Archive for the ‘Zentrifuge’ Category

Heikle Spur

Monday, 20. February 2012

Ist eigentlich schon mal jemand auf den Gedanken gekommen, dass der Polizistenmord von Heilbronn vielleicht nicht ganz zufällig nur wenige Kilometer entfernt von Neckarsulm stattgefunden hat? Die Paulchen-Panther-Propagandafilme, die die Täter als Bekennervideos angefertigt haben, kokettieren ja mit beziehungsreichen Anspielungen auf die Taten, als wollten sie damit zeigen, wie sicher sie operieren konnten und wie wenig Sorgen sie sich machen zu müssen meinten, jemals gestellt zu werden. In diesem Zusammenhang könnte ich mir vorstellen, dass die Mörder aus dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) mit dem Tatort nahe dem namengebenden Standort der NSU Motorenwerke einen versteckten Hinweis geben wollten, sei es für ihre eingeweihten Gesinnungsgenossen, sei es für die Nachwelt, von der sie in ihrer Verblendung vermutlich hofften, einst in Mythen, Anekdoten und Schlachtenliedern gepriesen zu werden, wie einst der unselige Horst Wessel.

Gemeinheit schlechthin

Tuesday, 31. January 2012

Noch einmal aus meiner Kraft-Lektüre. In einer Kurzbiographie hatte ich gelesen, dass er als Soldat in jenem Weltkrieg, der noch keine Nummer trug, zu schwach für den Fronteinsatz war und darum in der Nähe seiner Heimatstadt Hannover in den Wahrendorffschen Anstalten als Sanitäter diente. Das war ein „Lazarett für Kriegshysteriker und Kriegsneurotiker“, wobei die staatstragenden Psychiater sich nach Kräften bemühten, erstere von letzteren diagnostisch zu unterscheiden, um die Hysteriker zurück an die Front schicken zu können. In diesem Zusammenhang stolperte ich in Krafts Jugenderinnerungen über folgenden Passus, der die Atmosphäre in der Anstalt beschreiben soll: „[…] die Luft war kaum zu atmen vor Sexualität, auch Homosexualität und Gemeinheit schlechthin, übrigens nicht nur bei den Kranken, sondern auch bei den Krankenwärtern und bei den Krankenschwestern. Das Bild war das einer kranken Gesellschaft im Zustand des Lebenshungers und der moralischen Verwilderung, die als Kriegsnatur eher erwünscht als verboten war.“ (A. a. O, S. 57.) – Das steht da schlicht und schlimm, in einem Atemzug „Homosexualität und Gemeinheit“! Man meint ja, die Schicksalsgemeinschaft von Juden, Homosexuellen, Kommunisten, Zigeunern unter der Herrschaft des Faschismus, wo sie alle miteinander in den gleichen KZs und Vernichtungslagern zusammengepfercht waren, hätte wenigstens die Vorurteile untereinander endlich beseitigen müssen. Aber weit gefehlt!

Sonderbehandlung

Friday, 20. January 2012

Am 8. Januar 1942 sandte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich aus Prag eine Einladung an seinen Parteigenossen, den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Martin Luther, und dreizehn weitere Herren eine Einladung zu einem Treffen in der Reichshauptstadt. Dort solle am 20. Januar, heute vor 70 Jahren, in einer Villa am Großen Wannsee eine „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ stattfinden. Der Teilnehmer mit dem Namen des Reformators geriet später auf Abwege, als er sich an einem Putschversuch gegen seinen Vorgesetzten, den Reichsminister des Auswärtigen Joachim Rippentropp beteiligte und nach seiner Enttarnung als privilegierter Häftling im KZ Sachsenhausen landete. Nur diesem Umstand ist zu danken, dass das Besprechungsprotokoll der Wannsee-Konferenz, auf der die Ermordung aller 11.000.000 Juden in Europa beschlossen wurde, auf uns gekommen ist, da das Aktenmaterial aus Luthers Büro zur Vorbereitung des Hochverratsprozesses gegen ihn in Berlin-Lichterfelde ausgelagert worden war. Allerdings kommen selbst in diesem hochgeheimen Dokument eindeutige Begriffe wie „Tötung“, „Vernichtung“ oder „Auslöschung“ nicht vor. Die entscheidende Passage lautet so: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)“ (Besprechungsprotokoll der sog. Wannsee-Konferenz, S. 7/8; Hervorhebung von mir.) Autor dieses in seinen Folgen vielleicht schrecklichsten Textes der bisherigen Geschichte unserer Spezies war als Protokollführer übrigens der Bürokrat Adolf Eichmann. Wir kennen den Tonfall des seelenlosen Verwaltungsfachmanns und Logistikers aus seinen Verteidigungsreden, als ihm 18 Jahre später in Jerusalem der Prozess gemacht wurde. Die deutsche Sprache hat spätestens mit Sätzen wie diesen ihre Unschuld verloren. Einen weiteren muss ich noch zitieren: „Der Wunsch des Reichsmarschalls [Hermann Göring], ihm einen Entwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Belange im Hinblick auf die Endlösung der europäischen Judenfrage zu übersenden, erfordert die vorherige gemeinsame Behandlung aller an diesen Fragen unmittelbar beteiligten Zentralinstanzen im Hinblick auf die Parallelisierung der Linienführung.“ (Besprechungsprotokoll der sog. Wannsee-Konferenz, S. 2; Hervorhebung von mir.) Der tarnende Begriff des Behandelns bzw. der Behandlung wird also offenbar unterschiedslos auf den Todfeind und die höchsten Instanzen des Reiches angewandt, wenn es darum geht, den eigentlichen, für die Behandelten unangenehmen Charakter dieser „Behandlung“ zu verbrämen. Im ersten Falle besteht die „Behandlung“ darin, die Juden unter möglichst gefahrvollen und strapaziösen Bedingungen im Straßenbau einzusetzen, damit ein großer Teil von ihnen dabei vor Entkräftung oder durch Krankheiten stirbt, um dann die übriggebliebenen Menschen mit Vernichtungsmitteln (Zyklon B) zu ermorden; während „Behandlung“ im zweiten Fall bedeutet, die Vorgesetzten der zuständigen Parteidienststellen und Reichsbehörden und ihr Personal seelisch-moralisch auf diesen staatlich angeordneten Massenmord einzustimmen. – Was Karl Kraus schon lange zuvor in aller Schärfe erkannt hatte, wurde hier traurige Realität und droht für alle Zukunft, sich zu wiederholen: Die schrecklichsten Taten tarnen sich hinter floskelhaften Euphemismen; wenn jene erst leicht über die Lippen kommen, dann gehen diese umso leichter von der Hand.

Langeweile. Nichts …

Saturday, 31. December 2011

Zum Abschied von diesem Jahr muss ich meine größte, wichtigste Entdeckung dieses Jahres noch einmal zum Ausdruck bringen: die immer und überall unterschätzte destruktive Macht im Menschen, die ihn entweder vernichtet oder zu schrecklichen Taten treibt, die ihn über seine Verhältnisse leben, die Natur und damit seine Lebensgrundlagen zerstören lässt und deren so harmlos, schlicht, fade klingender Name da lautet: Langeweile! Natürlich bin ich nicht der Entdecker dieser unterschätzten und noch längst nicht ans Ende, oder besser: zu allen ihren Enden hin ausgedachten Erkenntnis. Zur Feier des Tages zitiere ich hier als einen frühen Gewährsmann Pascal: „Langeweile. Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, als ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgabe zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Unmacht, seine Leere. Allsogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruß, die Verzweiflung.“ (Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). A. d. Frz. v. Ewald Wasmuth. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1978, S. 75.) – Aber wer verstünde mich, wenn ich bekennen würde, dass ich das neue Jahr 2012 einer genaueren Untersuchung der Langeweile, ihrer Ursachen und Folgen widmen will?

Koinzidenz

Saturday, 06. August 2011

Heute auf den Tag genau vor zwanzig Jahren wurde das Netz ausgeworfen, das mittlerweile anderthalb Milliarden Menschen per Personalcomputer miteinander verbindet. Ursprünglich sollte es nicht Netz (engl. web), sondern Geflecht oder Gitter heißen (engl. mesh), doch weil dieser Name leicht mit dem Wort für Unordnung (engl. mess) verwechselt werden kann, kam man davon wieder ab. Dabei ist es doch gar nicht so verkehrt, das World Wide Web mit Unordnung und Chaos in Verbindung zu bringen, wenn man die ungeheuren Datenvorräte als Ganzes betrachtet, die dort zur Verfügung gestellt werden.

Heute auf den Tag genau vor 66 Jahren ereignete sich eine menschgemachte Katastrophe, die mindestens ebenso folgenreich für unsere Zukunft war wie die Erfindung von Tim Berners-Lee, der mit seinem Hypertext-System das WWW ermöglichte. Auf die japanische Hafenstadt Hiroshima fiel die erste Atombombe. Sie tötete auf einen Schlag annähernd 80.000 Menschen; fast die gleiche Zahl starb, teils noch Jahrzehnte später, an den Folgen radioaktiver Verstrahlung. Der Einsatz von Little Boy, wie die Bombe euphemistisch genannt wurde, beendete den Zweiten Weltkrieg und eröffnete ein Jahrzehnte währendes Wettrüsten zwischen den Weltmächten USA und UdSSR.

Diese kalendarische Koinzidenz ist natürlich reiner Zufall. Naiv muss man jeden nennen, der daraus eine Bedeutung ableiten oder gar einen „geheimen Zusammenhang“ herstellen wollte!

Nun haben wir Menschen es uns seit Einführung des Kalenders zur Gewohnheit gemacht, Jahrestage zu begehen, an denen sich das Datum eines uns bedeutsam erscheinenden Ereignisses wiederholt, wie etwa unser Geburtstag oder die religiösen Festtage, der Jahreswechsel oder die Sommer- und Wintersonnenwende. Handelt es sich um ein erfreuliches Ereignis, wird ein solches Jubiläum üblicherweise mit einem Fest begangen. Haben wir hingegen einer finsteren Schandtat zu gedenken, wie an Karfreitag oder am heutigen Hiroshimatag, so scheinen uns innere Einkehr, Schweigen und der Verzicht auf Geschäftigkeit und Unterhaltung angemessene Formen der Erinnerung zu sein. An den Atombombenabwurf auf Hiroshima erinnerte die Süddeutsche heute nicht. Es ist ja heuer auch kein „runder“ Jahrestag zu betrauern. An die heimliche Großtat im Europäischen Forschungszentrum CERN erinnert sich dort Patrick Illinger, der als einer von rund achttausend Wissenschaftlern damals hautnah dabei war – und trotzdem wie alle anderen Zeitzeugen nicht bemerkte, welch folgenreicher Durchbruch dem damals 36-jährigen Physiker und Informatiker an diesem Tag gelungen war.

Ich profitiere, indem ich dies schreibe, ob ich will oder nicht, von beiden Innovationen. Die elektrische Energie, die es ermöglicht, kommt zu einem guten Teil aus Kernkraftwerken, deren Entwicklung ja erst als eine Art friedlicher Ableger der Atombombe möglich wurde. Und dass ich meinen Text veröffentlichen kann, erlaubt jenes weltweite Geflecht, dessen Struktur Tim Berners-Lee vor zwanzig Jahren seinen Kollegen zur Verfügung stellte. Die erste Erfindung begann mit einem großen Knall, die zweite geräuschlos und unauffällig. Von beiden ist noch nicht erwiesen, ob sie uns mehr Schaden oder Nutzen bringen. Nur eines steht fest: Wir werden sie nicht mehr los.

Die vergebliche Flucht

Friday, 10. June 2011

Über Auschwitz habe ich viel gelesen; vermutlich mehr, als einem Menschen verträglich ist, wenn er sich einen unbefangenen Blick auf seine Mitmenschen erhalten will. Was in der Vergangenheit geschah, ist ja niemals vorbei. Und was Menschen einander einmal angetan haben, das kann sich jederzeit wiederholen, ganz gleich, mit welchen Nie-wieder-Mantras wir uns unterdessen in den Schlaf wiegen mögen. Die einmal ausgemessenen Dimensionen des Schrecklichen kann keine Macht der Welt wieder zurechtstutzen auf ein erträglicheres Maß. „Bewältigen“ kann man das Geschehene nicht, ebensowenig den Tätern verzeihen; schon gar nicht, wenn man zu den Opfern gehörte wie Rudolf Vrba, dessen zuerst 1963 in englischer Sprache erschienene Erinnerungen I Cannot Forgive der Verlag Schöffling & Co. im vorigen Jahr in einer kommentierten Neuübersetzung herausgegeben hat.

Dieses Buch gesellt sich zu den Berichten beredter Augenzeugen wie Imre Kertész (15 Jahre alt bei der Ankunft in Auschwitz), Primo Levi (24), Wieslaw Kielar, Tadeusz Borowski oder Shlomo Venezia (alle 20), die jeder auf eigene Weise versucht haben, das Grauen dieses Un-Ortes in veröffentlichten Erinnerungen begreifbar zu machen. Der gebürtige Slowake Rudolf Vrba (eig. Walter Rosenberg) kam als 17-Jähriger über das Vernichtungslager Maidanek nach Auschwitz und überlebte dort in verschiedenen Teilen des Lagers und in unterschiedlichen Positionen nahezu zwei Jahre, bevor ihm als einem der ganz wenigen Menschen überhaupt am 10. April 1944 mit seinem Mithäftling Alfréd Wetzler die Flucht gelang.

