Archive for August, 2009

Umzugsreste (III)

Monday, 31. August 2009

Ein Parallelogramm ist ein Viereck mit paarweise parallelen Seiten. Bei einem Parallelogramm sind die einander gegenüberliegenden Seiten gleich lang. Auch die einander gegenüberliegenden Winkel sind gleich groß. Ein Rechteck ist ein Viereck mit vier gleichen, also rechten Winkeln und insofern ein spezielles Parallelogramm. Auch beim Rechteck sind die gegenüberliegenden Seiten gleich lang.

Ein konkretes Beispiel für ein Rechteck ist das gewöhnliche Bücherregal. Der Rahmen des Regals besteht aus einem Boden und einer gleich langen Decke sowie zwei ebenfalls gleich langen Seitenteilen. Alle vier Winkel sollten im Idealfall 90° betragen. Sonst ist das Regal schief und droht umzukippen.

Etliche Bücherregale verschiedener Größe und unterschiedlicher Bauart befanden sich in meinem Bücherkeller unter der „alten“ Wohnung. Sie bildeten dort ein für den unvorbereiteten Besucher labyrinthisch erscheinendes Gewirr von Gängen und Sackgassen. Einer dieser irritierten Inspizienten sprach einmal von meinen „Bucherkatakomben“, ein zwar etwas übertriebener Ausdruck, den ich dennoch gern übernahm.

Nun stellte sich also die wenig verlockende Aufgabe, dieses mit den Jahren ständig weiter gewucherte Ungetüm von Bücherlager aufzulösen, die ineinander verwachsenen, verbundenen und verwobenen Regale leerzuräumen und abzubauen. Dabei hatte ich von den ursprünglichen statischen Gegebenheiten offenbar keinen rechten Plan mehr, denn es widerfuhr mir das Missgeschick, dass ich ein Regal leerte und teilweise demontierte, das eine unentbehrliche Stützfunktion für zwei weitere, noch voll beladene Regale hatte. Der katastrophale Effekt dieser voreiligen Demontage war, dass sich die Seitenwände beider Regale (schwarz) mit lautem Knirschen und Ächzen in Schräglage begaben und die ursprünglich rechteckigen Rahmen sich in Parallelogramme verwandelten (rot). Wenn die Regale nicht vollends in sich zusammenbrachen, so nur deshalb, weil sie in einem weiteren, etwas entfernt stehenden Regal (fett schwarz) einen Widerpart fanden, der ersatzweise die fehlende Stützfunktion übernahm (rechts im Bild).

Welche Folgen dieser Beinahezusammenbruch für mein schwaches Herz und meinen ohnehin schon stark angegriffenen Gemütszustand hatte, erzähle ich bestimmt kein anderes Mal. Der Schaden an den betroffenen Büchern konnte erfreulicherweise durch eine äußerst gewagte Bergungsaktion in engen Grenzen gehalten werden. Mein neues Bücherlager, das gerade im Aufbau befindlich ist, wird jedenfalls nicht wieder planlos wuchern wie ein Myzel, sondern systematisch aufgerichtet.

Unschreibbare Romane II

Sunday, 30. August 2009

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist jener für das Science-Fiction-Genre von einem Neurologen, der bei der Messung sehr feiner Hirnströme von kürzlich Verstorbenen, die ihm mit einem von ihm entwickelten neuen Mikrosensor gelingt, auf den Gedanken verfällt, dass den vermeintlich entseelten Toten noch etwas Traumartiges durch den Kopf geht.

Vielleicht, so seine Spekulation, gebären die Zersetzungsvorgänge der Hirnrinde ja schreckliche Phantasien, die auffallend jenen albtraumhaften Vorstellungen ähneln, die seit Jahrhunderten mit Fegefeuer und Hölle verbunden werden.

Unser leicht verrückter Wissenschaftler beschließt, begrenzte Bezirke seines Gehirns für Erkundungen solcher Zersetzungsprozesse zu opfern und führt diese im Selbstversuch herbei. Diese waghalsigen Experimente bestätigen scheinbar seine Theorie. Allerdings sind die Schreckensszenen, die er im abgeschlossenen Theater seines Schädels aufführt, von kurzer Dauer.

Eine unangenehme Begleiterscheinung der autodestruktiven Eingriffe ist zudem, dass der Neurologe partiell mentale Ausfälle erleidet. Sein Gedächtnis weist irritierende Lücken auf. Er tut Dinge gegen seinen eigenen Willen. Die Versuchung, in einem finalen Showdown sein verbliebenes Gehirn zu opfern und dadurch letzte Gewissheit zu erlangen, wird unwiderstehlich.

Dann geschieht das Unfassbare … (Bis hierher und nicht weiter.)

Umzugsreste (II)

Sunday, 30. August 2009

Mit dem 31. Juli endeten Vertrag und Mietzahlungsverpflichtung in unserer „alten“ Wohnung, von der wir uns ursprünglich einmal so viel versprochen hatten, wovon das Wenigste eingelöst wurde, die wir aus allerlei Gründen schließlich sogar zu hassen gelernt hatten und als deren größter Makel sich erwies, dass sie leider keine „Seele“ hatte. („Seele“, in Anführungszeichen wohlgemerkt, versteht hier wohl jeder, auch jene Sorte säkularisierter Nüchterlinge, zu der leider auch ich mich zählen muss, die mit der Seele ohne Anführungszeichen als einer Art immaterieller Innerei des Menschen nichts anzufangen wissen, schon gar nicht, wenn sie ihnen als ein unverfallbares Agens für die Ewigkeit verkauft werden soll.)

Neue Freunde meiner Söhne bemerkten bei ihrem Antrittsbesuch in unserer „alten“ Wohnung nicht selten, dass diese Räume eine Kälte ausstrahlten, ohne genau sagen zu können, wodurch genau dieser Eindruck entstand. „War hier mal eine Zahnarztpraxis oder so was?“, fragte in aller Unschuld der siebzehnjährige P.

