, der Zylinder, jener schwarze Hut, der im Weltende des Jakob van Hoddis dem Bürger vom spitzen Kopf flog. Was weiter geschah? Siehe Titelbild (von Wilhelm Busch).

Schnee von gestern

Tuesday, 21. April 2009

Nachdem die Magnolie in der Weißbachstraße sich bereits vor ein paar Tagen ihrer Blüten entledigt hat, „schneit” es nun auch blassrosa von den japanischen Zierkirschen herab. Heute vor genau zwei Monaten war das Pflaster vorm Haus noch mit richtigem Schnee bestäubt.

Ein sechstel Jahr. Mir kommt der Zeitraum zwischen diesen beiden Fotos vor wie eine halbe Ewigkeit. Seither bin ich tatsächlich ein anderer geworden – wie schon so oft, mögen meine besten Freunde sagen und lächeln. Wieder mal eine Metamorphose, ja! Lacht nur! Aber diesmal ist es ernst. Seit langer, langer Zeit geht es endlich wieder an die Substanz.

Schade nur, oder vielleicht im Gegenteil ganz gut, dass man davon vermutlich in diesen brav vor sich hinplätschernden Notizen vom Tage wenig bis gar nichts merkt.

Mich selbst erinnern sie an die Schwimmer beim Angeln, die das Anbeißen der Beute signalisieren sollen. Wenn tief unter der spiegelglatten, friedvollen Wasseroberfläche ein riesiger Raubfisch mit der Nase an den Köder stößt, dann löst er damit bloß ein ganz feines Zucken im treibenden Schwimmer aus, kaum wahrnehmbar. Sehr leicht könnte es auch von der schwachen Brise herrühren, die von Land kommt und einen zarten Hauch von Kaffeeduft mit sich bringt.

Es ist halb fünf und die Tante des Hafenmeisters setzt sich gerade zu ihrem gemütlichen Viertelstündchen auf die Veranda, das sie sich, wie sie nicht müde wird zu betonen, wahrlich verdient hat.

Wilhelms Brief

Wednesday, 17. December 2008

Meine Urgroßmutter Anna Maria Heßling, geb. Kappen (* 16. November 1858 in Niederzissen / Kreis Ahrweiler) soll dem Vernehmen nach eine sehr strenge Frau gewesen sein. Mit meinem Großvater, dem Dentisten Johannes Heinrich Heßling (* 23. März 1894 in Essen), einem ihrer sechs Kinder, zerstritt sie sich heillos. Ihr Sohn Wilhelm galt als verschollen, nachdem er in jungen Jahren bei Nacht und Nebel das elterliche Haus im Streit verlassen hatte und nie mehr gesehen ward. Aus dem Nachlass meiner Großmutter väterlicherseits ist Wilhelms Abschiedsbrief [siehe Titelbild] auf mich gekommen. Wilhelm schreibt:

„Ich muß Euch nur mitteilen dass ich | mich in Emmerich in den Rhein | gestürzt habe; den[n] ich war es | endlich müde[,] so braucht Ihr nicht | mehr für mich zu sorgen. | Mit den paar Zeilen Ende ich. | So lebt den[n] wohl auch[,] Wilhelm [?]. || Freut Euch des Lebens. | Grüße an Alle! | Wilhelm. || † + †. || Ärgert Euch nicht um meinet|wegen. Denn jetzt braucht Ihr mich | keinen Anzug zu kaufen. | Grüßt mich Auch Emma Sauer | denn die trägt die Schuld.”

Bilde ich’s mir nur ein, oder hat mir meine Großmutter Katharina Heßling, geb. Kamps (* 9. Juni 1895 in Essen) tatsächlich zu diesem Brief die Geschichte erzählt, dass ihr verschollener Schwager sich beim nächtlichen Einstieg ins Zimmer seiner Geliebten Emma die nagelneue Hose zerrissen und deshalb einen verhängnisvollen Familienstreit vom Zaun gebrochen habe?

Ganz sicher bin ich mir aber, dass die Pessimisten der Familie befürchteten, Wilhelm könnte eins der Opfer des Massenmörders Fritz Haarmann geworden sein, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover sein Unwesen trieb.

