Archive for October, 2009

Am Ende

Saturday, 31. October 2009

Vielleicht war es auch der Geist von Raymond Federman, der mich Anfang des Monats aus dem Tritt gebracht hat.

Federman starb am 6. Oktober früh um 6:15 Uhr im Alter von 81 Jahren im kalifornischen San Diego an Krebs. Seine Tochter Simone, die ihn in der langen Zeit seiner Erkrankung begleitet hatte, war auch in der Stunde seines Todes bei ihm. Über fast alles, was das Menschenleben ausmacht, wenn das Nebensächliche von ihm abgestreift wird, zum Beispiel in einem Augenblick höchster Todesangst, hat Raymond Federman geschrieben, als Erzähler und als Dichter. Für den letzten Augenblick vor dem Ende hat er seinen Wunsch in ein Gedicht gekleidet, Am Ende, in meiner Übersetzung:

Manche sterben heroisch
auf dem Schlachtfeld
andere aufbegehrend
mit einem Sprung von der Klippe
viele jedoch sterben
unerwartet
im Schlaf
ohne es zu erleben
während eine Vielzahl
in Angst und Feigheit dahingeht
auf den Krankhausstationen
sehr wenige scheiden
schmalos dahin
ohne sich zu sträuben
Ich hingegen wünsche mir zu sterben
gerade so eben
ohne Begeisterung

Man muss wissen, dass Raymond Federman dem Tod vor sehr langer Zeit, Mitte Juli 1942 in Paris im allerletzten Augenblick von der Schippe gesprungen ist, als 14-jähriger Judenjunge, den seine beherzte Mutter vor den Nazischergen in einem Schrank versteckte.

Ich weiß, dass Raymond Federman über diese klaustrophobe Erfahrung ein Buch geschrieben hat, The Voice in the Closet – La voix dans le cabinet de débarras – Die Stimme im Schrank. Ein einziger Satz. Diesen 75 Seiten langen Satz las Simone ihrem Vater in der Nacht seines Todes noch einmal vor, in einem Atemzug. Sie kam bis Seite 61, dann

Vopalka lacht

Saturday, 31. October 2009

Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die taktischen Scharmützel zwischen den Geschlechtern noch Stil. Eben lese ich an entlegenem Ort den Anfang einer kleinen Geschichte, die das Missverstehen, das Missverstehenwollen und Missverstehenmüssen von Männern und Frauen, diese uralte Geschichte seit Adam und Eva, zum Thema hat. Hier beginnt die Geschichte so:

„,Liebling, würde es dich sehr kränken, wenn ich stürbe?‘ fragte einmal Herr Vopalka seine entzückende Frau, so unerhört geistreich, wie nur Ehemänner fragen können. – ,Ja‘, antwortete sie ohne Ueberzeugung und widmete ihre volle Aufmerksamkeit ihrer eleganten Toilette, in der sie sich vor dem Spiegel mit kritischem, aber zufriedenem Blick betrachtete. – Dann setzte sie sich vor dem Spiegel auf einen kleinen Hocker, der eher einem Polster als einer Sitzgelegenheit glich und betrachtete, ein wenig den Rock hebend, ihre langen schlanken, in elegantes Spinnweb holzbrauner Strümpfe gekleideten Beine. – ,Was würde dich am meisten traurig machen?‘ bohrte der Gatte, mit der Ehemännern eigenen, unermüdlichen Gründlichkeit weiter. – ,Das ich ein Jahr lang schwarze Strümpfe tragen müsste, die mir wahrscheinlich nicht stehen würden,‘ sagte ganz aufrichtig Madame, bei dieser Vorstellung einigen Missmut in Augen und Stimme. – Sie hatte ihrer Ueberzeugung nach die Wahrheit gesagt und damit einen Fehler gemacht. Die Männer sind schon so, dass sie an Lügen glauben, je angenehmer die Lüge, desto fester, und dass sie die Wahrheit verwerfen, oder sie als einen Witz betrachten, den die von ihnen geliebte Frau gemacht hat. – Der Gatte, Herr Vopalka, lachte ein glückliches Lachen […].“

Die rabenschwarze, zyanbittre Story heißt Die schwarzen Strümpfe und stammt von Zdena Jindrova, einer Tschechin vermutlich, über die in den mir zugänglichen Literaturgeschichten (und selbst im Internet, das doch sonst immer alles weiß und kennt) nichts herauszufinden ist. Sie erschien am 15. August 1938 in der Pariser Tageszeitung, dem Blatt der deutschen Emigranten in Frankreich, auf Seite 4 der Sonntagsbeilage (3. Jg., Nr. 763). Da ich sonst nicht viel über dieses merkwürdige Stück Kurzprosa herausgefunden habe, teile ich hier immerhin noch mit, dass in diesem letzten Friedensjahr vor Beginn der großen Schlächterei der 15. August kein Sonntag, sondern ein Montag war. Vielleicht hängt diese Unstimmigkeit damit zusammen, dass am 15. August in katholischen Ländern und also auch in Frankreich Mariä Himmelfahrt gefeiert wird.