Vermutlich hatten wir bei der allerersten Besichtigung selbst genau diesen Eindruck gehabt, was damals auch erklärlich war, denn der Vormieter hatte die Räume nicht als Wohnung genutzt, sondern dort ein Institut für wissenschaftliche Analysen betrieben. An den Wänden liefen ringsum Kabelkanäle zur Vernetzung zahlreicher PCs, unsere spätere Küche war bisher als Fotokopierraum genutzt worden, unter den Decken hingen Plexiglaskästen mit Neonröhren usw. Wir aber hatten in wenigen Wochen alles, was nur von Ferne an die Büroatmosphäre gemahnte, restlos beseitigt, übertüncht, versteckt oder verfremdet. Deshalb war es einigermaßen erstaunlich, dass das kühle Institutsklima in dieser Wohnung bis zuletzt spürbar blieb, wie ein hartnäckiger Geruch nach Lysol, Salmiak oder Katzenpisse, der in den tiefsten Ritzen zu stecken scheint und mit keinem noch so radikalen Geruchsneutralisierer zu beseitigen ist.

Beim Einzug in die „neue“ Wohnung erlebten wir infolgedessen einen wahren Kulturschock. Hier steckt in allen Ecken und Winkeln Leben und Geschichte. Als wir vor Jahren die „alte“ Wohnung ausgemessen hatten, waren wir eher bereit, an der Präzision unseres Millimeterpapiers zu zweifeln als an den Gegebenheiten in diesem Zweckbau, wenn sich beim Aufzeichnen des Grundrisses einmal ein nicht ganz rechter Winkel ergab. Hier hingegen gibt es tatsächlich keinen einzigen ganz rechten Winkel – und diese leichte Schiefheit mutet uns so freundlich und menschlich an, dass wir uns fühlen wie in einem Märchen oder guten Traum.

Das Hexenhäuschen ist urgemütlich und hat „Seele“ satt; und die Hexe ist eine gute Fee!

Pushkids (IV)

Wednesday, 26. August 2009

Ich werde insgeheim gewusst haben, warum ich die Geschichte von Suche und Erwerb eines idealen Küchenabfallbehälters für ein kleines Weilchen auf Eis gelegt habe. Heute jedenfalls fiel mir das Fragment aus eins, zwei, drei Folgen plötzlich wieder ein wie eine im Ansatz stecken gebliebene Sünde, die schon deshalb keine Vergebung findet, weil es ihr am krönenden Abschluss mangelt. Küchenlateiner würden es vielleicht einen cogitus interruptus nennen.

Der Anlass? Ich schnupperte heute ganz oberflächlich im Beibuch zur endlich erschienen deutschen Übersetzung von David Foster Wallacemagnum opus, genauer gesagt in den spaßigen – nicht humorvollen! – Bemerkungen des Übersetzers Ulrich Blumenbach, gemeint als Antwort auf die Frage, „wie ich Infinite Jest lieben und trotzdem übersetzen lernte”, als ich schon auf der vierten Seite auf folgende Stelle stieß:

„Schon auf der ersten Seite stößt man auf die zunächst unverständliche Überschrift ,Year of Glad‘. Im Lauf der Lektüre stellt sich heraus, dass unsere julianisch-/gregorianische Zeitrechnung durch die ,Sponsorenzeit‘ abgelöst worden ist. Amerikanische Konzerne können sich vom Staat ein Jahr kaufen und nach ihren Produkten benennen. Wallace gibt den Jahren nun sehr profane Produktnahmen. Das Year of Glad der ersten Seite heißt so nach einer weitverbreiteten Müllbeutelmarke […].” (Ulrich Blumenbach: Am Fuß vom Text; in: David Foster Wallace – Unendlicher Spaß. Zusatzmaterial. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 16.) – Na, wenn der Name einer Müllbeutelmarke zur allerersten Kapitelüberschrift in einem „Jahrhundertroman” taugt und zur Bezeichnung des letzten Jahres einer fiktiven neuen Zeitrechnung, dann ist das ganze Müllthema vielleicht doch nicht so trivial, wie ich zuletzt selbstkritisch meinte.

Wo waren wir also? Ja, richtig: Es gab da diesen Streit zwischen meiner Gefährtin und mir, bei dem es um die Frage ging, ob der fest zur Anschaffung in den Blick genommene Pushboy (oder meinetwegen auch Baseboy) von der Nobelfirma Wesco nun ausschließlich mit Marken-Müllbeuteln der gleichen Firma zu versehen sein würden, oder ob wir es auch bei gleich- oder immerhin ähnlichformatigen No-Name-Müllbeuteln würden bewenden lassen können, wenn hierdurch laufende Kosten zu verringern wären.

Nach dieser Episode stockte die Erzählung, wie auch unser Kaufvorhaben ins Stocken geriet. Insgeheim malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich vollendete Tatsachen schüfe und kaltblütig sowohl einen 50-Liter-Pushboy von Wesco zum Preis von 130 Euro als auch zehn Packungen à 20 Wesco-Original-Müllbeutel zum Preis von insgesamt 39,90 Euro kaufte, um endlich das Problem vom Tisch zu haben und mich wieder wichtigeren Fragen zuwenden zu können. Andererseits: Konnte ich mir einen solchen Affront gegen meine Gefährtin in dieser durch die Umzugskatastrophe ohnehin schon angespannten Gemütslage, ständig zwischen Hysterie und Apathie schwankend, wirklich leisten? Was, wenn das Müllensemble aus irgendwelchen unvorhergesehenen Gründen nun nicht funktionierte? Dann trug ich die volle Verantwortung und würde unweigerlich auf unabsehbare, jedenfalls sehr lange Zeit Hohn und Spott ertragen müssen: „Wer wollte denn partout seinen Kopf durchsetzen? Ich weigere mich jedenfalls, den Müll rauszubringen. Diese Würgerei bei jedem Rausnehmen des Müllbeutels aus diesem Monstrum tue ich mir nicht an. Viel Spaß!” – Nein, zu diesem Schwerthieb durch den gordischen Knoten konnte ich mich nicht ermannen.