Die meisten konkreten Details seiner Erzählung waren mir aus den vielen Berichten und Beschreibungen des größten Menschenvernichtungslagers der Geschichte bekannt. Dennoch hat mich die Lektüre dieses Buches noch einmal auf eine Weise berührt und verstört, wie ich es nicht erwartet hätte und auch nicht leicht erklären kann. Gewiss trägt hierzu bei, dass Vrba seine Leidens- und Kampfgeschichte so lebendig und in allen grauenhaften Einzelheiten so nachfühlbar erzählt, dass man ihm nur atemlos folgen kann. Obwohl man weiß, dass es für ihn gut ausgehen wird, zittert man doch mit ihm bei den Vorbereitungen seines Ausbruchs und fühlt intensiv die ständige Bedrohung, der er sich damit aussetzt. Aber dies allein kann es nicht gewesen sein, was das Buch für mich von ähnlichen Zeugnissen unterscheidet. Es klingt vielleicht makaber, wenn ich es so sage, aber ich weiß keinen passenderen Ausdruck. Der Liebe zum Detail ist es vermutlich zu verdanken, wenn ich als Leser meine Zuflucht nicht in einem panoramatischen Blick aufs Ganze dieses Höllenschlunds nehmen konnte. Die Sinnlichkeit, mit der Vrba konkrete Dinge Gestalt annehmen lässt, macht es uns unmöglich, Distanz zu den Ereignissen zu beziehen, die sich dort zutrugen. [Das Titelbild zeigt eine Armbinde für Oberkapos in den Lagern. Auch ein solch konkreter Gegenstand vermag mich ähnlich zu berühren, wenn ich mir vorstelle, wie weibliche Häftlinge eingesetzt wurden, diese Binden in der Näherei anzufertigen. Vermutlich hing ihr Leben davon ab, dass dies mit tadelloser Sorgfalt geschah.]

Ein Rätsel, das das Buch aufgibt, ist das absolut außergewöhnliche, nahezu unmögliche Schicksal seines Autors. Auschwitz zu überleben war schon eine schier unlösbare Aufgabe. Eine gelungene Flucht hingegen war so selten, dass die Frage sich aufdrängt, wodurch der Glückliche, dem sie gelang, hierzu prädestiniert war. Rudolf Vrba stellt sich selbst diese Frage immer wieder – und findet darauf mehrere Antworten. Alles andere wäre vermutlich auch unseriös, denn eine einzelne Erklärung reicht nicht aus, um so viel Glück glaubhaft zu machen. Der junge Mann hatte tatsächlich unglaublich viel Dusel, indem er etwa zahllose lebensgefährliche Situationen mit knapper Not hinter sich brachte, oder indem er immer wieder zufällig an die richtigen Leute geriet, die ihm weiterhelfen konnten und wollten, statt ihn zu verraten. Zugleich hatte er aber auch einen unbeugsamen Optimismus und Überlebenswillen. Er ließ sich von Rückschlägen nicht entmutigen und verfolgte sein Ziel mit größter Beharrlichkeit. Für sein Alter war er erstaunlich besonnen, ein hervorragender Beobachter und guter Menschenkenner. Zudem sprach er mehrere Sprachen und konnte sich damit bei Mitgefangenen nützlich machen, die ihm so Dank schuldeten und ihn im Gegenzug unterstützten. Vielleicht war aber der entscheidende Kraftspender zur Verwirklichung seines Vorhabens Vrbas Motiv. Es ging ihm nämlich nicht darum, durch die Flucht sein eigenes Leben zu retten. Wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, dann hätte er sich besser darauf verlegt, ein weiteres Jahr im Schutz der Unauffälligkeit, die er sich antrainiert hatte, im Lager zu überdauern. Die realistische Hoffnung, dass Hitler den Krieg verlieren könnte und die Konzentrationslager von seinen Gegnern irgendwann befreit würden, teilte er mit den politisch organisierten Häftlingen, die besser über das Kriegsgeschehen draußen informiert waren, als ihren allmählich nervös werdenden Bewachern recht sein konnten. Der Fluchtversuch hingegen war ein hochriskantes Vabanquespiel! Darauf ließen sich Vrba und Wetzler nur deshalb ein, weil sie die Weltöffentlichkeit über Auschwitz informieren wollten und hofften, zugleich hunderttausende ungarischer Juden, deren Vernichtung als nächstes auf Himmlers und Eichmanns Programm stand, zum Aufstand gegen ihre bevorstehende Deportation anzustacheln. Dass dies nicht gelang und insofern die Flucht der beiden gemessen an ihrer Absicht vergeblich war, ist die bittere Pointe des Buches. So wie Vrba nicht von Vergebung sprechen kann, ist es vielleicht auch nicht angebracht, es einen Trost zu nennen, dass wir seiner Flucht immerhin dieses außergewöhnliche Buch verdanken. Dankbar sein dürfen wir dem Schicksal hierfür aber immerhin.

Und auch dem Verlag gebührt Dank, dass er dem Buch viel editorische Sorgfalt hat angedeihen lassen. Augenzeugenberichte aus Konzentrationslagern werden ja nicht nur von Holocaust-Leugnern einer besonders kritischen Prüfung unterzogen, was ihre Faktentreue und Objektivität angeht. Auch politisch neutrale Historiker müssen Zeugenberichte von Opfern auf ihre Glaubwürdigkeit hin gründlich prüfen, denn seelische Traumatisierung kann das Gedächtnis auch ohne bewusste Absicht in die Irre führen. So korrigieren Fußnoten der Herausgeber manche Zahlenangaben oder Daten des Autors, ohne dass daraus gegen ihn der Vorwurf ableitbar wäre, er hätte bewusst übertrieben oder Ereignisse verfälscht. Auch die Abbildungen bereichern den Band. Besonders hat mich gefreut, Rudolf Vrba auf Fotos der 1960er-Jahre und danach als einen fröhlichen, selbstbewussten Ehemann und Familienvater zu sehen, dem selbst die Hölle von Auschwitz nicht den Lebensmut hat rauben können.

[Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. A. d. Engl. v. Sigrid Ruschmeier u. Brigitte Walitzek. M. e. Vorw. v. Beate Klarsfeld. Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Dagi Knellessen u. Werner Renz. Mit zahlr. Abb. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, 2000. – ISBN 978-3-89561-416-3 – 28,00 €.]

Alles gleich

Saturday, 14. May 2011

Neulich brachte die FAZ ein langes Gespräch, das Frank Rieger vom Chaos Computer Club mit Daniel Suarez führte, einem US-amerikanischen Thriller-Autor, dessen Romane Daemon (2006) und Darknet (2010) die ebenso bedrückende wie gut begründete Vision einer menschlichen Gesellschaft entwerfen, die ihre Freiheit endgültig an ihre eigenen Apparate verliert.

An einer Stelle sagt Suarez: „Meine Sorge ist, dass Außenseiter am Ende möglicherweise als ,verdächtig‘ gelten, weil sie nicht ins Schema passen – statt dass es gerade umgekehrt wäre.“ (Frank Rieger: Wir werden mit System erobert: Ein Gespräch mit Daniel Suarez. A. d. Engl. v. Michael Bischoff; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 100 v. 30. April 2011, S. 34 f.) – Der letzte Teilsatz klingt leider etwas hemdsärmelig oder schief geknöpft, was möglicherweise an einer unglücklichen Übersetzung liegt. Ich verstehe Suarez jedenfalls so, dass er eine Lanze für Außenseiter brechen will, deren Beitrag für die Entwicklung der Menschheit immer unverzichtbar war und deren Verschwinden einer Katastrophe für unser aller Zukunft bedeuten würde.

Zufällig las ich fast gleichzeitig anderswo folgenden Satz: „In Auschwitz, das wusste ich, starben die, die anders waren, während die Gesichtslosen, die Anonymen überlebten.“ Er stammt von Rudolf Vrba, einem der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers. (Rudolf Vrba: Ich kann nicht vergeben. Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2010, S. 248.) Die Ausmerzung des Abweichenden und die Anpassung der Verbleibenden an eine ideale Durchschnittlichkeit könnte das Rezept sein, nach dem sich diese Spezies endgültig eliminiert, denn schließlich ist Varietät das vitale Moment jeder Evolution.

Vielleicht komme ich aber nur zu diesem Ergebnis, weil ich mich selbst immer als einen Abweichling empfunden habe, als den Ausnahmefall für alle möglichen Regelmäßigkeiten, den aus der Rolle fallenden, aus der Reihe scherenden Störer. Und nichts ließ mich mehr leiden als die Langweiligkeit des Normalen. (Gleichzeitig war ich mir immer der Gefahren bewusst, denen ich mich damit aussetzte.)

Darum „weg von der Mitte“. (Und darum in „kleinen Schritten“.)

Aus dem Zusammenhang gerissen (I)

Wednesday, 23. March 2011

Ich staune immer wieder über die Reaktionen meiner Mitmenschen in kurzfristig brenzligen globalen Krisenmomenten wie dem jüngsten Doppelknall in Japan und Libyen: Ist das denn nicht seit einem guten Jahrhundert jedem wachen Geist längst deutlich geworden, dass wir auf einen Untergang zusteuern? Offenbar nicht – oder es gibt nur sehr wenige wache Geister.

Ein Blick zurück über ein halbes Jahrhundert. Am 25. Mai 1960 schrieb Jean Améry aus Brüssel an seinen Freund Ernst Mayer, in einem historischen Moment, als man kurz aufatmen durfte, weil der Stalinismus überwunden schien: „Nein, Krieg, den grossen ,shooting war‘, den A- und H-Bombenkrieg wird es wohl nicht geben, so lange China nicht in der Lage ist, ihn vom Zaune zu brechen. Nicht die SU [Sowjetunion] ist die Gefahr – sie war es auch 1948 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht! – sondern das östliche Riesenreich mit seinen 700 Millionen Menschen und seinem entsetzlichen weltrevolutionären und neuerdings auch industriellen Elan. In China sehe ich – ich, der ich nie an den Krieg glaubte! – eine echte Drohung.“ (Jean Améry: Ausgewählte Briefe 1945-1978. Stuttgart: Klett-Cotta, 2007, S. 91.)

Der wache Geist lässt sich eben auch von einer Tauwetter-Periode nicht einschläfern und sieht am Horizont noch ganz andere Gefahren aufdämmern. In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich die damals schon bedrohliche Zahl von 700 Millionen übrigens fast verdoppelt! Heute schicken sich 1.350 Millionen Chinesen an, die Maslowsche Bedürfnispyramide zu erklimmen, und beanspruchen ihr gleiches Recht auf Ernährung, Gesundheit, Wohlstand, Fortschritt, Wachstum, Sicherheit, Unterhaltung, Bildung und Selbstverwirklichung. (Interessant übrigens, dass Améry schon damals einen ,industriellen Elan‘ im Reich der Mitte bemerkte, wo es uns doch heute so erscheint, als habe diese Entwicklung dort erst in neuerer Zeit begonnen.)

Wie wäre es wohl um China und den Rest der Welt bestellt, wäre dort nicht Anfang der 1980er-Jahre die Ein-Kind-Politik eingeführt worden? Diese Frage sollte man sich aber tunlichst verkneifen, will man nicht einen beflissenen Vortrag über die katastrophalen sozialen Folgen dieser fatalen Restriktion zu hören bekommen. Überhaupt kommt das globale Wachstum der Bevölkerung im Spektrum der diversen Untergangsszenarien von ,Atomkrieg‘ über ,Globale Erwärmung‘ bis hin zu ,Wasserverknappung‘ merkwürdigerweise gar nicht mehr vor, obwohl es doch nahe liegt, hierin wenn nicht die Ursache, so doch das entscheidende Treibmittel für alle übrigen Probleme der Menschheit zu sehen. Ein Denktabu?

Das Wort von der ,Bevölkerungsexplosion‘ ist jedenfalls völlig aus der Mode gekommen, was aber nicht weiter schlimm ist, denn inzwischen ist es ohnehin eher angebracht, von einer ,Bevölkerungsimplosion‘ zu sprechen. Zur Erklärung: Bei einer Explosion verbreitet sich die Druckwelle von innen nach außen, bei der Implosion hingegen umgekehrt, von außen nach innen. Und wenn man die weltweite Bevölkerungsentwicklung im vergangenen Jahrhundert betrachtet, so wird sie ja begleitet von einer zunehmenden Urbanisierung, also einer rasanten Zunahme der Siedlungsdichte des Menschen. Wir erleben also einen gleich in zweifacher Hinsicht logarithmisch wachsenden Bevölkerungsdruck. Wie sollte das nicht in eine globale Katastrophe münden?

Nicht ganz dicht

Sunday, 13. March 2011

Neben meinem Sonntagsfrühstücksei liegt die Süddeutsche. Mein Blick fällt auf ein großes Bild im Wirtschaftsteil. Lacht die Kanzlerin? Angesichts dieser grauenhaften Katastrophe in Japan, mit noch unabsehbaren Folgen für die ganze Erde? Was gibt es denn da zu lachen? Möglicherweise irgendwelche Vorteile, die der deutschen Wirtschaft … Ach, was! Die Zeitung ist ja von gestern, das Foto (© Reuters) gar von vorgestern. Es entstand auf dem Sondergipfel der 17 Euro-Länder in Brüssel, bei dem sich Angela Merkel in „Jubelpose“ zeigen durfte, so die Financial Times. Das war einmal. Jetzt ist wieder Betroffenheitspose angesagt. Das Mienenspiel unserer Politiker hat die Authentizität von Verkehrsampeln.

Neulich habe ich die Bundeskanzlerin schon einmal beim Lachen beobachten können. Da saß sie auf ihrem Stuhl im Deutschen Bundestag und hörte sich die Rede von Sigmar Gabriel an, der den noch amtierenden Verteidigungsminister zu Guttenberg unter Beschuss nahm. Dann machte Gabriel seiner Rivalin ein paar Komplimente. „Ich habe Sie als jemanden kennengelernt,“ so der Parteivorsitzende der SPD,  „der, na klar, machtbewusst ist. Das ist keine Frage. Aber ich habe Sie nie als machtvergessen und auch nie als machtversessen erlebt.“ Merkel rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, aber sie machte gute Miene zu bösem Spiel. Oder wie soll ich ihr Lachen bezeichnen? Sie lacht wie eine Debütantin auf dem Wiener Opernball, die der alte Richard „Mörtel“ Lugner mit seinem Küss-die-Hand bedrängt. Aber zugleich wird klar, dass sie Gabriel kein Wort glaubt. Dass sie nicht anders kann, als dessen Vortrag für ein machiavellistisches Schauspiel zu halten. Und noch eine Schicht tiefer unter dieser fingerdicken Camouflage gibt es vielleicht einen kleinen Zweifel, ob Gabriel es nicht etwa doch ausnahmsweise einmal ernst meinen könnte. Aber die Maske hält dicht.