Aus dem so viel undelikateren Jahr 2009 werfe ich für einen Moment einen sehnsuchtsvollen Blick zurück in eine Epoche, als Frauen noch schreiben durften, wie „die Männer“ schon so sind – und Männer dies lasen, mit einem Schmunzeln oder voller Abscheu, je nach Façon. Dann fällt mir ein, dass solcherlei Plaudereien der feinen Gesellschaft am Abgrund stattfanden. Noch war die Hauptstadt der Liebe frei; aber nicht mehr lange, und gänzlich humorlose Männer würden auf den Plan treten, die zwar auch an Lügen glaubten, aber nicht an die Lügen ihrer neckischen Gattinnen auf dem Schminkschemel, sondern an die Lügen eines brutalen Surmâle. Und für undeutsche Schminkereien und Seidenstrümpfe gleich welcher Farbe würde es dann keinen Platz mehr geben.

So wird jede noch so wohlige nostalgische Träumerei über die zynischen Idyllen der Vorkriegszeit, gar jeder Vorkriegszeit, durch den ungetrübten Blick auf die Folgen zuschanden.

Was mich …

Tuesday, 27. October 2009

… melancholisch macht:

Der Anblick via Livestream vom nahezu leeren Plenarsaal im Berliner Reichstag, in einer Sitzungspause. Die immerzu tropfenden Regenrinnen an den Bushaltestellen meiner Vaterstadt im Herbst, diese offensichtliche Fehlkonstruktion zu Lasten des Steuerzahlers, und die über diesen kleinen Skandal lamentierenden älteren Herrschaften. Prousts Augen. Alte Straßenbahncarnets, undatierbar, als Lesezeichen in meinen Büchern, jeweils an der Stelle, wo ich offenbar das Lesen aufgegeben habe, und scheinbar mit Recht.

Verrottete Minigolfanlagen; noch schlimmer, wenn sie sich Kleingolfanlagen nennen. Ältere Ehepaare auf Wanderschaft im winterlichen Wald, nicht neben-, sondern hintereinander staksend mit ihren rückenfreundlichen Trockenskiern. Zwecklos gewordene Unterstellmöglichkeiten an aufgegebenen Bahnstrecken im Hochsommer.

Plattgefahrene Igel, Tauben, Frösche, Kastanien, Eicheln, Pizza- und Zigarettenschachteln, Ameisen pp. Und was mag das einmal gewesen sein?

Missverständnisse resp. Missverhältnisse, wie zum Beispiel kleine Kinder von Eltern, die besser deren Großeltern sein sollten.

Protected: Hörfunk (III)

Monday, 26. October 2009

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Protected: Heizkissen

Sunday, 25. October 2009

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Protected: Auf die Nuss

Saturday, 24. October 2009

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Blutregen

Thursday, 08. October 2009

Gestern habe ich tatsächlich die allerletzten Bücherkisten ausgepackt und ihren Inhalt in die Lagerregale verfüllt. Ja, dieser Ausdruck, wie aus einer Großmolkerei mit Massentierhaltung, passt ganz gut zu der viehischen Plackerei, der ich mich in den vergangenen Tagen ausgesetzt sah.

Viele Male musste ich mir Gewalt antun, wenn ein Buch meine Aufmerksamkeit erheischte, das ich schon seit Jahren nicht mehr in Händen gehalten und gar schon nahzu vergessen hatte. Nur zu gern hätte ich der Zeit nachgesonnen, als ich es für meine Bibliothek erwählte, den Gründen auf der Spur, die es für mich eingenommen hatten; zu gern hätte ich mir die Frage gestellt, ob ich es gelesen und mit welchem Ergebnis aus der Hand gelegt haben mochte. Aber der unbarmherzige Scherge, den ich mir selbst in den Nacken gesetzt hatte, ließ keinen Müßiggang zu. Hier galt es einzig und allein zu prüfen, ob der Platz auf den Brettern für das in den Kisten reichen würde. Also rief er mir ein ums andere Mal sein Kommando ins Gewissen, wenn ich in Nachdenklichkeit zu versinken drohte: ,Weiter, weiter! Auspacken, einräumen! Zum Träumen ist später noch Zeit genug.‘