[Wird vielleicht fortgesetzt.]

Rundgang (VII)

Tuesday, 25. August 2009

Da ich dies schreibe, sind’s noch 6 Tage, 05 Stunden, 02 Minuten und 32 Sekunden bis zu den Kommunalwahlen am kommenden Sonntag. Woher ich das so genau weiß? Von der Website der Freien Wähler – ESSENER BÜRGER BÜNDNIS, wo eine Digitaluhr den Countdown zu dieser Stimmabnahme runterzählt.

Das EBB steht in einer Linie mit ähnlichen Gruppierungen in anderen Revierstädten, die sich vor ein paar Jahren aus Kreisen des bürgerlichen Mittelstands gebildet haben, geeint durch tiefe Unzufriedenheit über den Klüngel der etablierten Parteien und die selbstgefällige Saturiertheit ihrer Lokalmatadore.

Liest man die Programme und Erklärungen solcher selbsternannten „Stachel im Fleisch der etablierten Parteien”, in diesem Falle zum Beispiel das Essener Bürger-Manifest und die Essener Erklärung, dann findet man dort vieles getadelt, das man selbst auch tadeln würde, manches gewünscht, was wohl jeder wünschenswert findet – aber kaum einen Plan, wie und mit welchen Mitteln dieses zu vermeiden und jenes zu erreichen sei. Wenn das EBB bei der letzten Kommunalwahl dennoch einen Achtungserfolg verbuchen konnte, so erklärt sich das vermutlich aus der Ratlosigkeit jener Wähler, die von den traditionellen Parteien enttäuscht sind, aber davor zurückschrecken, den extremen Parteien am rechten oder linken Rand ihre Stimme zu geben.

Welches Potenzial in dieser mit Ratlosigkeit gepaarten Verdrossenheit steckt, das hat zuletzt die Begeisterung für den Politiksatiriker Horst Schlemmer alias Hape Kerkeling gezeigt. Nun will es die Ironie des Schicksals – denn an eine böse Absicht zynischer Werbefuzzis, die sich hier einen Scherz mit ihrem Auftraggeber erlaubt haben, wagt man nicht zu glauben -, dass der Oberbürgermeister-Kandidat des EBB auf den Wahlplakaten aussieht wie eine Satire der Satire. Heute flatterte mir auf der regennassen Rellinghauser Straße ein solches Udo-Bayer-Plakat vor die Füße (s. Titelbild).

Ich weiß ja, man soll als mündiger Bürger seine Wahlentscheidung nicht von Äußerlichkeiten abhängig machen. Aber wer es zulässt, dass ein solches imageschädigendes, mitleiderregendes, das Auge beleidigendes Bild tausendfach am Straßenrand plakatiert wird, dem mag man nicht so recht vertrauen, wenn er ankündigt, er wolle im Falle seiner Wahl das Image dieser Stadt aufbessern. Dies nur in aller Bescheidenheit und um das Mindeste zu sagen.

Exlibris

Monday, 24. August 2009

Zukünftig werde ich mich von einem beträchtlichen Teil meiner nicht unbeträchtlich umfänglichen Bibliothek trennen müssen, aus Gründen der Lagerkosten und -umstände, der Zweckmäßigkeit, der Anpassung meiner Arbeitsmittel an meine Arbeitsbedürfnisse und weil ich mich nun ganz bewusst auf eine Lebensphase einlasse, die zu vernünftiger Selbstbescheidung, maßvollem Rückzug und Konzentration auf das Wichtigste zwingt.

Auf diese bevorstehende Auflösung meiner Büchersammlung freue ich mich schon deshalb, weil ich dabei endlich die Gelegenheit finden werde, jedes einzelne meiner vielen Bücher noch einmal in die Hand zu nehmen, mich an die Gründe und Wege zu erinnern, die es in meinen Besitz geführt haben; an die Motive, die mich zu seiner Anschaffung ermunterten; oder an die Zufälle, die es mir scheinbar absichtslos in die Hände spielten.

Bietet man heute, in dieser immer illiterater, ja bibliophober werdenden Zeit, auf dem Antiquariatsmarkt Bücher an, dann hat man üblicherweise desto bessere Chancen, sie loszuwerden, je jungfräulicher, sauberer, unbeschädigter sie sich erhalten haben. „Wie neu” ist die beste Reklame für ein altes Buch, und je älter es tatsächlich ist, desto mehr wird es durch seine äußerliche Frische und Unversehrtheit aufgewertet.

Dabei gab sich doch zu allen Zeiten der wahre Liebhaber antiquarischer Bücher dadurch zu erkennen, dass er die individuellen Spuren, die ihre Vorbesitzer in ihnen hinterlassen hatten, als das Salz in der Suppe seiner Sammelei schätzte. Besitzvermerke, Widmungen, Anstreichungen und Marginalien, beigefügte Zeitungsartikel, eingeklebte Buchhändlerzeichen und manch andere Hinterlassenschaften machten und machen das Massenprodukt Buch ja gerade erst zu einem unverwechselbaren Einzelstück.

So spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken, jedes einzelne Buch, das meine Bibliothek verlässt, mit meinem Exlibris zu versehen, selbst wenn dies von manchem unkundigen Käufer zunächst als wertmindernd empfunden werden sollte oder ihn gar vom Kauf abhält. Vielleicht erweist sich ja aber nach Jahren oder Jahrhunderten einmal, dass Bücher mit diesem Zeichen ein ganz eigenes Wesen haben und unter ihnen allen ein geheimes Band besteht, das sie irgendwann wieder zusammenführen wird.

[Das Titelbild zeigt das Exlibris des Verfassers nach einem Holzschnitt von Otto Mueller.]