Gestern sind Merkel und Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) vor die Presse getreten und haben Statements zum Erdbeben in Japan abgegeben. Je fürchterlicher die Ereignisse sind, die es in solchen Statements zu kommentieren gilt, desto unglaubwürdiger werden die Betroffenheitsbezeugungen, die vom Stapel gelassen werden. Welcher fleißige Sprachkritiker untersucht einmal Katastrophen-Statements von Politikern speziell im Hinblick auf die Frage, mit welchen Mitteln darin Betroffenheit geheuchelt wird? Ich wage die Behauptung, dass das Repertoire, auch im internationalen Vergleich, beschränkt ist auf ein knappes Dutzend der immer wieder gleichen Versatzstücke.

Ein wesentliches Element des Betroffenheits-Baukastens betrifft den Punkt, ob auch Landsleute unter den Opfern sind. Dieses Bauklötzchen stellte gestern Westerwelle auf den Konferenztisch: „Ich kann Ihnen sagen, dass wir bisher glücklicherweise keine Hinweise darauf haben, dass sich auch deutsche Staatsangehörige unter den Opfern befinden. Ausschließen kann ich das aber nicht, denn wir konnten noch nicht mit allen den Kontakt aufnehmen. Wir hoffen natürlich das Beste, aber wir können leider auch das nicht ausschließen.“ Wenn das eine Nachricht an die Adresse deutscher Angehöriger sein soll, die noch kein Lebenszeichen von ihren Verwandten in Japan erhalten haben, dann wäre sie besser unterblieben. Und wenn man mir unterstellt, dass mir ein deutsches Opfer in Japan mehr zu Herzen geht als ein japanisches, dann frage ich mich, was für ein bornierter, überlebter Nationalismus sich da kundtut. Ich dachte, wir leben in einer globalisierten Welt?

Zudem sind es natürlich zwei ganz andere Sorgen, die die deutsche Bevölkerung beunruhigen. Erstens: Kann die radioaktive Strahlung aus den undichten Kernreaktoren bis nach Deutschland gelangen, über eine Distanz von 9.300 Kilometern Luftlinie? (Zum Vergleich: Tschernobyl war „bloß“ 1.600 Kilometer weit weg.) Dazu die studierte Physikerin Merkel: „Ich habe mich darüber mit den Experten des Bundesumweltministeriums natürlich genau unterhalten und mich informieren lassen. Ich darf Ihnen sagen: Es ist nach menschlichem Ermessen nicht vorstellbar, dass Deutschland von den Auswirkungen des Unglücks in Japan betroffen sein könnte. Wir sind zu weit davon entfernt. Aber ich will dennoch sagen: Natürlich ist Japan uns nahe.“ Welch feinsinniges Wortspiel! – Zweitens: Kann deutschen Kernkraftwerken ein ähnlich folgenreiches Unglück zustoßen? Dazu Merkel: „Wir wissen, wie sicher unsere Kraftwerke sind. Wir wissen, dass wir weder von derart schweren Erdbeben noch von derart gewaltigen Flutwellen bedroht sind. […] Ich finde, an einem solchen Tag darf man nicht einfach sagen: Unsere Kraftwerke sind sicher. Sie sind sicher, aber trotzdem muss man nachfragen: Was ist aus einem solchen Ereignis zu lernen? Auch wenn wir keine Anhaltspunkte dafür haben, dass unsere Kraftwerke nicht sicher wären, können wir trotzdem immer noch dazulernen.“ Man könnte zum Beispiel aus den aktuellen Ereignissen in Japan lernen, dass man immer vom Schlimmsten möglichen Ereignis ausgehen sollte, wenn man sich domestizierte Atombomben in die Landschaft stellt. Beispielsweise von der Möglichkeit, dass morgen ein paar islamistische Fanatiker in ganz Europa mehrere Passagierflugzeuge entführen und jene AKWs ansteuern, von denen bekannt ist, dass ihre Hülle dem Aufprall eines Jumbojets nicht standhält. Auf dieses konkrete Risiko-Szenario sind nämlich die Verantwortlichen in Politik und Energiewirtschaft bis heute jede Antwort schuldig geblieben. Aber Guido Westerwelle drischt jetzt Aktivismus-Phrasen und hat vor allem eine Sorge: „Jetzt muss gehandelt werden, jetzt muss geholfen werden, und jetzt sollten keine parteipolitischen Debatten im Vordergrund stehen.“ Man müsste lachen, wenn es nicht so tragisch wäre, diesen deutschen Außenminister an seinen Herausforderungen nicht wachsen, sondern vielmehr immer noch kümmerlicher werden zu sehen. Immerhin rutscht der Kanzlerin unter all den Betroffenheitsbekundungen und Handlungsbeteuerungen ein wahrer Nebensatz raus, aber der ist hier natürlich aus dem Zusammenhang gerissen und war ganz anders gemeint: „[…] wir sind auch nicht ganz dicht dabei, […].“

Schamloses Geballere

Saturday, 19. February 2011

Get the Flash Player to see the wordTube Media Player.

Der Künstler Isao Hashimoto aus Japan hat vor acht Jahren einen überaus eindrucksvollen Animationsfilm angefertigt. Er veranschaulicht alle zwischen 1945 und 1998 auf unserer Erde durch Nuklearsprengkörper hervorgerufenen Explosionen.

Der Film zeigt jeden einzelnen der insgesamt 2051 Kernwaffentests als kurzes Aufleuchten an seinem genauen geographischen Ort auf der Weltkarte – und natürlich auch die beiden frühen „Anwendungen“ über Hiroshima und Nagasaki. Die Detonationen werden akustisch durch kurze Sinustöne angezeigt. Eine Sekunde entspricht einem Monat. Die Größe der aufleuchtenden Kreisflächen entspricht der Stärke der jeweiligen Explosion. Nationalfahnen am Kartenrand bezeichnen die Atommächte USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich, VR China, Indien und Pakistan. (Israel hat noch nicht getestet, Nordkorea begann damit erst 2006.) Neben jedem Fähnchen läuft ein Zählwerk, das die Tests für jedes Land aufaddiert.

Der Film hat eine sehr zu Herzen gehende „Dramaturgie“. Anfangs empfindet man jedes einzelne Aufleuchten noch als ein besonderes Ereignis, das aus dem tiefen Schweigen heraus für einen Moment auf sich aufmerksam macht. Man hat genug Zeit, sich die ungeheuren Zerstörungskräfte, die sich hinter diesem Tönchen verbergen, ins Gedächtnis zu rufen. Wenn sich ab Mitte der 1950er-Jahre die Testfrequenz so sehr steigert, dass man fast meint, eine elektronische Orgelmelodie zu hören, dann wird einem fast schwindlig. Jedenfalls ging es mir so. Ich schlug die Hände überm Kopf zusammen und rief laut: „Seid ihr denn wahnsinnig? Hört auf!“ Und meine Gefährtin, der ich den Film anschließend vorführte, erblasste und sprach: „Dass sie sich nicht schämen.“

Obwohl ich mich in schonenden Abständen immer wieder einmal mit der furchteinflößenden Hypothek beschäftigt habe, die die Entwicklung der Massenvernichtungswaffen uns beschert hat, war mir Isao Hashimotos eindrucksvolle Versinnbildlichung dieser Ereignisfolge bisher entgangen. Dabei ist der Film an vielen Stellen im Internet hinterlegt. (Ich fand ihn zufällig auf der auch sonst bemerkenswerten Seite postapocalypse.de.)

Tatsächlich klingt das wahnwitzige Geballere Anfang der 1990er-Jahre ab, mit dem Ende des Kalten Krieges scheint Vernunft einzukehren. Wir sind noch einmal davongekommen. Ein Grund zur Sorglosigkeit ist das allerdings nicht. Die dritte „Anwendung“ könnte jederzeit vorgenommen werden, die Mittel dazu werden wir wohl nie wieder los.

Kalter Kaffee

Friday, 31. December 2010

schwarzeflammen

Als ich heute vor einem Jahr, nur halb im Scherz, diese finstere Prognose für 2010 aufstellte, konnte ich noch nicht ahnen, wie strapaziös und gefahrvoll dieses nun endlich vergehende Jahr werden würde – für mich persönlich ebenso wie für den Rest der Welt. Dabei richte ich meinen Blick ja nicht einmal ungeschützt auf die teils traurige, teils erschreckende, teils ekelerregende, teils todlangweilige Wirklichkeit selbst, sondern meist nur auf deren sprachliches bzw. schriftliches Abbild. Doch das reicht mir schon, aber satt!

Längst finde ich kein noch so schwaches Anzeichen mehr, das auf Besserung deutete. Grundsätzlich entpuppen sich alle frohen Botschaften aus der Wirtschaft als Horrormeldungen, wenn ich sie vor einem weiteren zeitlichen und räumlichen Horizont ans Licht halte. Wie kann ich mich – um nur ein Beispiel anzuführen – darüber freuen, wenn in Deutschland neuerdings Beschäftigungsrekorde gefeiert werden, da ich doch weiß, dass diese erstaunliche Trendwende insbesondere von unserem rasant boomenden Autoexportgeschäft mit China ausgelöst wurde. An dieser Entwicklung ist ja nun gar nichts erfreulich! Erstens sollte man ein Land, das Jahr für Jahr seinen eigenen Weltrekord vollstreckter Todesurteile übertrifft und einen Friedensnobelpreisträger im Gefängnis verwahrt, eher mit einem Handelsboykott belegen, als seine Führungsschicht mit Luxuskarossen zu versorgen. Zweitens ist die Beihilfe zur Privatmotorisierung in einem Schwellenland mit demnächst 1,4 Milliarden Einwohnern ökologisch betrachtet eins der schlimmsten Verbrechen, das wir dem Globus antun können. Drittens werden sich diese Chinageschäfte ohnehin bald als ein Strohfeuer erweisen, denn die Ingenieure im Reich der Mitte arbeiten seit Jahren schon mit Unterstützung versierter Hacker fieberhaft an einem west-östlichen „Know-how-Transfer zum Null-Tarif“ von nie dagewesenen Ausmaßen und noch nicht absehbaren Folgen. Viertens erweist sich die Abhängigkeit, in die wir uns mit diesen Exportgeschäften begeben haben, als fatale Falle: Wir hängen am Tropf – und dieses Bild passt noch in anderer Hinsicht, sind wir doch auch demographisch eine Gesellschaft, die zunehmend zum Pflegefall degeneriert.

Wenn ich noch einen Schritt weiter zurücktrete und mir eine Grundwahrheit in Erinnerung rufe, die mich in meiner Jugend Mitte der 1970er-Jahre erreichte und die bei aller Patina, die sie mittlerweile vielleicht angesetzt hat, im Kern immer noch über jeden Zweifel erhaben ist, dann erscheint mir das Tagesgeschäft, das die gewählten oder selbsternannten Politiker als Sachwalter unserer und der Interessen unserer Kinder und Kindeskinder betreiben, wie ein blindwütiges Pfuschwerk. Im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine Studie The Limit of Growth, deren Prognosen sich in manchen Details vielleicht als falsch erwiesen haben mögen. Aber die schon im Titel deutlich ausgesprochene Erkenntnis, dass die Möglichkeiten wirtschaftlichen Wachstums auf dieser Erde begrenzt sind, erweist seine Wahrheit in den alltäglichen Horrormeldungen über die schrecklichen Folgen, die wir angerichtet haben, indem wir diese Grenzen nicht respektierten und heute mehr denn je ignorieren.

Noch keine Neujahrsansprache keines Bundekanzlers kam ohne die Beschwörung des wirtschaftlichen Wachstums aus, das ist auch zu diesem Jahreswechsel nicht anders. Diesmal vermeiden Angela Merkels Redenschreiber zwar das mittlerweile vielleicht doch etwas suspekt gewordene Wort „Wachstum“, aber nur, um den gleichen Wahnsinn in andere Wörter zu kleiden. Nachdem die Bundeskanzlerin einige Leistungen der Bundesregierung im zurückliegenden Jahr 2010 aufgezählt hat, resümiert sie: „Das alles trägt zu Zusammenhalt und Wohlergehen bei. Denn Wohlergehen und Wohlstand – das heißt nicht nur ,mehr haben‘, sondern auch ,besser leben‘? Dafür brauchen wir Sie, die Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibt ’s nicht, die eine Idee haben und den Mut, sie auch umzusetzen.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011; hier nach Welt Online.) – Es geht also wie gehabt um ein Mehr, um quantitatives Wachstum; und die Spitzfindigkeit, dass doch auch Qualität eine Rolle dabei spielen soll, indem ein Besser ins Spiel gebracht wird, ist schnell entlarvt. Schon bei den Ideen, die die Tüftler der Republik mutig verwirklichen sollen, damit die Erfindernation ihren Ruf als solche verteidigen kann, stutzt man und fragt sich, warum hier nicht von einer „guten Idee“ die Rede ist. Dass die bloße Machbarkeit noch kein hinreichendes Plazet für die geschäftstüchtigen Macher sein kann, ihre womöglich zerstörerischen Geisteskinder auf die Menschheit loszulassen, kommt dieser Kanzlerin erst gar nicht in den Sinn. Ideen sind gut, wenn sie sich rechnen und Arbeitsplätze schaffen, das ist nach wie vor das Credo dieser Politik. Eine solche Rhetorik braucht nur 17 Wörter, um den „Ausstieg aus dem Ausstieg“, die Rückkehr zur Atomkraft also, in einen ökologischen und zugleich wirtschaftlichen Geniestreich umzulügen: „Wir gehen den Weg zur modernsten Energieversorgung der Welt, die Klima und Umwelt schont und bezahlbar ist.“ (Angela Merkels Neujahrsansprache für 2011, a. a. O.)

Vorhersagen für das kommende Jahr kann ich mir sparen. Es wird schlimmer, das ist gewiss. Also gilt es der Wahrheit zuliebe, unbarmherzig Schwarzmalerei zu betreiben, Tag für Tag das Elend beim Namen zu nennen. Und wie kann man das durchhalten? Günther Anders kennt folgendes Mittel: „Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: ,Wenn ich verzweifelt bin, was geht ’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!‘“ (Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter; in: Die atomare Drohung. München: C. H. Beck, 1983, S. 105.) – So auch ich 2011.