Wie Schneeflocken tanzten die Bücher vor mir im Neonlicht des Archivs. Die Masse, die ich zwar geahnt hatte, überwältigte mich dann doch. Das war zweifellos nicht mehr gesund. So viele Bücher! Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können? Als mein zweiter Sohn die letzte Sackkarrenladung abgesetzt hatte, meinte er in seiner unnachahmlich trockenen Art: „Nun habe ich aber fürs Erste wirklich genug von deinen Büchern, Vater.“ Dieser Überdruss war ihm und allen anderen, die mir in den letzten Wochen und Monaten wissentlich oder unfreiwillig geholfen hatten, meine Bibliothek erstmals seit vielen Jahren wieder an einem Orte zusammenzuführen, wahrlich nicht zu verdenken. Ich danke euch von Herzen …

In der vergangenen Nacht träumte ich, dass ich aus dem Fenster eines Sanatoriums in eine dunkle Winterlandschaft hinausspähte, weil ich jemanden erwartete, der mich hier besuchen wollte. Es schneite auch in diesem Traum, aber die Schneeflocken waren blutrot. Das wunderte mich zwar nicht weiter, aber ich machte mir Sorgen, mein Besucher könnte sich auf seiner Wanderschaft die Kleidung ruinieren.

(Übrigens vermisse ich jetzt, obwohl ich wirklich alle Kisten ausgepackt habe, immer noch einige Bücher, die ich bei dieser Herkulestat fest gehofft hatte endlich wiederzufinden.)

Homo immobilis (I)

Tuesday, 06. October 2009

Das letzte Vierteljahr sollte diesmal das beste werden, wozu nicht viel gehört. Denn das erste war bestimmt von der Suche nach einer neuen Bleibe, das zweite von den Umzugsvorbereitungen und das dritte vom Umzug selbst. Nun müsste es mir doch eigentlich vergönnt sein, zur Abwechslung auch mal ganz schlicht und einfach zu wohnen.

Stattdessen fühle ich mich aber noch immer seelisch wie wundgescheuert von den Strapazen der vergangenen Monate. So kann ich beispielsweise den ständig lauernden Verdacht nicht mehr loswerden, irgendetwas ganz Entscheidendes vergessen zu haben, das unbedingt noch zu tun ist und nicht mehr nachgeholt werden kann, wenn ich es im richtigen Moment zu tun verabsäume. Manchmal, wenn ich neulich nachts wach lag und mich die langweiligste Lektüre nicht in den Schlaf schieben konnte, fürchtete ich, dass der Umzug einen bleibenden Schaden an oder in mir angerichtet haben könnte.

Vielleicht bin ich ja dispositionell ein extrem immobiler Mensch? Vielleicht wäre es mir am liebsten, an einem Ort geboren zu sein, mein liebes langes Leben am gleichen Platze hinzubringen und ebendort auch zu sterben? Vielleicht geht’s wider meine Natur, wenn die zufälligen äußeren Umstände mir alle paar Jahre einen Wohnungswechsel aufnötigen? Dafür spräche ja zum Beispiel auch, dass ich mich selbst zu kleinsten Reisen nur mit allergrößter Kraftanstrengung aufraffen kann und unterwegs die meiste Zeit übellaunig, kränklich und unglücklich bin.

Ich weiß schon: „Reisen bildet.“ So sagt man jedenfalls. Aber man sagt ja manches, das sich bei genauerer Betrachtung als vollkommener Blödsinn erweist: „Der erste Eindruck ist der beste.“ – „Wer rastet, der rostet.“ – „Was lange währt, wird endlich gut.“ Für diese und manch andere Redensarten habe ich im wirklichen Leben mindestens ebensoviele Gegenbeispiele wie Bestätigungen gefunden. So kenne ich manche Globetrotter, deren Verstand nach all der Weltenbummelei kaum über ihre eigene Nasenspitze hinausreicht, von Bildung ganz zu schweigen. Der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit war der größte Schritt des streunenden Affen auf dem Weg zum Dr. phil. Und wenn am Eingang zum dritten nachchristlichen Jahrtausend die Zweibeiner regelmäßig ihre trauten vier Wände verlassen und als hochtourige Touristen durch die Weltgeschichte preschen, dann ist das keineswegs die Krönung des Fortschritts, sondern ein atavistischer Rückfall in unbehauste Zeiten, als es noch keinen „Lieferservice für alles“ gab.