Protected: Selbstanzeige

Sunday, 23. August 2009

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Bücherlotterie

Saturday, 22. August 2009

Allwöchentlich mittwochs und samstags stieren Millionen jackpotberauschte Deutsche auf die rotierende Glaskugel mit den 49 Zahlenbällen in Erwartung eines Hauptgewinns, von dem sie (naiverweise, weil gegen jede Erfahrung) annehmen, dass er sie glücklicher machen wird.

Mit ganz ähnlichen Gefühlen und Erwartungen stiere ich alle paar Tage in die Ramschkisten der Buchhändler und Antiquare, nicht gerade in der maßlosen Hoffnung, das große Los zu ziehen, aber doch immerhin mit der genügsameren Zuversicht, vielleicht einen Namen oder Titel zu entdecken, der mich für ein halbes Stündchen amüsieren, ärgern, anregen oder immerhin ablenken kann – wobei dieses letzte Ergebnis des Lesens mir mittlerweile nicht mehr unbedingt als das minderwertigste erscheint.

Heute zum Beispiel klaubte ich mit spitzen Fingern ein schmales Bändchen aus dem zeitgenössischen Unflat und Unrat: von Starkult bis Pophistorie, vom Ratgeber für Steuerbetrüger bis zum Reiseführer durch Feuchtgebiete. Unter einem so unscheinbaren wie abgegriffenen Umschlag verbarg sich ein bestens erhaltener dunkelroter Leineneinband und hinter dem Rücken des Buches lockte ein Titel, der vielleicht eine gleißende Erkenntnis verheißen wollte, vielleicht aber auch ein bloßer Bluff war: Der Idealismus – ein Wahn. Sein Autor, der deutsch-jüdische Arzt, Philosoph, Nietzscheaner Oscar Levy, war mir zuvor wohl noch nie begegnet, jedenfalls erinnerte ich mich weder an seinen Namen noch an sein Konterfei. Dessen muss ich mich allerdings wohl kaum schämen, denn selbst die knappen Wikipedia-Artikel (in Deutsch und Englisch) verraten wenig über diesen nahezu vergessenen Denker. Desto erstaunlicher ist, dass der Berliner Parerga-Verlag 2005 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe gestartet hat, deren Band 4 ich hier zum Hohn- und Spottpreis von acht Euro in Händen hielt.

Ich konnte wieder einmal nicht widerstehen. Nachdem ich auf dem Heimweg per Ö-pe-en-vau, in musikalischer Begleitung einiger Klavierstücke von Eric Satie aus dem iPod, Kostproben aus dem verramschten Buch aufgesogen habe, muss ich meine Euphorie mit allen Mitteln mäßigen.

Es scheint, dass dieser Levy in seiner am 7. März 1937 vollendeten Kampfschrift, deren englische Originalausgabe The Idiocy of Idealism 1940 erschien, auf den Punkt genau mit mir übereinstimmt in seiner Auffassung, dass Judentum und Christentum, Kommunismus und Faschismus alle miteinander aus einem fatalen Ursprung kommen und in ein Verhängnis münden. – Nun werde ich das Buch noch einmal gründlich lesen. Sollte ich tatsächlich den Jackpot geknackt haben?

[Das Titelbild zeigt Oscar Levy mit seiner Enkeltochter Jacqueline im April 1946 in Boars Hill bei Oxford; aus Oscar Levy: Der Idealismus – ein Wahn. Hrsg. v. Leila Kais. Berlin: Parerga Verlag, 2006, S. 132.]

Selbstbeschreibung (I)

Friday, 21. August 2009

Heute jährt sich der Tod meines Vaters zum vierzigsten Mal. Ich kann davon nur berichten, was mir durch vielfache mündliche Erzählungen über dieses Ereignis in der Erinnerung haften geblieben ist. Deutlicher gesagt: durch meine vielfach wiederholte Schilderung des Todestags aus meiner Sicht. Denn meine Mutter beschwieg diesen tiefsten Einschnitt in meinem Leben ebenso wie die näheren und ferneren Verwandten und Bekannten, die übrigens nur einen sehr beschränkten Personenkreis ausmachten. Meine Großmutter väterlicherseits brach augenblicklich in Tränen aus, wenn die Sprache auf ihren Hansi kam. Sie hatte nach dem älteren Sohn Kuno im Krieg und ihrem Ehemann durch Asthma und Herzinsuffizienz nun auch noch den dritten und letzten „meiner Männer” verloren.

Ich also bin an diesem sonnigen Sommerferientag des Jahres 1969 mit meinem Cousin Jörg ins Kino gegangen. Wir sahen im Filmstudio am Glückaufhaus eine klamaukige Komödie um ein Wettfliegen aus der Frühzeit der Aviatik. Wann immer mich ein Film begeistert, muss ich ihn jedem erzählen, der mir über den Weg läuft, das war schon damals so und gilt noch heute. Und wann immer sich meine Zuhörer einen solchen Film, durch meine Erzählung animiert, persönlich ansehen, berichten sie nachher prompt von einer herben Enttäuschung. Dann habe ich wohl wieder einmal „ausgeschmückt”, „übertrieben” oder gar die Handlung „völlig verfälscht”, wie meine Gefährtin schmunzelnd anmerkt. „Er kann es einfach nicht lassen.”

Am 20. August des besagten Unglücksjahres kam ich zu meinem größten Bedauern gar nicht dazu, den für meine damaligen Ansprüche wirklich todkomischen Film über die Abenteuer der Fliegerasse meiner Mutter und meiner Tante zu erzählen, die mit merkwürdig verspannten Gesichtern in unserem Wohnzimmer am gläsernen Couchtisch beisammensaßen. Ich weiß noch, dass ich nur schwer meinen Ärger darüber verwand, den beiden Frauen kein noch so müdes Lachen entlocken zu können. Es war das letzte Mal, dass ich mit dem Geborgenheitsgefühl eines Sohnes einschlief, der den Schutz eines Vaters genießt.