Protected: Lingba Xianzhang

Sunday, 12. December 2010

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Protected: Myrte & Guave

Wednesday, 17. November 2010

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Ab nach Majak damit!

Wednesday, 10. November 2010

einlaufendewaggonsinsteufelsloch

Vielleicht wird unsere Spezies einmal ins ewige Goldene Buch der Schöpfung eingehen als die von Verdrängungsweltrekordlern. Wir haben es ja wirklich raus, was uns nicht passt beiseitezuschieben. (Vielleicht sollte ein kühner Historiker gelegentlich einmal wagen, die Geschichte der Menschheit allein von diesem zugegeben eindimensionalen Gesichtspunkt aus in den Blick zu nehmen. Was daraus resultierte, wäre vermutlich unterhaltsamer als die tägliche Zeitungslektüre, die doch immer nur punktuell Belegstücke für die These liefert, dass das Projekt Mensch auf Terra scheitern muss, weil seine humanen Protagonisten die Wahrheit nicht ertragen.)

Dieses Verdrängen hat nun gestern eine überraschende, neue Pointe gefunden. Eigentlich ist ja schon staunenswert genug, dass allerlei Todeszeichen der Gattung Homo sapiens – von der (ich verwende hier genüsslich das nur scheinbar abgenutzte, dessen ungeachtet doch sehr treffende Wort) Weltbevölkerungsexplosion über die heillose und irreversible Verschleuderung von Energie- und Materialreserven unseres geschundenen Planeten bis hin zum rückstandslosen Verlust jeder Idee von Sinn seines Daseins auf dem Bildschirm seiner Selbstwahrnehmung – allenfalls als Hintergrundrauschen auftauchen, als ein schwaches Flickern oder blasses Flimmern, bei all dem Starkulttrara, Skandalfeuerwerk und Selbstbeweihräucherungsnebel, mit dem uns unsere Massenmedien mittlerweile rund um die Uhr beschallen, verspotten und desensibilisieren.

(Und für diesen großen Fake gibt es demnächst noch die zwangsverordnete GEZ-Gebühr, die auch unsereiner, der einer mikroskopisch kleinen Minderheit von Fernsehverweigerern angehört, zu entrichten hat, weil es der Staat sich selbst nicht zumuten kann, die Lauterkeit meiner Nichtinanspruchnahme-Behauptung zu überprüfen. Und das wird uns perfiderweise verkauft als ein Fortschritt, weil damit doch endlich die penetrante Belästigung durch die GEZ-Schnüffler ein Ende habe. Ich hatte mich über die Besuche dieser freundlichen Kontrolleure nie zu beschweren, mit reinem  Gewissen und dem fröhlichen Blick in ihr erstauntes Gesicht wenn sie ausnahmsweise einmal einsehen mussten, dass es tatsächlich Menschen ohne Fernseher immer noch gibt: „Bitte, schauen Sie gern in jeden Kleiderschrank. Ich habe nichts zu verbergen!“ Wenn das Bundesverfassungsgericht diesen Rechtsbruch abnickt, will ich nicht länger Bürger dieses Staates sein. – Aber das nur am Rande.)

Dieses Verdrängen hat also nun gestern eine überraschende, neue Pointe gefunden, nachzulesen auf der Titelseite meiner Tageszeitung, der Süddeutschen Nr. 259 vom 9. November 2010. Noch in diesem Monat soll nach Informationen des Blattes ein Abkommen zwischen Deutschland und Russland getroffen werden, das es meinem Vaterland künftig gestattet, seinen strahlenden Scheißdreck kostengünstig außer Landes zu verfrachten – ohne kostspielige und imageschädigende Proteste im Wendland. Damit findet der Kolonialismus nun also endgültig in umgekehrter Richtung statt: Wo die „fortschrittlichen“ Staaten bislang die „unterentwickelten“ auspumpten und ihrer Bodenschätze (vom Gold bis zum Öl), Naturprodukte (von Kakao bis Koka) und Produktivkräfte (früher Sklavenimport, heute Arbeitsexport) beraubten, da pumpen sie künftig die giftigen Überbleibsel ihres hemmungslosen Hedonismus dorthin zurück, wo ja ohnehin kein Gras mehr wächst.

Sollen die Schotterer also künftig nach Tscheljabinsk pilgern, um dort das Gleisbett anzugraben? Das werden sie nicht können. Und genau das wissen die Herren in den steifleinenen Hemden nur zu gut, die in den Energiekonzernen, einer von den größten wenig mehr als drei Kilometer Luftlinie von meinem Schreibtisch entfernt, mit einem eiskalten Federstrich für diese Auslagerung sorgen. – Aber ich habe längst aufgegeben, meine Empörung über solche Schandtaten zu personifizieren. Es wäre doch naiv anzunehmen, dass Jürgen Großmann & Co. die Wahl hätten zwischen der Übeltat einer solchen Verdrängung und der Heldentat des Bekenntnisses zum doch – selbst vom sprichwörtlichen  Blinden mit Krückstock  – absehbaren Zusammenbruch nicht nur ihres, sondern unser aller Energieversorgungs-Unternehmens. Der Konkurs dieser sorglosen Versorgungsindustrie ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Gleichgewicht des Schreckens

Wednesday, 07. April 2010

trinity

Gestern haben US-Außenministerin Hillary Clinton (*1947) und US-Verteidigungsminister Robert Gates (*1943) ein neues Strategiepapier der Obama-Regierung zum zukünftigen Umgang ihres Landes mit Atomwaffen vorgestellt. Diese 2010 Nuclear Posture Review (NPR) gilt vorläufig für die nächten fünf bis zehn Jahre und wurde allgemein als ein Fortschritt auf dem Weg zu einer globalen atomaren Abrüstung begrüßt, wobei die Meinungen wie üblich auseinandergingen, ob es sich hierbei nun um einen kleinen oder großen Fortschritt handelt.

Ich persönlich musste wieder einmal feststellen, dass mein eigenes Wissen über diese für die Zukunft der Menschheit doch so existenzbestimmende Frage lückenhaft bis falsch ist. Ich hatte bisher nämlich angenommen, dass die USA als freiheitlicher und friedliebender Staat Atomwaffen nur dann einsetzen würden, wenn ein feindlicher Aggressor sie zuvor mit Atomwaffen angegriffen hätte oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorstünde und anders nicht abgewendet werden könnte.

Nun lese ich in dem gestern veröffentlichten Fact Sheet des U. S. Department of Defense Office of Public Affairs: “The United States will not use or threaten to use nuclear weapons against non-nuclear weapons states that are party to the Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT) and in compliance with their nuclear nonproliferation obligations.” Mit anderen Worten: Die USA hätten bisher auch Staaten mit Nuklearwaffen angreifen können, die solche Waffen nicht einmal selbst besitzen, geschweige denn sie gegen die USA zum Einsatz gebracht hätten oder dies wenigstens angedroht hätten. Und auch nach der neuen Selbstverpflichtungs-Erklärung schließen die USA nicht aus, Staaten mit Nuklearwaffen zu attackieren, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben haben, ganz gleich ob diese nun über solche Waffen verfügen oder nicht (#2.1 des Fact Sheet). Zurzeit sind dies allerdings nur die beiden erklärten Atommächte Indien und Pakistan sowie die beiden „vermutlichen“ Atommächte Israel und Nordkorea. Wenn ich es recht verstehe, dann könnten die USA somit selbst nach den fortschrittlichen neuen Regeln ein Atombömbchen auf meine Heimatstadt fallen lassen, wenn Deutschland unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist seine Zugehörigkeit zum Atomwaffensperrvertrag aufkündigen würde.

Aber keine Panik! Schließlich wollen die USA künftig nur unter „extremen Umständen“ und zur „Verteidigung ihrer vitalen Interessen“ zu diesem allerletzten Mittel greifen (#2.2 des Fact Sheet). Was das genau heißen würde, möchte ich mir vorläufig nicht ausmalen. Schließlich gibt es ja Szenarios, mit denen man weitaus wahrscheinlichere Katastrophen heraufbeschwören kann. Da ist z. B. noch immer die ungeklärte Frage, wie die mit Kernkraftwerken bestückten Staaten einen terroristischen Angriff dieser unzureichend gepanzerten Objekte durch gezielte Flugzeugabstürz oder panzerbrechende Waffen verhindern wollen. Fest steht wohl, dass selbst in Deutschland mindestens sieben Reaktoren gegen einen solchen Anschlag nicht ausreichend geschützt sind (Brunsbüttel, Philippsburg 1, Isar 1, Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Unterweser). Wie es im benachbarten Ausland aussieht, etwa in Tschechien oder im mit AKWs geradezu bepflasterten Frankreich? Ich will es lieber gar nicht wissen.

Einerseits soll man auch kleine Fortschritte begrüßen, in einer Welt, die zu Hoffnung so wenig Anlass gibt. Andererseits darf man sich nicht durch solche kleinen Fortschritte darüber hinwegtäuschen lassen, wie weit wir noch immer von einer langfristig stabilen Friedenssicherung auf diesem Planeten entfernt sind.

Zahlenspiele

Tuesday, 02. March 2010

ende

Im Deutschlandfunk befragte heute Michael Langer den Schweizer Soziologen Jean Ziegler (*1934) zu seinem letzten Buch, Der Hass auf den Westen (München: Bertelsmann, 2009). Gleich eingangs des eineinhalbstündigen Dialogs in der Reihe Zwischentöne entspinnt sich eine kuriose Haspelei, die ich vom Band abgeschrieben habe:

Ziegler: „Wir sind jetzt 5,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt …“ – Langer: „Herr Ziegler, noch mehr: 6,7!“ – Ziegler: „Nein, 5,7 sind wir jetzt.“ – Langer: „5,7?“ – Ziegler: „Entschuldigung, dass ich jetzt mit Ihnen … dass ich Ihnen widerspreche. Das sollte man nicht tun, oder?“ – Langer: „Ja … doch, doch! Weiter!“

Leser dieses Blogs wissen, dass Ziegler irrt und vor ein paar Tagen sogar bereits 6,8 Milliarden erreicht wurden. Kaum ist das Gespräch zwei Minuten alt, muss sich der ausgewiesene Fachmann für globale Bevölkerungspolitik, Weltwirtschaft, Neokolonialismus und das Elend der Dritten Welt von einem einfachen Rundfunkjournalisten belehren lassen – und nimmt diese Lehre nicht einmal an! Da Ziegler anschließend hauptsächlich mit Zahlen argumentiert, müssen sein Sachverstand und seine Urteilskraft in der Wahrnehmung eines unbefangenen Hörers durch diesen doch nicht gerade unerheblichen Lapsus schwer diskreditiert sein.

Wenig später macht Ziegler uns darauf aufmerksam, dass „alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren stirbt. Wenn wir anderthalb Stunden reden, werden es über 720 Kinder sein, die verhungert sein werden.“ Auch diese Rechnung irritiert jeden halbwegs fitten Kopfrechner. Wenn alle fünf Sekunden ein Kind stirbt, dann sind das zwölf Kinder pro Minute und in 90 Minuten 1080 Kinder. Nun gut, Ziegler sagt über 720 Kinder, insofern ist seine Behauptung nicht falsch, sondern nur grob ungenau.

Aber es ist vermutlich geschmacklos, die Pedanterie hier zu weit zu treiben. Tatsache ist jedenfalls, dass knapp ein Fünftel der Todesfälle auf der Erde auf Hunger zurückzuführen sind und dass vermutlich mehr als zwei Drittel dieser Hungeropfer Kinder sind. Gleichzeitig kann aber doch Jean Ziegler nicht übersehen, dass die Zahl der Geburten, die gleichzeitig in den anderthalb Stunden seines Radiotalks zu verzeichnen sind, die der verhungernden Kinder um das zwanzigfache übertrifft. Man kann wohl kaum vermeiden, über solche Zahlen zu diskutieren, ohne sich den Vorwurf des Zynismus zuzuziehen. Zweifellos ist der moralische Furor, mit dem Ziegler „die strukturelle Gewalt der kannibalischen Weltordnung“ verflucht, sympathischer als solch morbide Arithmetik. Wenn er sich darauf beschränkt hätte, Immanuel Kant zu zitieren und die multinationalen Konzerne anzuklagen, könnten wir seiner Verzweiflung nur beipflichten. Da er aber mit Zahlen jongliert, und zwar mit Zahlen, die augenscheinlich zu groß für ihn sind, verspielt er seinen intellektuellen Kredit. Das ist bedauernswert, wo doch sein Thema auch uns sehr am Herzen liegt – aber nicht nur dort.

[Titelbild von A. Paul Weber: Das Ende (1939/40)]

Ist’s der Fall?

Thursday, 04. February 2010

humpop

Demnächst, sehr bald klappen wieder einmal die letzten acht Ziffern der Weltbevölkerungsuhr von 9 auf 0 um, aus der 7 auf Platz zwei wird eine 8 und wir zählen dann 6,8 Milliarden Menschen hienieden. Ähnlich rasant läuft die Uhr der Staatsverschuldung in den USA oder in Deutschland. Solche ratternden Zählwerke versuchen, Entwicklungen fühlbar zu machen, die als statische Ziffernfolgen gänzlich unbegreifbar bleiben. Ehrlicher ist es übrigens, wenn die aktuelle Bevölkerungszahl als Differenz zwischen Geburten und Todesfällen dargestellt wird, wie zum Beispiel hier. Da gibt es dann ein noch schneller laufendes Zählwerk für die durch Geburten zum Bestand hinzukommenden Menschen, ein deutlich langsameres Zählwerk der durch Tod fortfallenden Menschen und schließlich die hieraus sich errechnende aktuelle Bestandszahl, so wie sie jetzt in der schlichteren Animation gezeigt wird.