Pascal war bekanntlich der Ansicht, „daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, allein in ihrem Zimmer bleiben zu können. Kein Mensch, der genug zum Leben hat, würde sich, wenn er es nur verstünde, zufrieden zu Haus zu bleiben, aufmachen, um die Meere zu befahren oder eine Festung zu belagern.“ (Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände – Pensées. A. d. Frz. v. Ewald Wasmuth. Heidelberg: Lambert Schneider, 1978, S. 77.) Bei mir war’s von Kind auf gerade umgekehrt. Meine Mutter drangsalierte mich, ich solle doch bei dem schönen Wetter hinausgehen auf die Straße, mit meinen Altersgenossen spielen, statt mich immer hinter Büchern zu verkriechen. Wenn ich so weitermachte, würde ich ja ein rechter Eigenbrötler, ein Stubenhocker gar, den niemand zum Freund haben wolle! – So nahm das Elend schließlich auch mit mir seinen Lauf.

[Wird gelegentlich vielleicht fortgesetzt.]

Robinsontag (I)

Saturday, 03. October 2009

Heute auf den Tag genau vor 350 Jahren strandete ein Seemann und Abenteurer als offenbar einziger Überlebender auf einer unbewohnten und entlegenen Insel im Mündungsgebiet des Orinoco. Sein Name: Robinson Crusoe.

Aber diese Geschichte ist „nur“ erfunden, nämlich von einem Mann namens Daniel Defoe (~1660-1731), der gerade erst in der wirklichen Welt erschien, als sich der angebliche Schiffbruch zutrug. Dieser Daniel Foe, so sein eigentlicher Name, war der Sohn eines Kerzenziehers, ein durch Leichtsinn und politische Abenteuer hoch verschuldeter Bankrotteur, der diesen und viele weitere Romane schrieb, um mit den übrigens eher dürftigen Erträgen seiner Vielschreiberei seine zahlreichen Gläubiger halbwegs bei Laune zu halten. Auch sein – neben The Fortunes and Misfortunes of the Famous Moll Flanders (1722) – erfolgreichstes Werk, eben The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe (1719), machte ihn nicht reich, wohl aber seine Verleger: Neben der Bibel ist es angeblich das auf der Welt am meisten verbreitete Buch. (Vgl. Georg Bremer: Der Mann, der Robinson war; in: Die Zeit Nr. 30 v. 18. Juli 1986, S. 54.)

Angeregt wurde Defoe zu seinem Abenteuerroman durch die Lebensgeschichte des schottischen Seemanns Alexander Selkirk (1676-1721), der als Segelmeister auf der Cinque-ports, einem britischen Kaperschiff auf Beutefahrt im Südpazifik, mit seinem Kapitän in Streit geriet und im Oktober 1704 auf Más-a-tierra, einer der Juan-Fernandez-Inseln, ausgesetzt wurde. „Während Defoe seinen Robinson 28 Jahre, zwei Monate und 19 Tage auf seiner Insel verbringen läßt, braucht Selkirk ,nur‘ vier Jahre und vier Monate auszuharren.“ (Ebd.) Anfang Februar 1709 erlösen ihn zwei englische Schiffe aus seiner Isolation. Am 3. Dezember 1713 erscheint in Nr. 26 der Zeitschrift The Englishman ein ausführlicher Bericht über Selkirks Insel-Eremitage, den Defoe höchstwahrscheinlich kannte. (Vgl. Der wahre Robinson oder Das Walten der Vorsehung. Leben und Abenteuer des Alexander Selkirk. Zusammengestellt u. hrsg. v. Nikolaus Stingl. Nördlingen: Robinson Verlag Brunner & Lorch, 1980, S. 140-145.) Einiges spricht sogar dafür, dass Defoe dem Vorbild für seinen Robinson einmal persönlich begegnet ist.

Heute hat Lothar Müller in der SZ dankenswerterweise auf dieses von den zunehmend alberner werdenden Google-Doodle-Moglern natürlich nicht erkannte Jubiläum hingewiesen und seine Bedeutung hervorgehoben, sollte doch „der Jahrestag des 30. September 1659 als Feiertag in der Geschichte der Romankunst begangen werden. Er ist in der Epoche der Heraufkunft des Romans das Gegenstück zu jenem 16. Juni 1904, der seit dem Ulysses von James Joyce als Tag der Unabhängigkeitserklärung des Romans der Moderne gefeiert wird.“ (Lothar Müller: „Hier kam ich am 30. September 1659 an Land“; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 225 v. 30. September 2009, S. 14.)

Übrigens war der 30. September des Jahres 1659 ein Dienstag; und seine Nacht wurde vom Vollmond erhellt.

[Wird fortgesetzt. – Das Titelbild zeigt eine Illustration Ludwig Richters zu Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere.]