Die Teilnahme an der Beisetzung der Urne wollte unsere Mutter uns ersparen. Das war lieb gemeint, hatte aber für mich fatale Folgen. Ich, der Vielredner, verstummte von da an allsogleich, wann immer die Sprache auf meinen Vater kam. Dieses eisige Schweigen spürte nahezu jeder, der arglos meinen wunden Punkt getroffen hatte, und wechselte ohne Verzug das Thema.

So war die plötzliche Abwesenheit meines Vaters, sein spurloses Verschwinden von einem Tag auf den anderen, für mein Empfinden eher einem Taschenspielertrick zu verdanken denn einem Trauerfall. Zwei Wochen zuvor hatte er sich noch mit uns am Nordseestrand im Sand gewälzt und war voller Zuversicht auf eine lange, friedvolle und genussreiche Zukunft gewesen. In diesem Sommer vor vierzig Jahren erreichten die menschlichen Ausdrucksformen Fest, Verbrechen und Abenteuer durch Woodstock, die Manson-Morde und die Mondlandung unerreichte Steigerungsformen. Alle drei Ereignisse hat mein damals dreiundvierzig Jahre alter Vater gerade noch miterlebt. Damit würde ich ihn trösten, wenn er sich über die Kürze seines Lebens beklagte.

Kastanie aus Feuer

Friday, 21. August 2009

Zusammenstellungen von Zitaten nach gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Kriterien haben mich immer schon angezogen. Sammlungen letzter Worte berühmter Sterbender besitze ich gleich drei und habe hierüber andernorts vor Jahr und Tag auch einmal gebloggt. Als ich neulich den größten Teil meiner Bibliothek auslagern musste, da blieb etwa die beeindruckend reichhaltige Zitatensammlung Geld von Robert W. Kent und Lothar Schmidt von der Zwangsausbürgerung verschont (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990).

Ein ungleich bescheidener auftretendes, dennoch nicht genug zu lobendes Sammelsurium bitterböser Zitate bietet das Büchlein Dichter beschimpfen Dichter, das ich aus gegebenem, aber zu verschweigendem Anlass heute wieder einmal zur Hand nahm. Wir verdanken es dem jüngst verstorbenen Jörg Drews und seinen ungenannten „Freunden in Berlin und Pisa, in Zürich und in Hille, in Paris und in Scheeßel, in Jerusalem und in Bielefeld, vor allem aber Sabine Kyora”. (Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengeststellt u. m. e. Nachwort beschlossen v. Jörg Drews & Co. Zürich: Haffmans Verlag, 1992, S. 137.)

Jetzt erst wird mir bewusst, dass ich mit dem Buch, dessen knapp 140 Seiten im Kleinoktav-Format viel zu schnell weggelesen sind, bloß den zweiten Teil einer Folge besitze. Ich finde darin zwar allerlei hässliche Invektiven gegen die großen und kleineren Geister der Weltliteratur, in alphabetischer Reihenfolge von Aeschylos bis Zola. Aber mancher, den ich gerade heute gern beschimpft sähe oder als Schimpfenden hörte – Knut Hamsun, Ludwig Hohl, Harald Wieser – fehlt zu meinem Bedauern. Vielleicht muss ich mir den ersten Band von 1990 doch noch zulegen? Aber da sehe ich, dass Drews 2006 zudem eine „vollst. überarb., ergänzte und erw. Neuausg.” bei Zweitausendeins in die Welt geschickt hat …

Reizvoll wäre es vielleicht, die gegenseitigen Invektiven der Damen und Herren Dichter wie eine lückenlose Perlenkette oder einen chronologischen Staffellauf zu arrangieren, von der jüngsten Rempelei eines Bachmann-Preisträgers gegen seinen renommierten Juror bis zurück zu Homer, der dann schließlich auch noch Opfer einer Beschimpfung wird, nämlich durch Voltaire: „Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht.” (Dichter beschimpfen Dichter II, a. a. O., S. 57.) Bloß fände Homer vermutlich keinen Ahnen mehr, bei dem er sich für die widerfahrene Schmähung schadlos halten könnte.

Etwas aus der Reihe fällt in Drews negativem Pantheon übrigens Walter Kempowski, dem es als einzigem gestattet wird, sich selbst zu beschimpfen: „Ich bin der Sonnyboy der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein hingeschissenes Fragezeichen.” (Ebd., S. 66.) – Wenn ich so vermessen wäre, dem nachzueifern, dann würde ich vielleicht über mich sagen: „Ich bin ein nervöses Hüsteln, das eilige Passanten aus dem brennenden Dornbusch zu vernehmen meinen.”

Anders

Tuesday, 18. August 2009

Gestern kam ich in Hamsuns Mysterien an die Stelle, wo die Pfarrerstochter Dagny Kielland sich nach einem langen Gespräch mit dem mysteriösen Fremden Johan Nilsen Nagel für den schönen Abend bedankt: „Jetzt kann ich auch meinem Verlobten etwas erzählen, wenn ich schreibe. Ich werde sagen, daß Sie ein Mann sind, der mit allen wegen allem uneinig ist.” (Knut Hamsun: Mysterien; in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Deutsche Originalausgabe besorgt u. hrsg. v. J[ulius] Sandmeier. Erster Band. München: Albert Langen, 1921, S. 307.)

Zufällig fällt mir nahezu gleichzeitig beim Auspacken meiner Bücherkartons Hohls schmales Bändchen Daß fast alles anders ist in die Hände, ich vermute hier einen Bezug und lese erstmalig den titelgebenden Essay. Tatsächlich finde ich darin Sätze, die immerhin Berührungspunkte zu der Charakterisierung Nagels haben, und sei es ex negativo: „Die Leute, die sagen, daß sie eben ,festen Boden unter den Füßen haben‘, sind bodenlose Leute (an nichts teilnehmend, nicht im geringsten verfügend, quallig).” (Ludwig Hohl: Daß fast alles anders ist. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1984, S. 122.)