Dennoch fehlt eine Zahl. – Zwischen Juni 1988 und November 1995 plauderten Alexander Kluge und Heiner Müller vor laufender Kamera über das Allgemeinste und das Privateste, sie kamen dabei von Hölzchen auf Stöckchen, von der Fernbedienung in der Hand von Müllers Töchterchen im Handumdrehen zur Apokalypse. In einem dieser Gespräche, Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll, stellt Kluge fest, „dass die Summe der Toten und dieses Lager der Lebendigen konstant bleiben über lange Perioden. Und würde je das Lager der Lebendigen das Lager der Toten an Zahlen übertrumpfen …“ – Müller: „Und das ist jetzt der Fall!“ – Kluge: „… dann habe ich Armageddon.“ – Müller: „Dann wird’s gefährlich.“ – Kluge: „Dann ist die Katastrophe.“ – Müller: „Ja, ich glaube schon.“ – Kluge: „Weil gewissermaßen der Rat, das Gewicht der Toten gibt sozusagen die Plätze … befestigt, verankert die Plätze der Lebenden.“ – Müller: „Ja, ja.“ Es fehlt die Zahl der Toten seit der Entstehung von Homo sapiens, seit der Vertreibung aus dem Garten Eden: die Zahl der Gräber auf dem Friedhof aller Zeiten seit Menschengedenken.

Heiner Müller meinte also, der Zeitpunkt sei gekommen, da aktuell mehr Menschen quicklebendig auf der Welt herumlaufen als mausetot unter der Erde liegen; somit stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor, wenn man der antiken Prophezeiung glauben wolle. Dies ist offenkundiger Nonsens. Vielmehr haben Berechnungen ergeben, dass die Zahl aller auf unserem Globus jemals geborenen Menschen seit 50.000 v. Chr. schätzungsweise 110 Milliarden beträgt. Der Anteil der jetzt lebenden von allen je geborenen Menschen beträgt also nur etwa 6,2 Prozent. Müller ist vermutlich einer Mitte der 1970er-Jahre verbreiteten Falschmeldung aufgesessen, welche besagte, dass damals 75 Prozent aller je geborenen Menschen auf der Welt lebten. Eine wohl unbestreitbare Tatsache ist vielmehr, dass der kritische Punkt einer Übereinstimmung beider Zahlen niemals erreicht werden kann.

Nun muss ja ein moderner Dramatiker kein Fachmann für Globaldemografie sein. Auch wollen wir dem offenbar schwerstabhängigen Zigarrenqualmer nicht verübeln, wenn er im Nebel seiner Havanna keinen ganz klaren Blick mehr auf die Tatsachen hat. Und dann ist hier noch die bekannte Neigung mancher Hirntiere in Rechnung zu stellen, in der Agonie zu Hiobsbotschaft und Kassandrageschrei ihre Zuflucht zu nehmen vor der offenbar unerträglichen Vorstellung, die Welt könne auch ohne sie weiter ihre Bahnen ziehen. Aber wenn ich einmal über eine solche krasse Verkennung der Tatsachen gestolpert bin, dann ist mein Misstrauen geweckt und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom bloßen großen Namen ins Bockshorn jagen.

Was ich jedoch Heiner Müller weit weniger verzeihen kann als seine naive Weltuntergangs-Prognose aus dem Kaffeesatz der Orestie, das ist die Kindesmisshandlung, die er zu Beginn des gleichen Gesprächs schildert: „Es ist zum Beispiel eine Frage, was passiert mit Kindern, die die Welt primär kennenlernen durch Abbildung, Fernsehen. Meine Tochter ist vierzehn Monate alt, die steht schon mit dem Gerät [der Fernbedienung] da vor dem Fernseher und kann das bedienen. Sie weiß nicht genau wie, aber irgendwas schafft sie immer. […] Und sie drückt dann auf den Knopf, und dann ist was anderes da auf dem Bildschirm, das hat sie schon verstanden. Aber sie lernt die Welt, die Außenwelt, wesentlich kennen über den Bildschirm. Was heißt das, was passiert da, wenn die Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwinden?“ – Das ist eine Apokalypse im Kleinen.

Protected: Zootiere im Krieg

Monday, 01. February 2010

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Buchwesen (III)

Saturday, 19. December 2009

guy

Zurück zum Thema. Der Clou beim Pas de deux von Alice Schwarzer und Esther Vilar zum Thema Benachteilung oder Privilegierung der Frau? war, dass als Kontrahent der Frauenrechtlerin nicht, wie zu erwarten, ein Mann antrat, sondern eine Geschlechtsgenossin, die damit demonstrativ aus der weiblichen Solidargemeinschaft ausscherte und gegen das Bild der unterdrückten Frau ihren „dressierten Mann“ stellte.

Solche irritierenden Mauersprünge waren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen 1975 noch möglich. Heute ist die Abbildung von kontroversen Meinungsbildern in den Massenmedien völlig statisch geworden. Allenfalls die Entlarvung engelsgleicher Stars als schmutzstarrende Übeltäterinnen vermag noch zu irritieren. Mittlerweile gehören aber längst auch solche privaten Entgleisungen zum Image-Portfolio eines Weltstars und tragen zu dessen wünschenswertem Facettenreichtum bei. Die koksende Anorektikerin Kate Moss und der unter seniler Satyriasis leidende Silvio Berlusconi haben allemal mehr Chancen, sich in den Schlagzeilen und an der Macht zu halten als eine fade Sharon Stone, die ein Skandälchen höchstens unfreiwillig hinbekommt, oder ein farbloser Rudolf Scharping, dem sein Swimmingpool-Geplansche mit Kristina Gräfin Pilati-Borggreve wohl letzten Endes deshalb zum Verhängnis wurde, weil es so schrecklich stutzerhaft inszeniert war.

Das Spektakel als Präservativ über der katastrophalen Wirklichkeit ist also heute für keine Überraschung mehr gut. Es platzt nicht, es reißt nicht, es hält dicht. Es verhindert mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit jeden Durchblick auf die Hintergründe und Zusammenhänge, nicht etwa wie in früheren Zeiten durch Lüge, Verstellung und Ablenkung, sondern allein durch overflow. Diesen Betäubungseffekt durch Übersättigung gab es zwar in der älteren Buchzeit auch schon. Es heißt ja, dass vielleicht die gelehrten Zeitgenossen Goethes die letzten Menschen waren, die mit viel Fleiß bei optimalen Studienvoraussetzungen noch einen universalen Überblick über das Wissen ihrer Zeit erwerben konnten. Danach musste die aufgeklärte Wissbegier vor der schieren Masse des Materials kapitulieren. Immerhin erlaubte die Ordnung der Wissenschaften seither aber noch eine systematische Spezialisierung und der Fortschritt konnte durch die akademische Vernetzung der Spezialisten weiterhin seinen (wie wir uns jetzt langsam mal eingestehen könnten: verhängnisvollen) Lauf nehmen. In der Turbozentrifuge der modernen Medien hingegen wird alles zu einem einzigen indifferenten Brei vermischt, facts & fiction, reason & emotion, past & future, dream & reality.

Das Tagwerk des unverdrossenen Beschreibers, der im Nichtstun kein Auskommen findet und zum Sinn keinen Einlass, beschränkt sich also aufs Arrangieren flüchtiger Impressionen, aus dem Augenblick und für den Augenblick. Eben wird in Kopenhagen wieder einmal eine „letzte Hoffnung“ zu Grabe getragen. Für den Klimagipfel mussten am Tagungsort, dem Bella-Center, 1.200 Kilometer Stromkabel verlegt werden, die nach dem erfolglosen Ende der Veranstaltung wieder aus den Wänden gerissen werden müssen. Dieses Bild genügt mir zum Thema.

Pessimismus ist noch die froheste Geisteshaltung, die ohne Heuchelei oder Selbstverleugnung möglich ist. Daraus ein Buch schneidern? Vielleicht. Aber warum? Das Weblog passt doch viel besser zu dieser Kurzweil.

Buchwesen (II)

Tuesday, 15. December 2009

indif

Ich werde im Folgenden umstrittene Themen, die die Zeitgenossen vorübergehend oder dauerhaft anziehen wie die Mücken das Licht und sie scharenweise zu ambitionierten Kommentaren in den Weblogs hinreißen, buchverdächtig nennen. Denn wenn Menschen, die meist durch jahrzehntelangen passiven Medienkonsum nahezu sprach- und völlig schriftlos geworden sind, nun in großer Zahl ihren Frust in die Tastatur hämmern, dann wäre man ein schlechter Menschenkenner und noch schlechterer Kaufmann, wenn man hier nicht einen potenziellen Bestseller witterte.

Üblicherweise werden heiße Kontroversen in den Verlagshäusern nach dem Pro-und-kontra-Schema polarisiert. Das hat den Vorteil, beide einander feindlich gegenüberstehenden Zielgruppen „abschöpfen“ zu können, wenngleich der Zynismus selten so weit geht, dass beide Bücher im gleichen Verlag erscheinen. Sehr schön gelang dies beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre mit dem Tandem Alice Schwarzer und Esther Vilar. Die Feministin und die Anti-Feministin trafen in den gerade erst im BRD-Fernsehen populär werdenden Talkshows aufeinander und führten vor, wie telegen Unversöhnlichkeit sich präsentieren kann. Damals konnte man nur vermuten, dass solche öffentlich ausgetragenen Lagerkämpfe bloß die Fronten verhärteten und so gut wie nie zu einem Erkenntnisfortschritt hüben wie drüben führten, geschweige denn zu einem Kompromiss. Heute ist man, was das betrifft, nicht mehr auf Spekulationen angewiesen. Unter jedem kontrovers kommentierten Blogartikel kann man bis zum Überdruss nachlesen, dass sowohl die Kontras als auch ihre Gegner, die Pros sich im Besitz der alleingültigen Wahrheit wähnen und davon desto fester überzeugt sind, je länger das Hickhack dauert.

Ganz nebenbei wird bei dieser Betrachtung auch der alte aufklärerische Optimismus endgültig zu Schanden, dass das öffentliche Streitgespräch zu einem friedlichen Ausgleich der Gegensätze führen könne, auf dem Wege über ein wechselseitiges Verständnis der Kontrahenten füreinander. Dies mag in den gepflegten Kreisen gut versorgter Intellektueller vorstellbar sein. Dass Otto Normalzerstörer aber, was die Streitkultur betrifft, ganz anders gebaut ist und jeden seiner Standpunkte mit Zähnen und Klauen verteidigt, als ginge es um die nackte Existenz, das hatten Zivilisationsskeptiker zwar schon immer geahnt, jetzt aber ist es dank Internet unumstößlich bewiesen.

Alberto Manguel hat einmal in seiner Geschichte des Lesens bemerkt, und Jacque Bonnet hat es soeben in seinen Bekenntnissen eines Bibliomanen in Erinnerung gerufen, dass es wohl so gut wie kein Buch gebe, in dem nicht wenigstens ein interessanter Satz stehe. Dem kann ich nur beipflichten, wobei ich, damit kein Missverständnis aufkommt, sicherheitshalber hinzufügen möchte: Gerade die dümmsten Sätze können in einem klugen Kopf zu den interessantesten Einsichten führen.

Und genau so verhält es sich mit den borniertesten und stursten Hahnenkämpfen in den Weblogs unserer Tage. So stieß ich beim unten erwähnten taz-Artikel von Heiko Werning auf folgenden Kommentar eines Klimaskeptikers (leicht gekürzt und stellenweise stillschweigend korrigiert): „Jetzt möchte ich mal hören, ob ich das richtig verstehe. Die Katastrophenbefürworter sagen, weil sich um die Erde ein Mantel von Treibhausgasen legt, heizt sich die Erde von innen heraus auf. Hab ich das soweit richtig verstanden? Wieso ziehe ich mir eigentlich Textilien an? Müsste ich mich nach dieser Theorie nicht auch von innen her aufheizen? Meine Körperwärme kann nicht nach außen abfließen. Demzufolge müsste ich doch immer heißer werden? Und kommen wir mal abseits jeglicher Beweise zu folgendem. Ich bin 43 Jahre und kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern. Und an die schönen Sommer die es damals gab, wenn wir als Kinder den ganzen Sommer draußen barfuß durch die Natur getobt sind, draußen im Garten übernachtet haben. Und wie sang Rudi Carrell damals ,Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer wie er früher einmal war?‘ Und jetzt schauen wir uns unsere Sommer heute an. Ich bin leidenschaftlicher Motorradfahrer. Ich achte also sehr genau auf das Wetter. In den letzten Jahren war meine wichtigste Bekleidung beim Fahren meine Regencombi. Als junge Bengels sind wir im Sommer, weil es warm war, noch mit kurzen Hosen gefahren. Sogar nachts. In den letzten Jahren bin ich die ganzen Motorradsaisons nur mit langen Unterhosen drunter gefahren und [habe] vor allem immer die Regenkombi wenigstens mitgenommen. Bis auf ein paar wenige sehr warme Tage, nur kaltes Scheißwetter im Sommer! Und dann höre ich die ganze Zeit: globale Erwärmung. Jetzt könnte ich als Motorradfahrer ja sagen, wo ist denn die globale Erwärmung wenn man sie braucht? Jetzt aber mal im Ernst. Ich brauche keine Tabellen oder Diagramme, um zu erkennen, dass anscheinend die Erwärmung ausfällt. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Und wenn einer weiter oben fragt, wo denn der ganze Schnee bleibt? 50 Grad [minus] in Sibirien, Schneestürme mit 20 Toten in den USA – also für mich klingt das nicht gerade nach globaler Erwärmung. Und komm mir jetzt keiner von diesen Untergangsfetischisten damit, ich bildete mir das alles bloß ein. Abseits aller Doktoren und Professoren und IPCC und dem ganzen Geschisse: Leiden die alle unter Alzheimer? So, musste ich mal loswerden! Schönen Tag noch.“

[Wird fortgesetzt.]

Buchwesen (I)

Sunday, 13. December 2009

sinngebung

Bücher können auf zweierlei Weise entstanden sein. Im ersten Fall hatte der Verfasser das ganz persönliche Bedürfnis, etwas von sich und seiner Sicht der Welt auszudrücken, und sei’s nur für sich selbst. Im zweiten Fall hat er das Pferd genau von der andren Seite her aufgezäumt und darüber nachgedacht, was die Welt noch für ein Buch brauchen könnte, um dann zu probieren, ob er genau dieses Buch hinbekommt. Der Einfachheit halber wollen wir Bücher vom Typ I hier Elfenbeinbreviere nennen, Bücher vom Typ II hingegen Reparaturanleitungen. Damit mich der Leser nun nicht vorderhand ins gerade heute immer größer werdende Heer der terrible simplificateurs einreiht, füge ich ausdrücklich hinzu, dass beide Formen kaum je absolut rein vorkommen, vielmehr in jedem Buch der einen gewöhnlich auch etwas von der anderen Form enthalten ist.