Die Optimisten hingegen waren sich sicher, dass Wilhelm sich weder im Rhein ertränkt habe noch Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, sondern stattdessen nach Amerika ausgewandert sei, wo er es gewiss vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht haben müsste. Doch auf den unverhofften Geldsegen von Seiten meines verschollenen Großonkels warte ich leider noch immer vergeblich.

Unverrottbar

Tuesday, 21. October 2008

Vor gut acht Monaten schrieb ich, noch unter anderer Adresse [*], über eine ärgerliche Verunstaltung meiner näheren Umgebung. Damals hatte sich bei einem starken Sturm eine grüne Plastiktüte von der allerbilligsten, federleichten, raschelnden Sorte im Wipfel eines Rotdorns hinter unserem Haus verkrallt. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Eine Leiter lässt sich aus verschiedenen Gründen hier nicht nutzen. Der Baum steht in Hanglage. Die Entfernung vom schrägen und morastigen Boden bis zum Corpus Delicti beträgt locker 20 Meter, und an das dünne Astwerk kann man eine solche lange und entsprechend schwere Leiter kaum sicher anlegen. Sie an den Stamm zu lehnen, bringt uns einer Lösung auch nicht näher, denn von dort bis zur Tüte sind es immer noch acht Meter Luftlinie, verstellt von einem dichten Gewirr aus Ästen, Zweigen, Laub und Blattläusen. Selbst mit einer extralangen Teleskop-Astschere, wie sie der Nachbar hat, langt man von da aus nicht hin, das ist vollkommen ausgeschlossen und mindestens lebensgefährlich. Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen nun den ganzen kommenden Frühling und Sommer hindurch mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fallen könnte, fand ich wenig erquicklich, aber sehr wahrscheinlich.

Ich sollte leider Recht behalten. Als der Baum Ende Mai in voller rosafarbener Blüte stand, stach die Tüte besonders unangenehm ins Auge – und tat dies auch weiterhin, einen schönen Sommer lang. Und selbst jetzt noch, im wiederum stürmischen Herbst, krallt sich das schäbige Missgebilde weiter unverdrossen an die Astspitzen und verdirbt mir den täglichen Gartenspaziergang. Zwar ist es bei einem nächtlichen Unwetter neulich in zwei Teile zerrissen, deren jedes aber weiterhin mein empfindliches Auge beleidigt.

Bei den regelmäßigen Geburtstags- und sonstigen Feiern auf unserer Terrasse mangelte es nicht an guten Ratschlägen unserer Gäste. Man sollte doch vielleicht einen Pfeil an einem langen Seil hochschießen, nach dem Prinzip einer Harpune, in der Hoffnung, er würde sich dort durch einen Glückstreffer irgendwann so verheddern, dass man das grüne Monstrum mit herunterreißen könnte. Oder vielleicht könnte man von einem Zirkusartisten ein dressiertes Äffchen ausborgen, das auf freundliches Bitten und um den Preis einer Banane das Flatterding herunterapportierte.

Woche für Woche – es sind mittlerweile genau vierzig Wochen verstrichen seit dem Eintreffen des unwillkommenen Flugobjekts – wuchs mein Hass auf die Erfinder, Erzeuger und Nutzer eines solchen Unrats, der in der Herstellung so billig ist, dass er von den Händlern großzügig verschenkt wird und dem kein Mensch hinterherläuft, wenn ihn eine unerwartete Böe auf Nimmerwiedersehen davonträgt – um ein paar hundert Meter weiter jemanden durch Immerwiedersehen zu malträtieren.

So wurde mir mit der Zeit die eigentlich unbedeutende grüne Plastiktüte zum Wahrzeichen jener verhängnisvollen Kurzsichtigkeit unserer industriellen Massenproduktion, die milliardenfach unverrottbares Zeug in die Welt schleudert und sich einen Teufel darum schert, was draus wird und wo es bleibt, wenn es seinen kurzzeitigen Zweck erfüllt hat. Und als solches, als Fanal einer Einsicht, die vermutlich für uns alle zu spät kommt, ist mir schließlich die Tüte ans Herz gewachsen. Sollte der Baum irgendwann gefällt werden und die Tüte mit ihm von dannen gehen, wird sie mir fehlen. (Aber nicht so sehr wie der Baum.)