Hohl nennt viele Beispiele und zitiert wenige Gewährsleute – Kafka, Schopenhauer, Musil, Kraus und natürlich Lichtenberg – für seine grundstürzende Ansicht, dass fast alles anders sei, „anders als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen”. (Ebd., S. 121.) Grundfalsch sei zum Beispiel auch die Vorstellung, die die Menschen vom Schreiben haben, das (nach einem Wort von Musil) keine Tätigkeit, sondern ein Zustand sei. Und nicht ausdrücklich, aber aus einigen Andeutungen wird klar, dass dies keineswegs ein angenehmer Zustand ist.

Noch etwas, das leidlich hierzu passt. In der letzten Sonntagszeitung las ich eine wegen ihrer Prägnanz zitierenswerte Einlassung des Sozialpsychologen Harald Welzer zu der Frage, warum der gegenwärtige Wahlkampf in Deutschland so fade sei. Welzer erkennt ganz richtig, dass die Vorstellungswelt der Politiker „an die Wohlstandsgesellschaft und ihre Basiskonzepte Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gebunden ist, Wenn all das in Frage steht, bricht ratloses Schweigen aus. Unsere Parteien können Zukunft ausschließlich als verbesserte Gegenwart denken. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn Staatsverschuldung, Klimawandel, Artensterben plötzlich klarmachen, dass die Gegenwart besser ist, als die Zukunft je sein wird. Der Fortschritt schreitet nicht mehr fort, und was wächst, sind lediglich die Probleme von morgen. Daher diese radikale Phantasielosigkeit.” (Lichtgestalt; in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 33 v. 16. August 2009, S. 19.)

Noch einmal Ludwig Hohl: „Die Welt ist anders … Und jene mächtigsten Männer, die sie lenken (welche gar nicht so mächtig sind und gar nicht so sehr Lenkende, sondern viel mehr Getriebene), sie können uns nichts bringen – wenn nicht das allgemeine Bewußtsein vorerst geändert worden ist -, sie können zu nichts anderem hinführen als zum Ende der menschlichen Welt.” (Hohl, a. a. O., S. 130.)

Protected: Mysterien

Monday, 17. August 2009

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Rundgang (VI)

Sunday, 16. August 2009

Noch mal zur Wahl? Bitteschön. Wo die Parteien der bürgerlichen Mitte zwölf Quadratmeter große Stellwände auf die grüne Wiese stellen, da müssen sich die Extremisten vom linken und rechten Flügel mit beklebten Pressspanplatten im Zeitungsformat begnügen, die sie an Laternenpfählen und Ampeln aufhängen.

Dass sich dabei gelegentlich unbeabsichtigte Korrespondenzen mit den Signalen und Hinweisschildern ringsum ergeben, taugt immerhin ab und zu mal zur willkommenen Erheiterung des wahlmüden Passanten.

Unser leicht makaberes Beispiel aus der Nachbarschaft lässt die Frage offen, ob die von den Republikanern versprochene Sicherheit, Sauberkeit und Lebensqualität demnächst für Friedhofsruhe in unserer Stadt sorgen soll oder ob diese löblichen Werte nach dem Wahlsieg der nationalistischen Partei bloß auf dem angezeigten Gottesacker hergestellt werden.

Wüsste der Betrachter nicht, dass das rote Verkehrsschild sich dort bereits seit Jahr und Tag befindet, er könnte mutmaßen, es sei von einem Konkurrenten aus dem sozialistischen Lager bewusst dort platziert worden, um die Werbebotschaft der Reps zu konterkarieren.

Vielleicht hat sich aber auch ein intelligenter Undercoveragent als Plakatierer in die Reihen der Rechtsradikalen eingeschlichen und treibt nun dort seinen grimmigen Schabernack. Immerhin sind doch dergleichen missglückte Propagandamaßnahmen allemal unterhaltsamer als die öden Großflächen der Profis.

Rundgang (V)

Saturday, 15. August 2009

Die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen stehen unmittelbar bevor. Auch in Rellinghausen werben die Parteien mit Plakaten größeren oder kleineren Formats um die Stimmen der Wahlberechtigten.

Von Mal zu Mal beklemmender erscheint mir die Austauschbarkeit der Parolen und Personen, mit denen sich die großen Parteien CDU und SPD zur Wahl stellen.

Ist es am Ende gar die gleiche Werbeagentur, die die Kandidaten fürs Amt des Oberbürgermeisters mit diesen immer gleichen quergestreiften Schlipsen und aktuellen Brillengestellen vor ein blasses blaugrau bzw. graublau gestellt hat, mit dem roten Farbklecks in der rechten bzw. linken unteren Ecke?

Klar, dass der Kandidat der regierenden Partei im Gespräch mit dem noch amtierenden Oberbürgermeister gezeigt wird, den er schließlich beerben will. Die Slogans – „Oberbürgermeister für Essen”, „Oberbürgermeister für unsere Stadt”, „Energie für Essen”, „Verantwortung für Essen” – sind so nichtssagend und substanzlos, als gälte es, um jeden Preis den bisherigen Rekord der niedrigsten Wahlbeteiligung zu brechen.

Und welche Assoziationen will uns die linke untere Ecke des SPD-Plakats nahelegen? Schnell weiterblättern?

Umzugsreste (I)

Saturday, 15. August 2009

Was den grauenvollsten Umzug angeht, den wir je zu absolvieren hatten, so sind wir jetzt wohl, toi-toi-toi, aus dem Gröbsten raus.