Damit deutlich wird, was ich meine, will ich ein paar Beispiele für den zweiten Buchtyp nennen. Nehmen wir zum Beispiel die zahllosen Ratgeber für Fragen des Alltags, von 1000 ganz legalen Steuertricks bis zum Nichtraucher durch Selbsthypnose. Sie helfen der jeweils angesprochenen Zielgruppe, ein Defizit auszugleichen, hier: mangelnde Kenntnisse des aktuellen Steuerrechts – oder einen Defekt zu reparieren, hier: die Nikotinabhängigkeit. Die Bedürfnisse der Adressaten liegen somit offen zu Tage und man kann aus der Höhe der jeweils verkauften Auflage ohne Umwege auf die Verbreitung und Bedeutung des behandelten gesellschaftlichen Problems schließen. Umgekehrt gibt es in den auf Reparaturanleitungen spezialisierten Verlagen längst Trendscouts, die nach neu auftretenden oder noch nicht ausreichend versorgten Defekten forschen, um die Betroffenen mit den passenden Handreichungen versorgen zu können. Und wenn die Flöhe mal gar nicht husten, wird rasch ein neuer Defekt erfunden und mit allen Mitteln als neue Seuche propagiert. So gibt es ja etwa den gut begründeten Verdacht, dass das weitverbreitete Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bloß ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Nicht ganz so offensichtlich ist für den ungeschulten Blick, dass auch der gesamte Bereich der populär-politischen Literatur zum Typ II gehört. Meist geht es den Lesern solcher Bücher darum, ihren politischen Standpunkt mit schlagkräftigen Argumenten wieder und wieder bestätigt zu finden. Die Leser von Kohl-Biographien sind in den seltensten Fällen Wähler Oskar Lafontaines, et vice versa. Weil in der rauen Wirklichkeit gesellschaftlicher Diskurse die eigene feste Überzeugung immer wieder durch Gegenargumente ramponiert wird, bedarf es des politischen Sachbuchs als Reparaturhilfe. Aus Sicht der Verlage besonders erfolgversprechend sind dabei Argumentationshilfen gegen vorherrschende Meinungen, zumal dann, wenn diese Meinungen die individuellen Denk- und Lebensgewohnheiten der avisierten Zielgruppe in Frage stellen.

Auch dazu ein konkretes Beispiel: Wer seinen Lebenszweck darauf abgerichtet hat, beruflich erfolgreich zu sein und sich zur Belohnung in seiner Freizeit etwas dafür leisten zu können, dem schmeckt es nicht, wenn ihm Mahner gegen ungebremstes Wirtschaftswachstum, gegen blindwütigen Konsumismus, gegen schonungslosen Verbrauch unersetzlicher Naturressourcen in die sonst so fein abgeschmeckte Suppe spucken. Zur Stärkung des Selbstbewusstseins solcher angefressenen Endzeityuppies gibt es seit einigen Jahren in der westlichen Welt ein buntes Häufchen neoliberaler Zukunftsoptimisten, die hierzulande um die Achse des Guten rotieren.

Gerade machte diese Clique wieder lautstark auf sich aufmerksam und erlaubte es dem abgeklärten Betrachter, die aktuellen Frontverläufe zwischen den vorurteilsbewehrten Meinungsfestungen eingehend zu studieren. Auslöser des Konflikts und der Polemiken, die er nach sich zog, war ein Datenklau von Hackern beim Climatic Research Unit (CRU) an der University of East Anglia in Großbritannien, bei dem über tausend private E-Mails der Klimaforscher sowie tausende weiterer Dokumente dieser Einrichtung aus dem Zeitraum 1996 bis heute erbeutet und frei einsehbar ins Netz gestellt wurden. Nun glauben die sogenannten „Klimaskeptiker“ (richtiger: die Skeptiker eines menschgemachten Klimawandels, speziell der globalen Erwärmung), in diesen E-Mails einen unumstößlichen Beweis für den großen Betrug der Klimaforscher gefunden zu haben. Als Heiko Werning gestern in der taz das voreilige Triumphgeheul der Klimaskeptiker mit einem sachlichen Artikel über den ganz unspektakulären Inhalt der vermeintlich entlarvenden E-Mails zu dämpfen versuchte, brach eine wahre Flut hämischer Kommentare über ihn herein. Werning hatte besonders das Gespann Maxeiner und Miersch aufs Korn genommen, das gemeinsam mit Henryk M. Broder für das „Politische Netzwerk“ Achse des Guten verantwortlich zeichnet. Diese beiden Herren sind einem größeren Publikum durch ihr Lexikon der Öko-Irrtümer bekannt geworden, in dem sie laut Untertitel „überraschende Fakten zu Energie, Gentechnik, Gesundheit, Klima, Ozon, Wald und vielen anderen Umweltthemen“ zusammengetragen haben. Dieses zuerst 1998 erschienene Elaborat aus der langen Reihe der Irrtümer-Bücher beim Eichborn-Verlag repräsentiert eine Sondersparte der Typ-II-Bücher. Mittels dieser partytauglichen Argumentationshilfen sollen solche Menschen mit Gesprächsstoff für mancherlei gesellige Zusammenkünfte versorgt werden, die aus eigenem Bestand schreckliche Langweiler wären und sich nach fleißigem Studium nun bei jeder Gelegenheit als neunmalkluge Besserwisser wichtigtun können, indem sie uns in tausendundeinem Fall darüber aufklären, dass sich alles ganz anders verhält, als wir vorurteilsbeladenen Banausen immer meinten.

[Wird fortgesetzt.]

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Monday, 28. September 2009

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Krieg dem Kriege (IV)

Tuesday, 07. April 2009

Heute nun bin ich bei meiner Menschenrauch-Lektüre bis zu jenem Streit zwischen Klaus Mann und Christopher Isherwood vorgedrungen, den Mann in seinem Wendepunkt auf den 15. Juli datiert hat. (Den Konflikt aus der Sicht von Klaus Mann habe ich in meinem ersten Beitrag dieser Reihe ausführlich zitiert.)

Interessanterweise bringt nun Nicholson Baker eine Darstellung aus der Perspektive des pazifistischen Kontrahenten, oder doch immerhin nach dessen Tagebuch: „Christopher Isherwood traf sich zum Mittagessen mit Thomas und Katia Mann und ihrem Sohn Klaus. Isherwood und Klaus Mann gerieten in Streit über den Krieg. Klaus Mann verlangte von Isherwood ein öffentliches Bekenntnis zur Sache der Alliierten – sein Schweigen werde falsch ausgelegt. Klaus Mann bezeichnete sich zwar als Pazifisten – er persönlich könne niemanden töten. Doch jetzt sei Pazifismus nicht angebracht. ,Wenn man zulässt, dass die Nazis alle umbringen, dann lässt man auch den Untergang der Zivilisation zu.‘

Isherwood brachte ein Argument vor, das er von Aldous Huxley gehört hatte: ,Die Zivilisation stirbt ohnehin an Blutvergiftung, sobald sie die Waffen ihrer Feinde einsetzt, also Verbrechen mit Verbrechen vergilt.‘ Mann entgegnete, Bekenntnisse zum Pazifismus könnten nur den Nazis und der fünften Kolonne nützen. ,Genau deshalb halte ich ja den Mund‘, sagte Isherwood. Es war der 8. Juli 1940.” (Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger u. Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009, S. 236; zit. nach Christopher Isherwood: Diaries. Vol. 1. Ed. by Katherine Bucknell. New York: HarperCollins, 1996, S. 99 f.)

Tatsächlich fand das Gespräch zwischen Mann und Isherwood wohl weder am 8. noch am 15. Juli 1940 statt, sondern am 7. Juli, denn Klaus Mann schreibt unterm Datum vom 8. Juli in seinem Tagebuch: „Gestern, Christopher Isherwood hier zum Lunch. Nett. Mit ihm geschwommen. Viel geredet. (Zum Problem des integralen Pazifismus, à la Aldous Huxley. – Auden’s unklare Stellung. Christophers eigene Unklarheiten und mannigfache Bedenken. Mir alles nicht ganz verständlich. Trotzdem Sympathie für seine Integrität und Bemühtheit.)” (Klaus Mann: Tagebücher 1940-1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 47.)

Um die Ansichten und die daraus folgenden Verhaltensweisen komplizierter und vielschichtiger Zeitgenossen zu verstehen, muss man sie auseinandernehmen wie Küchenmaschinen und anschließend wieder zusammensetzen [s. Titelbild]. Wenn sie dann noch funktionieren, sind sie ihr Geld wert.

Krieg dem Kriege (III)

Saturday, 28. March 2009

Zu Beginn des Monats war ich auf die eben erschienene deutsche Übersetzung von Nicholson Bakers Human Smoke aufmerksam geworden, eine Montage aus Zitaten zur Vorgeschichte und zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs, von August 1892 bis zum 31. Dezember 1941, mit der der amerikanische Romancier aus der vorgeblichen Neutralität des Archivars seinen bitteren Beitrag zum Pazifismus leisten will in einer Zeit, in der wir vom ewigen Frieden vielleicht weiter entfernt sind als je zuvor.

Mittlerweile habe ich die ersten 150 der insgesamt 500 Textseiten gelesen und kann mir vielleicht ein vorläufiges, vorsichtiges Urteil erlauben. (100 weitere Seiten entfallen auf die Quellennachweise und das Personen- und Sachregister.) Wohl noch nach jedem Krieg hat man die allgemeine Frage, wie er hat entstehen können, auf die speziellere verengt, welcher der kriegführenden Parteien die Schuld an seinem Ausbruch anzulasten sei. In aller Regel ziehen die Besiegten hierbei den Kürzeren, denn die Sieger haben mit dem Krieg auch die Vorherrschaft über die Geschichtsschreibung gewonnen.

Wenn ich Baker richtig verstehe, will er das ewige bipolare Einerlei von Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger, Sieger und Besiegtem überwinden, indem er eine dritte Stimme wieder ins Spiel bringt, die in dieser Deutlichkeit erstmals im 20. Jahrhundert vernehmbar war: die des Pazifismus, jenes radikalen Humanismus über alle Staatengrenzen und ideologischen Gegensätze hinweg, dessen vielleicht bekannteste Parteigänger Bertha von Suttner, Mahatma Gandhi und Aldous Huxley waren.

Das Buch ist bei seinem Erscheinen in Großbritannien und den USA im vergangenen Jahr von der Kritik mehrheitlich verrissen worden. Dem Autor wurde unterstellt, dass er mit seinem blauäugigen Pazifismus jene Appeasement-Politik zu rehabilitieren suche, die doch gerade 1938 gegenüber Adolf Hitler de facto gescheitert und damit für alle Zukunft diskreditiert sei. Dabei ist Nicholson Bakers Hinweis doch zunächst einmal sehr ernst zu nehmen, dass die demokratischen Staaten der westlichen Welt ihre Kriegsbeteiligungen nach 1945 allesamt mit dem Verweis auf das Verhängnis einer Nachgiebigkeit à la Appeasement gerechtfertigt haben und dass dieses reflexartig vorgebrachte Argument mittlerweile auch zum Führen von Offensivkriegen taugt, wie zuletzt gegen Saddam Hussein. Selbst wenn die Schlüsse, die die Zitate in Menschenrauch nahelegen, falsch sein sollten, weil sie durch eine selektive und manipulative Zusammenstellung suggeriert werden, so ist doch gegen die gute Absicht nichts einzuwenden, dieses große Thema „Appeasement vs. Präventivkrieg” noch einmal etwas gründlicher und voraussetzungsloser in den Blick zu nehmen, als dies zuletzt üblicherweise geschah.

Einerlei, ob ich Bakers Thesen, so sich solche denn überhaupt eindeutig ausmachen lassen, zuletzt folgen werde oder nicht – ein Lob muss ich dem Buch schon jetzt spenden: Es verdeutlicht, dass wir es uns zu leicht machen, wenn wir glauben, 1 + 1 = Krieg sei eine zuverlässige Gleichung zur Erklärung und Begründung des Massengemetzels.

Krieg dem Kriege (II)

Monday, 02. March 2009

„In jeder Diskussion darüber, warum die USA in einen Krieg eintreten sollten oder nicht, das heißt: In allen gefährlichen politischen Situationen seit 1945, wird der Zweite Weltkrieg als Beispiel vor allen anderen angerufen. In diesem Fall scheint es völlig klar zu sein, wie gut und böse verteilt sind. Hitler war ein dämonischer Wahnsinniger, der Urheber eines gigantischen Massenmords, von Hässlichkeit, Zerstörung und Untergang. Ebenso klar scheint zu sein, dass man in einem solchen Krieg nicht Pazifist sein konnte – in diesem Land zählen die Pazifisten jener Zeit noch immer zu den verkappten Faschisten. Dieser Krieg war der gute Krieg, der alle anderen Kriege rechtfertigte, bis hin zum gegenwärtigen Krieg im Irak.” (Thomas Steinfeld: „Man kann die Menschen nicht zum Guten bombardieren.” Nicholson Baker im Interview; in: sueddeutsche.de v. 13. März 2008.) So erklärte Nicholson Baker vor einem Jahr beim Erscheinen seines letzten Buches Human Smoke, warum er sich darin ausgerechnet mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte – und nicht mit irgendeinem anderen Krieg der an Kriegen doch so reichen Menschheitsgeschichte.

In diesen Tagen liefert der Rowohlt-Verlag die deutsche Übersetzung aus. Mein Buchhändler hatte sie am heutigen Montag noch nicht, obwohl sie gestern von Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen wurde. – Neulich gab es ja ein arges Lamento um Daniel Kehlmanns ebenfalls bei Rowohlt erschienenen Roman Ruhm, den Volker Hage unter Missachtung der Sperrfrist („Keine Rezensionen vor dem 16. Januar!)” im Spiegel vom 5. Januar rezensiert hatte. Bakers Buch – nicht Roman, nicht Sachbuch – ist für den 6. März angekündigt. Bis dahin werden die FAS-Leser Weidermanns nette Worte wohl hoffentlich noch nicht ganz vergessen haben.