[* … nämlich bei Westropolis, dem Kulturblog der WAZ, das seit dem 4. Januar 2011 abgestellt ist. Deshalb übernehme ich Schritt für Schritt meine dort zuerst veröffentlichten Texte, sofern ihr Verfallsdatum noch nicht überschritten ist, in mein Revierflaneur-Blog. Der hier erwähnte Artikel erschien zuerst bei Westropolis am 8. Februar 2008 unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008 in meiner Reihe Journal intime und ist nur noch im Cache über eine passende Google-Suche auffindbar. Eine aktualisierte Neuauflage findet der Leser bei Ostropolis. (20.01.2011 MH)]

Tauchen (I)

Wednesday, 03. September 2008

skulpturpaul

Als ich dem Essener Historiker Dr. Ernst Schmidt vor zwanzig Jahren das Foto von der Bücherverbrennung am 21. Juni 1933 auf dem Gerlingplatz übergab, das ich kurz zuvor zufällig bei einem Freund entdeckt hatte, revanchierte er sich mit einem Gegengeschenk. Seine Sammlung zur Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Essen enthielt auch den Nachlass von Paul Waldhorst, einem Kommunisten, der in Sachsenhausen und Oranienburg im KZ gesessen hatte. Dieser Mann, den ich als Kind noch persönlich kennen gelernt und in lebhafter Erinnerung habe, war mit einer älteren Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits verheiratet.

Dr. Schmidt übergab mir also eine zehn Zentimeter hohe Messingskulptur auf grauem Marmorsockel, die aus dem Vorbesitz dieses angeheirateten Großonkels stammte. Dieser „Onkel Päule“, wie er in unserer Familie genannt wurde, konnte mit seinen alten KZ-Geschichten die holdselige Stimmung jeder Weihnachtsfeier erbarmungslos auf den Nullpunkt treiben. Als Mitte der 1960er-Jahre die „Hippies, Rocker und Gammler“, wie die jugendlichen Rebellen gegen das Wirtschaftswunderland BRD damals summarisch genannt wurden, ihre Verweigerungshaltung durch lange Haare, lässige Kleidung und provokantes Herumlungern zur Schau stellten, empörte sich „Päule“, der Rebell einer anderen Zeit, mit dem mir unvergesslichen Ausspruch: „Bei uns im KZ hätte es das nicht gegeben!“

Das goldige Figürchen, das ich gestern mal wieder hervorgekramt und entstaubt habe, zeigt sechs unbekleidete Männer vor einem Pfahl, an dem sie ihre Hinrichtung durch ein faschistisches Exekutionskommando erwarten (siehe Titelbild). Die aufgeklebte Inschrift auf dem Marmorsockel lautet: „Souvenir de Châteaubriant“. Paul Waldhorst hat es von einer Frankreichreise mit der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) aus dem kleinen Städtchen in der Bretagne mitgebracht.

Wie ich jetzt dank einer Internet-Recherche weiß, handelt es sich um eine miniaturisierte Nachbildung des Denkmals an der Carrière des Fusillés in Châteaubriant, das an ein blutiges Verbrechen der deutschen Besatzer erinnert. Am 22. Oktober 1941 wurden dort zur Vergeltung für die Ermordung des Feldkommandanten von Nantes, Oberstleutnant Karl Hotz, 27 kommunistische Häftlinge aus dem Internierungslager Châteaubriant erschossen. Das jüngste Opfer war der gerade einmal 17 Jahre alte Guy Môquet. Sogar zwei Fotos des Originalmonuments habe ich im Internet gefunden.

Dieses Hinabtauchen in die Geschichte mit den Mitteln moderner Technik, ausgehend von einem rätselhaften Gegenstand aus ferner Zeit, der konkret greifbar vor mir auf dem Tisch steht, hat für mich etwas Berauschendes, eine Wirkung, die ich mir rational gar nicht erklären kann. Mit dem neuen Wissen um die Bedeutung der kleinen Skulptur, die sich schon so lange in meinem Besitz befindet, hat meine Beziehung zu ihr zugleich etwas gewonnen und etwas verloren. Sie ist nun nahezu restlos erklärt – aber sie hat mit ihrer Rätselhaftigkeit auch etwas von ihrem Zauber eingebüßt.