Man tut gut daran, die meisten Erinnerungen an Missverständnisse, Zerstörungen, Verletzungen, Anstrengungen, Ängste, Entsagungen, Verluste und Enttäuschungen zu verdrängen und sich einer erholsamen Zukunft in einer Wohnung zuzuwenden, die es immerhin wert war, all diese Schrecknisse auf sich zu nehmen. Etwas und einiges bleibt aber doch zurück. Nehmen wir für heute nur die kaum noch sichtbare Narbe an der Spitze meines linken Zeigefingers.

Ich war gezwungen, zeitweise ohne jede fremde Hilfe in vier Zimmern ein praktisches Klickparkett zu verlegen, nicht zu verwechseln mit billigem Laminat, da es aus Vollholz besteht, die reine Natur. Aber es funktioniert doch ganz ähnlich. Planken von ebensolchen Abmessungen, wie sie bei dem holzimitierenden Kunststoffboden üblich sind, gilt es ineinander zu fügen, wozu mit Schlagholz, Schlageisen und Hammer zu hantieren ist. Die seit Friedrich Theodor Vischer sprichwörtliche Tücke des Objekts tritt hierbei besonders rücksichtslos in ihre Rechte. Und wenn der Dilettant dann noch die mangelnde Routine durch besinnungslose Wut auszugleichen versucht, ist ein Unfall nahezu unvermeidlich. Eines sommerlichen Julimorgens traf ich mit dem Hammer nicht das Holz, sondern besagten Zeigefinger. Da platzte das Fleisch auf, Blut spritze auf das frisch verlegte Birkenholz,  Panik überschwemmte die verbliebene Vernunft, deren letzter Rest immerhin den wackligen Beinen befahl, Hilfe in einer nahe gelegenen Apotheke zu suchen.

Dabei hatte ich noch das Glück, auf eine trostreiche und patente Apothekerin zu treffen, die mir umstands- und gar noch kostenlos einen tadellosen Wundverband anlegte. Der Schmerz traf erst zehn Minuten später ein und ließ mich nach Luft schnappen. Mein Hausarzt besah sich die Verletzung und bereitete mich darauf vor, dass der Nagel vielleicht gezogen werden müsse. War dies nicht eine aus China bekannte Foltermethode? Ach nein, da waren ja Bambusspitzen mit im Spiel. Außerdem versprach mein Arzt mir für diesen Fall eine örtliche Betäubung. Und außerdem wachse der Nagel ja nach.

Der Nagel musste nicht dran glauben, doch sendet die Fingerspitze sechs Wochen nach dem Missgeschick noch immer irritierende Empfindungen ans Hirn. Jede Berührung mit gleich welchem Gegenstand fühlt sich dort an, als träfe er auf rohes Fleisch. Wenn ich mich rasiert habe, spüre ich auf der Wange, die der rechte Zeigefinger als samtigweich registriert, mit dem linken Zeigefinger ein dichtes Borstenfell. Und weil ich diesen Finger aussparen muss, wenn ich Wechselgeld aus meinem Portemonnaie zusammenlese, entgleiten mir die kleineren Münzen immer wieder und ich komme mir vor wie ein alter Tattergreis. Wie kann ein einziger falscher Schlag im Bruchteil einer Sekunde solch weitreichende Folgen haben!

(Wird fortgesetzt.)

Rundgang (IV)

Thursday, 13. August 2009

Und dann der Wald! Dieser schöne Weg gehört noch nicht im engeren Sinn dazu. Keine fünf Minuten laufe ich auf meinen kranken Füßen und habe diesen Durchblick!

An Werktagen begegnet man vormittags kaum einer Menschenseele in den weitläufigen Waldstücken rings um Rellinghausen. Am Nachmittag machen dann vornehmlich die berufstätigen Hundebesitzer ihre Pflichtgänge, ein paar ältere Herrschaften staksen mit ihren Nordic-Walking-Stöcken einher. Die übrigen paarhunderttausend Bürger dieser Stadt hocken wohl vor ihren Bildfunkgeräten, shoppen in der Mall oder stehen noch im Stau. Was das kostet!

Der Wald kostet nichts. Eintritt frei. Das mag wohl einer der Hauptgründe sein, weshalb er nur von wenigen Spinnern wie mir geschätzt wird. Wofür kein Geld verlangt wird, das kann schließlich nicht viel taugen. Selbst die ständig wachsende Zahl der Arbeitslosen, die ja kaum Geld haben, treiben sich lieber in den Fußgängerzonen, an Trinkhallen oder auf Spielplätzen herum, als in der freien Natur für lau lustzuwandeln.

An den Wochenenden und besonders bei jenem Wetter, das nach landläufiger Meinung als ein schönes anzusehen ist, begegne ich häufiger Rentnerehepaaren in größeren Gruppen, angeregt plaudernd, meist nach Geschlechtern zu Kleingruppen sortiert. Leider nur sehr vereinzelt treffe ich sodann auf Eltern, die ihren Großstadtkindern wenigstens gelegentlich und nicht nur im Urlaub die Begegnung mit der freien Natur ermöglichen wollen.

Ansonsten aber bin ich herrlich allein, von der Hündin abgesehen, die sich aber im Wald noch unauffälliger gibt als auf gepflasterter Straße. Die Wonnen der Waldeinsamkeit erinnern mich dabei an das Vergnügen entlegener Lektüre. Beide Genüsse werden mir noch köstlicher, wenn ich sie ganz exklusiv für mich allein habe. Ich muss zugeben, dass man mir nach diesem Geständnis vorwerfen kann, ein elitärer Sonderling zu sein. Aber es gibt doch schließlich schlimmere Verirrungen, oder?

Rundgang (III)

Wednesday, 12. August 2009

Kaum 200 Meter südwestlich von unserer neuen Wohnung und in der gleichen Straße befindet sich die Kirche der evangelischen Gemeinde Rellinghausen mit angegliedertem Kindergarten, Jugendräumen und Gemeindeamt. Auch eine Gemeinschaftsgrundschule, die Ardeyschule, befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche.

Die moderne Kirche ist bekannt für ihre Orgel, auf der der bekannte Organist und Komponist Gerd Zacher gern und häufig gespielt hat.