(Doch warum schweife ich von der Kriegsschuldfrage im Allgemeinen und den Schuldigen am Zweiten Weltkrieg im Besondern zu einem dermaßen trivialen Thema wie den Sperrfristen im Buchhandel ab? Vielleicht damit ich diesen Artikel nicht nur in die „Zentrifuge” stopfen kann, sondern er auch noch leidlich in die Kategorie „Langsamkeit” passt. Denn es ist doch schließlich ein weiteres, Besorgnis erregendes Indiz für die fortschreitende Zersetzung unserer Urteilskraft, wenn der Beschluss, nach der Lektüre einer Buchempfehlung im Feuilleton unserer Tageszeitung in den nächsten Tagen eine Buchhandlung aufzusuchen und dieses Buch zu erwerben, allein deshalb oft genug verworfen wird, weil dieses Buch noch nicht erschienen ist. Das Sperrfeuer der auf uns einprasselnden Novitäten macht es uns offenbar unmöglich, eine Kaufentscheidung länger als ein, zwei Tage aufrechtzuerhalten.)

Nicholson Baker hat ein Buch geschrieben, das bei seinem Erscheinen am 11. März vorigen Jahres in den USA und in Großbritannien heftige Kontroversen auslöste. Wenn es in den nächsten Tagen auch die deutschen Leser erreicht, besteht womöglich die Gefahr, dass es Applaus von der falschen Seite bekommt. Formal wurde es schon mehrfach mit Walter Kempowskis Echolot verglichen, denn auch Menschenrauch ist eine groß angelegte Textmontage aus Originalzitaten, beginnend mit einer Bemerkung von Alfred Nobel aus dem Jahr 1892, zitiert nach den Memoiren Bertha von Suttners, und endend mit einem Tagebucheintrag des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian vom 31. Dezember 1941. Im Unterschied zu Kempowski erlaubt sich Baker aber, gelegentlich sardonische Kommentare aus eigener Feder einzustreuen. Auch seine Auswahl ist nicht um ein möglichst weites Panorama bemüht, sondern auf einen Brennpunkt der Erkenntnis hin fokussiert. So meinte der Rezensent der Welt nach dem Erscheinen des Originals, Baker wolle „nicht die Bandbreite dessen vorführen, was damals geschah, sondern eine These beweisen.” (Hannes Stein: Churchill soll Hitler zum Krieg angestachelt haben; in: Welt online v. 13. März 2008.)

Von den immerhin 634 Seiten dieser Beweisführung sollte man sich übrigens nicht allzu sehr einschüchtern lassen, denn der Autor hat zwischen den einzelnen Zitaten viel Platz zum Nachdenken gelassen. Baker erklärte dies im Interview so: „Zwischen den Fragmenten gibt es viel leeren Raum auf den Buchseiten. Mit diesem Raum können Sie als Leser anstellen, was Sie wollen. Sie können Ideen hinzufügen, Sie können widersprechen, weinen oder auch Partei ergreifen. Auf jeden Fall aber werden Sie zum aktiven Teilnehmer, denn ich gebe Ihnen nicht einmal eine Einführung vor. Ich schicke Sie nur los, und dann müssen Sie sich selbst im Wust der widersprüchlichen, komplizierten Ereignisse zurechtfinden.” (Susanne Weingarten: „Dieses Gefühl der inneren Qual”; Interview mit Nicholson Baker in Boston; in: Spiegel online v. 5. Mai 2008.) – Die teils vernichtenden Kritiken aus dem englischsprachigen Raum bestreiten eben diese vorgebliche Neutralität von Bakers Textauswahl in Human Smoke. Vielleicht könnte man die weißen Flächen ja dazu nutzen, gezielt solche Zitate einzufügen, die seiner These zuwiderlaufen? Aber jetzt warte ich zunächst einmal aufs Eintreffen des Buches. – Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009.

Krieg dem Kriege (I)

Sunday, 01. March 2009

Es ist immer der gleiche Streit. „Nie wieder Krieg!” So fordern die absoluten Pazifisten und erklären jede Art von Bewaffnung, auch für die Selbstverteidigung, zu Teufelswerk. Ihnen treten die pragmatischen Pazifisten entgegen, die dergleichen Rigorismus für passiven Selbstmord halten und die Inkonsequenz für unvermeidlich, einen inhumanen Aggressor mit Waffengewalt entwaffnen zu müssen – natürlich so human wie eben möglich.

Der Musterfall einer vermeintlich legitimen Befriedung der Welt mit kriegerischen Mitteln ist der zweite Weltkrieg. Nach dem Sieg der lauteren Westmächte über die hitlersche Barbarei suchten alle hinfort Krieg führenden Parteien, die etwas auf sich hielten, zu ihren jeweiligen Kontrahenten ein ähnlich überzeugendes moralisches Gefälle zu behaupten. Bis in die allerjüngste Gegenwart werden bewaffnete Konflikte zugleich als ideologische Medienfeldzüge ausgetragen, so wenn Palästinenser von israelischen Geschossen zerfetzte Kinder durch die Straßen von Gaza tragen und Israelis Beweise vorlegen, dass diese Kinder von der Hamas bewusst als menschliche Schutzschilde ihrer Waffenlager missbraucht und somit kaltblütig geopfert wurden.

Der Krieg der Alliierten gegen die Achsenstaaten ist dabei das unerreichte Vorbild eines über jeden Zweifel erhabenen, gerechten Krieges. Der Holocaust in all seiner nachträglich offenbar gewordenen, unvergleichlichen Infamie bringt jeden Einwand gegen die Berechtigung dieser Schlächterei zum Verstummen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Leiden der Zivilbevölkerung im Deutschen Reich unter den Flächenbombardements der Briten und Amerikaner überhaupt nur angemessen dargestellt werden durften. Dass der glorreiche Sieg der Alliierten über Hitler nur durch die Teilnahme eines Verbündeten möglich war, der diesem an Menschenverachtung und rücksichtslosem Vernichtungswillen kaum nachstand, musste zudem als leider unvermeidbarer Schönheitsfehler hingenommen werden. Man kann eben nicht alles haben, zumindest nicht auf einmal.

Als all dies noch nicht entschieden war, schrieb Klaus Mann am 15. Juli 1940 in Los Angeles: „Heute nachmittag lange Unterhaltung mit Christopher Isherwood. Er ist mir so lieb, so brüderlich vertraut, und doch bringe ich für seine neue Entwicklung kein rechtes Verständnis auf. Zusammen mit Aldous Huxley und dem Philosophen Gerald Heard – oder unter ihrem Einfluß? – gerät er immer tiefer in den Bann einer indischen Mystik, zu deren ethischen Prinzipien die unbedingte Ablehnung der Gewalt gehört: eben jener absolute Pazifismus also, gegen den Masaryk sich in seiner Debatte mit Tolstoi wendet. Nicht, als ob ich die Anwendung von Gewalt weniger verwerflich fände als irgendein Isherwood, Huxley oder Heard! Und nun gar der moderne Krieg! Wem graute nicht vor seinem mörderischen Stumpfsinn, seiner apokalyptischen Idiotie? Man muß ein hysterischer Romantiker wie Ernst Jünger sein, um an den öden Schrecken der ,Materialschlacht‘ Gefallen zu finden. Als gesitteter Mensch ist man natürlich Pazifist, was denn sonst? – Fragt sich nur, ob wir im vorigen Herbst noch die Wahl zwischen Krieg und Frieden hatten oder ob nicht damals die Entscheidung längst gefallen war. Ein Krieg, der unvermeidlich geworden ist, läßt sich nicht mehr ,ablehnen‘, sondern nur noch gewinnen. Warum wurde der Krieg unvermeidlich? Als ob wir es nicht wüßten! Weil die Demokratien dem Fascismus Vorschub leisteten, sei es aus mißverstandenem ,Pazifismus‘, sei es aus weniger vornehmen Motiven … Indem man Hitler tolerierte, finanzierte und protegierte, verscherzte man sich den Frieden. Nun fehlte nur noch, daß man ihn siegen ließe! Dann wäre der Krieg permanent. – Willst du das, Christopher Isherwood? Nein, natürlich nicht! – Und bestehst doch darauf, daß der Krieg ,das schlimmste aller Übel‘ sei? Es gibt ein schlimmeres, my dear friend. Stelle dir die ,Neue Ordnung‘ vor, die ein siegreicher Hitler etablieren würde, und du weißt, was ich meine. – Der Sieg der Demokratie aber könnte den Frieden bringen. (Ich wage nicht zu sagen: wird …)” (Klaus Mann: Der Wendepunkt. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1953, S. 431.)

Es war höchste Zeit, die Glorifizierung der alliierten Motive zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einer kritischen Revision zu unterziehen – und sei es nur, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass auch nach gründlicher Prüfung aller Quellen kein anderer Schluss als der bisherige möglich ist, der da lautet: Großbritannien und Frankreich haben am 3. September 1939 richtig gehandelt, als sie Deutschland den Krieg erklärten. Nun hat sich ein US-amerikanischer Romancier genau an diese überfällige Aufgabe gemacht und ist zu einem überraschend anderen Ergebnis gelangt.

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Saturday, 28. February 2009

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Dreidel

Thursday, 01. January 2009

Als ich in den Zeitungen las, dass die Israelis ihre Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen „Gegossenes Blei” genannt haben, da dachte ich zunächst an den uralten Sylvesterbrauch des Bleigießens. Dabei wird bekanntlich Blei auf einem Löffel erhitzt und dann flüssig in kaltes Wasser geschüttet, sodass es zu einer vom Zufall oder vom Schicksal betimmten Form erstarrt. Die Gestalt dieses Bleiklümpchens wird anschließend gedeutet. Sieht es etwa aus wie ein Dolch? Dann bedeutet das: „Du wirst siegreich sein.” Oder erinnert es eher an eine Pfeife? „Achtung! Gefahr zieht auf.”

Ich wollte es aber genauer wissen und habe darum ein wenig recherchiert. Es verhält sich anders als von mir vermutet. Der Name der Offensive bezieht sich nicht aufs Bleigießen, sondern auf eine Verszeile des israelischen Nationaldichters Hayyim Nahman Bialik (1873-1934) aus seinem Gedicht Für Chanukka, in dem sich ein Kind über die vier Geschenke freut, die es der Tradition gemäß zum jüdischen Lichterfest erhalten hat. Der Vater zündete ihm die Kerzen (am neunarmigen Chanukka-Leuchter) an, der Schamasch (die “Dienerkerze”, mit der die übrigen acht Kerzen entzündet werden) leuchtete wie eine Fackel; die Mutter buk ihm Pfannkuchen, heiß und süß und mit Zucker bestreut; der Onkel schenkte ihm einen alten Penny; und der Lehrer hatte einen großen, allerfeinsten Dreidel für das Kind gekauft, aus gediegenem (gegossenem) Blei.

Ein Dreidel [siehe Titelbild] ist ein Kreisel mit vier Seiten, auf denen die vier hebräischen Buchstaben נ (Nun), ג (Gimel), ה (He), ש (Schin) zu lesen sind. Sie stehen für die Worte Nes gadol haja scham, die soviel bedeuten wie „Ein großes Wunder ist dort geschehen.” Dies bezieht sich auf den Sieg der gläubigen Juden im Makkabäeraufstand (164 v. Chr.) über makedonische Syrer und hellenisierte Juden und die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem. Das Dreidelspiel der jüdischen Kinder zu Chanukka ist aber wesentlich jüngeren Ursprungs und stammt ursprünglich aus Deutschland. Je nachdem, welchen der vier Buchstaben der kleine Kreisel zeigt, wenn er umgefallen ist, gewinnt der Spieler nichts, den ganzen oder halben Einsatz im Pott, oder er muss zwei Stücke, meist Süßigkeiten, hineintun. Wer das nicht kann, fliegt raus.

Chanukka ist ein bewegliches Fest und dauert acht Tage. In diesem Jahr begann es am Vorabend des 22. Dezember. Vielleicht gehörte es zur Strategie des israelischen Militärs, dass das Ende der Feierlichkeiten nicht abgewartet wurde, um den Feind zu überraschen – jedenfalls begann die Offensive bereits am 27. Dezember. Doch auch ein solcher „Tabubruch” folgt ja einer alten Tradition. Sowohl in den beiden „christlichen” Weltkriegen als auch im „islamischen” Krieg zwischen Iran und Irak wurde die gebotene und vom Feind eingehaltene Waffenruhe zu Weihnachten bzw. im Ramadan für Überraschungsangriffe missbraucht.

Der Dreidel kreist, die Bomben fallen. Kein gutes Omen zu Neujahr. Wann fällt der Dreidel auf die Seite? Auf welche Seite wird er fallen? Wir Menschen sind schon sonderbar. (Konrad Döbling)

Whoa, whoa!

Tuesday, 09. December 2008

Aus dem Weißen Rauschen, mit dem die Massenmedien uns Tag für Tag taub machen für die wirklich wichtigen Nachrichten, habe ich auf weitläufigen Umwegen eine schwache Andeutung auf das herausgefiltert, was uns binnen Kurzem bevorstehen könnte. Als sich Mitte Oktober abzuzeichnen begann, dass sich der demokratische US-Präsidentschaftsbewerber Barack Obama gegen seinen Widersacher John McCain bei der Wahl am 4. November durchsetzen würde, hielt sein designierter Vize Joe Biden – im Schatten der spektakulären Blamagen seines republikanischen Pendants Sarah Palin – vor einem exklusiven Kreis renommierter Zuhörer in Seattle anlässlich einer Spenden-Gala eine aufschlussreiche Rede. Biden, dessen bekanntermaßen „loses Mundwerk” ihn schon früher gelegentlich in arge Bedrängnis gebracht hatte, erkannte auch an jenem 19. Oktober zu spät, dass die Intimität dieser Veranstaltung durch die Anwesenheit einiger Pressevertreter in dem kleinen Versammlungsraum verletzt wurde: “I probably shouldn’t have said all this because it dawned on me that the press is here.”

Tags drauf konnte man bei ABC News den Bericht von Matthew Jaffe über Bidens prophetische Brandrede nachlesen, gespickt mit Originalzitaten: „Merken Sie sich meine Worte. In nicht einmal sechs Monaten wird die Welt Barack Obama auf eine harte Probe stellen, genauso wie damals John Kennedy. […] Seien Sie auf der Hut, wir werden eine internationale Krise erleben, eine künstlich geschaffene Krise, in der getestet wird, was in diesem Kerl steckt. Ich kann Ihnen mindestens vier oder fünf Szenarios nennen, wo diese Krise ihren Anfang nehmen könnte. […] Gürtet Eure Lenden! Wir werden mit Eurer Hilfe gewinnen, so Gott will, wir werden gewinnen – aber es wird nicht leicht. Dieser Präsident, der nächste Präsident, wird vor der wichtigsten Aufgabe stehen. Mann, das ist wie das Ausmisten des Augiasstalls. Dies ist mehr als nur, dies ist mehr als – denken Sie darüber nach, wirklich, denken Sie darüber nach – dies ist mehr als nur eine Finanzkrise, es geht um mehr als nur um Märkte. Es ist ein systemisches Problem, das wir hier mit unserer Wirtschaft haben. […] Aber dieser Kerl [Obama] hat’s in sich. Doch er wird Ihre Hilfe brauchen. Denn ich verspreche Ihnen, Sie alle werden in einem Jahr dasitzen und sich fragen: ,O Gott, warum steht die Regierung in den Umfragen so weit unten? Warum steht sie so schlecht da? Warum ist das alles so schwer?‘ Wir werden in den ersten zwei Jahren einige unglaublich harte Entscheidungen fällen müssen. Also bitte ich Sie schon jetzt – ich bitte sie schon jetzt: Halten Sie zu uns! Vergessen Sie nicht, dass Sie jetzt an uns geglaubt haben, denn Sie werden uns stärken müssen. Viele von Ihnen werden dann nämlich eher geneigt sein zu sagen: ,Hey Mann, halt mal die Luft an, hey, hey, also diese Entscheidung – ich weiß nicht.‘ [Im Original: ‘Whoa, wait a minute, yo, whoa, whoa, I don’t know about that decision.’] Denn wenn Sie denken, die Entscheidungen seien fundiert, wenn sie gefällt werden – und davon gehe ich aus, dass Sie so denken, wenn diese Entscheidungen getroffen werden -, dann sind sie wahrscheinlich nicht so populär, wie sie vernünftig sind. Denn wenn sie populär sind, dann sind sie wahrscheinlich nicht vernünftig.” [Kursivsetzungen von mir.]

Wie „damals John F. Kennedy”? Wer dächte da nicht an die Kuba-Krise von 1962, als die Welt 13 Tage lang am Rande des atomaren Overkills schwebte und um ein Haar noch einmal davongekommen ist? Und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Hans Rühle in einem Essay in der Welt spekuliert, mit diesen orakelnden Worten des Senators von Delaware könne eigentlich nur ein militärisches Eingreifen gegen die schon sehr weit gediehenen Vorbereitungen des Iran gemeint sein, als zweiter islamischer Staat (nach Pakistan) in die Liga der Atommächte vorzustoßen. Wie weit der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, als Satrap des Mullah-Regimes unter Seyyed Ali Chamenei, bereits gelangt ist, trotz der hilflosen Bemühungen der IAEA unter Mohammed el-Baradei, das kann man in Rühles glaubwürdigem Essay nachlesen. Insofern ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die schlimmsten Prophezeiungen des endzeitlichen Philosophen Günther Anders Wirklichkeit werden.

Ende September fand in Irans Hauptstadt Teheran zur Erinnerung an den Krieg gegen den benachbarten Irak (1980 bis 1988) eine Militärparade statt, bei der eine Shihab-3-Rakete mit dem Schlachtruf bemalt war: “Israel must be wiped off the map.” Whoa, whoa! Auf solch große Sprüche folgen nach aller historischen Erfahrung schreckliche Taten. Beim Lesen von Bidens Rede musste ich unwillkürlich an die bekannten Churchill-Worte in seiner ebenso knappen wie prägnanten „Blood, toil, tears and sweat”-Ansprache aus dem Kriegsjahr 1940 denken – in deren Folge ein zivilisiertes, aber ideologisch verblendetes Land, mein Vaterland, durch die „fliegenden Festungen” von „Bomber” Arthur Harris in Schutt und Asche gelegt wurde.

Der Stall des Augias wird also demnächst, spätestens in einem halben Jahr, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften modernster Waffentechnik ausgefegt? Dann können wir nur noch hoffen, dass immerhin ein paar Insekten dieses Großreinemachen überstehen – und in geschätzten zwanzig Millionen Jahren eine Kultur begründen, die größere Ergebnisse hervorbringt als die Musik von Bach, die Philosophie von Platon, die Kunst von Leonardo, Akiba Rubinsteins beste Schachpartien und die Geistesblitze eines Lichtenberg.

Stunde Null

Thursday, 06. November 2008

So sehr ich den „Internetmarktplatz für antiquarische Bücher” in den vergangenen zehn Jahren schätzen gelernt habe – das Stöbern in den nicht-virtuellen Angeboten möchte ich dennoch nicht missen. Während ich dort, bei ZVAB und anderen Anbietern, in aller Regel finde, was ich gezielt suche, entdecke ich in den Regalen der Antiquariate, auf den Büchertischen der Trödelmärkte und in den Ramschkisten der Buchhandlungen gelegentlich Schmankerl, die mir auf meinen gründlich geplanten Wegen durch die Literatur niemals begegnet wären. – So zieht mich seit ein paar Tagen ein Buch in seinen Bann, das ich vor der Tür eines hiesigen Großbuchhändlers zum Spottpreis von nur 3,95 € aus dem Kasten vor der Tür fischte: Stunde Null. Deutschland unter den Besatzungsmächten. Berlin: Matthes & Seitz, 2004.

Die Namen der beiden Autoren, Tüngel und Berndorff, sagten mir nichts – und vermutlich aus gutem Grund, gehörten sie seit den 1960er-Jahren, als sich mein politisches Bewusstsein zu entwickeln begann, doch keineswegs zur damals tonangebenden intellektuellen Elite der Linken. Richard Tüngel (1893-1970) war zwar von den Nazis 1933 aus seinem Amt als Baudirektor in Hamburg gedrängt worden, musste aber als Mitbegründer und späterer zweiter Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit nach der von ihm veranlassten Veröffentlichung eines Artikels des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt und nach seinem Veto gegen einen kritischen Beitrag über den amerikanischen „Kommunistenjäger” Joseph McCarthy dort seinen Hut nehmen. Und auch sein Freund Hans Rudolf Berndorff (1895-1963), der unter dem Pseudonym Rudolf van Wehrt national-heroische Bücher über die Schlacht bei Tannenberg (Wie Hindenburg die Russen schlug, 1922) und über den siegreichen „Blitzkrieg im Westen” (Frankreich auf der Flucht, 1941) geschrieben hatte, konnte sich nach der deutschen Niederlage nicht damit legitimieren, in der Zeit der Verblendung zum „inneren Widerstand” gehört zu haben. Beide überstanden offenbar die langen zwölf Jahre des kurzen Tausendjährigen Reichs zwischen Hoffen und Bangen, wie Millionen betrogener „Volksgenossen” mit ihnen – und fanden sich wieder in einem Scherbenhaufen. Auf die nationale Megalomanie folgte ein Absturz ins Nichts, in die totale Ohnmacht, in Not und Armut.

In ihrem gemeinsamen Buch, das zuerst 1958 unter dem Titel Auf dem Bauche sollst du kriechen im Christian Wegner Verlag in Hamburg erschienen ist und in der Neuauflage um ein Nachwort des ungarischen Essayisten und Literaturkritikers László F. Földényi ergänzt wurde, schildern die beiden Verfasser, Kapitel für Kapitel abwechselnd, ihre Erlebnisse und Erfahrungen als Journalisten im besetzten Deutschland der Jahre von 1945 bis 1949. Berndorff erlebt von September bis November 1945 als Prozessbeobachter in Lüneburg das erste große Gerichtsverfahren gegen die KZ-Verbrecher und anschließend den Nürnberger Prozess (ab November 1945). Tüngel kämpft währenddessen in Hamburg um Publikationsmöglichkeiten und um eine unabhängige deutsche Presse. Die erbärmlichen materiellen Bedingungen, unter denen sie ihrem Beruf nachgehen, werden in aller Drastik deutlich – aber auch die geradezu sklavische Abhängigkeit von den Besatzern, ohne deren Goodwill gar nichts geht.

Einiges war dabei für mich auch in der Sache durchaus neu und erhellend. So hatte ich mir zum Beispiel nie recht klargemacht, mit welch düsteren Erwartungen die Generation meiner Eltern und  Großeltern in den späten 1940er-Jahren in die Zukunft blickte. Die Besiegten waren offenbar mehrheitlich davon überzeugt, dass die Besatzungszeit und ihre Entmündigung als Bürger eines selbstbestimmten Volkes viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte andauern würde. Sie gingen außerdem fest davon aus, dass es mindestens ebenso lange dauern würde, bis die deutsche Wirtschaft und Industrie wenigstens wieder den Stand der Vorkriegszeit erreichen würde. Sie waren vollkommen entmutigt, ohne jede Perspektive, bar jeder Hoffung auf ein menschenwürdiges Leben. Und selbst intelligente Menschen wie Berndorff und Tüngel, mit relativ unbehindertem Zugang zu den Informationsquellen der „Siegermächte”, teilten diese pessimistische Ansicht. Erst vor dem Hintergrund dieser deprimierenden kollektiven Gemütslage wird das Wunderbare am „Wirtschaftswunder” der 1950er-Jahre so recht verständlich.

Berndorff zitiert die Aussage des SS-Hauptsturmführers Dieter Wisliceny vor dem Tribunal in Nürnberg, die ich ebenfalls noch nicht kannte. Ende Februar 1945 war Wisliceny seinem Vorgesetzten Adolf Eichmann zum letzten Mal in Berlin begegnet. Er wurde gefragt, ob Eichmann damals irgendetwas über die Zahl der getöteten Juden gesagt habe. Wisliceny: „Ja, er drückte das in einer besonders zynischen Weise aus. Er sagte, er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen hätte, wäre für ihn außerordentlich befriedigend.” (S. 150) Und gerade vor dem Hintergrund, dass in dieser Woche der Spiegel groß mit einer Titelstory über Heinrich Himmler aufmacht, der dort dämonisierend als „Hitlers Vollstrecker” verkauft wird, ist sehr lesenswert, was Berndorff über die Vernehmung von Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), in Nürnberg schreibt (S. 195-204). „,Heydrich war viel intelligenter und noch entschlossener als Himmler‘, sagte Kaltenbrunner im Zeugenstand.” Nicht Himmler, diese „kleine Leuchte”, sondern der musisch begabte Intellektuelle Reinhard Heydrich war das Zentralgestirn des Bösen am faschistischen Firmament. Aber dessen „Biografie eines Dämons” hat ja der Stern schon vor sechs Jahren ausgeschlachtet.

[Titelbild vom Schutzumschlag des besprochenen Buches: Der Goetheforscher Ernst Beutler mit seinem Sohn in der Ruine des Frankfurter Goethe-Hauses, Sommer 1945.]

Apfel

Wednesday, 15. October 2008

Seit einigen Wochen lese ich zum zweiten Mal ein Buch, das vor nun wohl 36 Jahren meinen Blick auf die Menschenwelt entscheidend und nachhaltig verändert hat. Man könnte sagen, dass ich seinerzeit durch dieses Buch meine kindliche Unschuld verloren habe. Es ist die Dokumentation Der Auschwitz-Prozeß von Hermann Langbein, zuerst erschienen 1965 in der Europäischen Verlags-Anstalt, wiederaufgelegt 1995 im Verlag Neue Kritik, beide in Frankfurt am Main.

Wenn in meinem Freundes- und Bekanntenkreis heute das Thema „Konzentrationslager im Nationalsozialismus” aufkommt, dann ist ein vielfach verwendetes Adjektiv zur Benennung des dortigen Geschehens „unvorstellbar”. Dort seien unvorstellbare Verbrechen begangen worden, unvorstellbares Leid sei den Juden und anderen Häftlingen zugefügt worden und es sei unvorstellbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten. In Auschwitz sei eine unvorstellbar große Zahl von unschuldigen Opfern vergast worden. Und dass es heute noch immer Menschen gebe, die dies ernsthaft leugnen, sei wenn nicht unvorstellbar, so doch schwer nachvollziehbar. – Jede einzelne dieser Aussagen ist falsch.

Dank des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20. Dezember 1963 bis 21. August 1965) ist in weit über 200 ausführlichen Zeugenaussagen in allen erdenklichen Einzelheiten dokumentiert, was dort geschah, wie es geschah und warum es geschah. Es sich in aller Deutlichkeit vorzustellen, dazu bedarf es allerdings der Bereitschaft, es sich vorstellen zu wollen – doch wer will das schon? Wer setzt sich freiwillig dem Risiko aus, bei solchen Vorstellungen seine Lebensfreude und seinen Glauben an die Menschheit aufs Spiel zu setzen und zu einem sauertöpfischen Misanthropen zu werden? Das Lachen zu verlernen? Vor Kummer und Scham darüber im Boden zu versinken, zum Volk der Täter zu gehören, wofür es keine bessere Entschuldigung gibt als die fadenscheinige Ausrede von der „Gnade der späten Geburt” (Helmut Kohl)?

Ein Beispiel: Am 41. Verhandlungstag erklärte die aus Mexiko angereiste Zeugin Dounia Zlata Wasserstrom, geb. am 18. Januar 1909 in Gitomir (Russland), Häftling im KZ Auschwitz vom 23. Juli 1942 bis zur Evakuierung, Häftlingsnummer 10.308, Dolmetscherin in der Politischen Abteilung (Abt. II) in Auschwitz: „Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand[en] [Wilhelm] Boger und [Hans] Draser. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, ‚das an der Wand‘ abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.”

Dem Angeklagten Boger, der das Lachen offenbar noch nicht verlernt hatte [siehe Titelbild], fiel vor Gericht dazu nichts anderes ein als das knappe Statement: „Die Sache ist frei erfunden.” Ich bin da phantasievoller und denke an den 137. Psalm: „Tochter Babel, du Verwüsterin, / wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! / Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt / und sie am Felsen zerschmettert!”