Bei offenem Fenster hören wir den Stundenschlag der Kirche, auch die Viertelstunden werden geschlagen und jetzt gerade, um sieben Uhr abends, ruft ein drei Minuten langes Geläut offenbar die Gläubigen zu einem Gottesdienst. Erstaunlicherweise ist mir dies bisher nicht als störend erschienen. Dies mag einerseits daran liegen, dass unsere Fenster in geschlossenem Zustand gut isolieren. Aber vielleicht bin ich auch in den letzten Jahren gegenüber solchen ungefragten Kundgebungen mir fremder Überzeugungen toleranter geworden.

Den Turm der Kirche sehe ich von Weitem, wenn ich mit der Straßenbahnlinie 105, aus der Innenstadt kommend, über die Rellinghauser Straße heimwärts fahre.

Betreten habe ich die namenlose Kirche bisher noch nicht.

Rundgang (II)

Wednesday, 12. August 2009

Etliche meiner Rundgänge mit kleinerem oder größerem Radius unternehme ich an der Seite unserer Mischlingshündin Lola, die in wenigen Tagen zehn Jahre alt wird.

Ein Motiv für unseren Umzug aus dem Moltkeviertel nach Rellinghausen war, dass wir dem Tier auf seine alten Tage gönnen wollten, regelmäßiger als in den letzten Jahren Waldluft zu schnuppern. Von der letzten Wohnung aus war bequem nur ein kleiner Park erreichbar. Wollten wir autolosen Hundehalter Lola mehr bieten, mussten wir mit der S-Bahn in den Stadtwald fahren. Diesen Aufwand regelmäßig auf uns zu nehmen hatten wir uns fest vorgenommen, als wir Anfang 2005 in die Messelstraße zogen. Bald blieben aber unsere Vorsätze auf der Strecke. Verspätete Bahnen, der Zwang zu perfektem Timing, wollte man bei der Rückfahrt keine langen Wartezeiten auf verdrecktem Bahnsteig in Kauf nehmen und manch andere Hemmnisse führten dazu, dass wir die Tour mit Lola in den Stadtwald wenn überhaupt nur an den Wochenenden unternahmen.

Nun also liegt der Schellenberger Wald nahezu direkt vor unserer Haustür. Dieser ausgedehnte Forst war übrigens einer der Gründe, warum die Bürgermeisterei Rellinghausen im Jahr 1910 zur Stadt Essen eingemeindet wurde: „Für Rellinghausen bringt dies einige Vorteile, da die Gemeinde nicht in der Lage gewesen war, die dringend notwendige Kanalisation anzulegen und die Verkehrsprobleme zu lösen. Auch Essen hatte ein großes Interesse an der Vereinigung, weil der größte Teil des Stadtwaldes in Rellinghausen lag.” (Klaus Wisotzky: Vom Kaiserbesuch zum Euro-Gipfel. 100 Jahre Essener Geschichte im Überblick. Essen: Klartext Verlag, 1996, S. 52.)

Der gemeinsame Ausgang von Herr und Hund hat ja aber bekanntlich nicht nur die angenehme Wirkung, dass sich beide auf ihre alten Tage Bewegung verschaffen, frische Luft atmen und den Blick weiter schweifen lassen, als dies in der engen Kammer möglich ist; für das reinliche Tier ist er vielmehr Notwendigkeit aus unabweislicher Notdurft, die es nie und nimmer im Bau seiner Halter verrichten will. Was dies betrifft ist es gar nicht hoch genug zu schätzen, wenn sich in unmittelbarster Nähe der Wohnung ein kleines Dickicht befindet, wo die Hinterlassenschaften so separat abgelegt werden können, dass sie keinen menschlichen Schuh beschmutzen und keine menschliche Nase beleidigen.

Voilà! Hinter diesen Bänken, auf denen offenbar nie ein anderer Platz nimmt als der Verfasser dieses Weblogs, hat Lola den stillen Ort gefunden, an dem sie sich ganz entspannt erleichtern kann, ohne jemals jemandem lästig zu fallen.

Rundgang (I)

Tuesday, 11. August 2009

Nie wieder hat man eine bessere Chance, die Dinge deutlich zu sehen, wie bei der ersten Begegnung. Gewohnheit lässt den Blick verschwimmen und macht schließlich blind.

(Die verbreitete Auffassung, dass der erste Eindruck, speziell bei der Begegnung mit Menschen, auch der beste sei oder sich später zumindest oft als ein solcher erweise, teile ich hingegen nicht. Im Rückblick auf meine zahlreichen Bekanntschaften erinnere ich mich an gleich viele Fälle, wo das Gegenteil galt und mein erster Eindruck durch ein besseres Kennenlernen vollständig überholt wurde.)

Deshalb habe ich beschlossen, meine neue Wohnumgebung in den kommenden Tagen und Wochen wenn nicht systematisch, aber doc h gründlich, mit der Kamera in der Hand, zu durchstreifen und dabei festzuhalten, was mir bemerkenswert, typisch, kurios oder befremdlich erscheint.

Kaum trete ich vor die Haustür, da trifft mich schon der Blick eines steinernen Schlossers vom Giebel des Hauses via-à-vis.

Ich bin nach gründlicher Selbstprüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass es ein freundlicher Blick ist. Der friedliche Handwerker ist mir zugetan und ich denke, dass der Schlüssel, an dem er gerade feilt, für mich bestimmt ist. Ich denke noch weiter und male mir aus, dass der Schlüssel zu jener Tür passt, hinter der sich verbirgt, wonach ich schon so lange suche. Es hat aber wenig Sinn, beim Anblick des reglosen Schlossers ungeduldig zu werden. Gut Ding will Weile haben! Und übrigens habe ich ja auch besagte Tür noch nicht gefunden.

(Wird fortgesetzt.)

Grabaufhebung

Sunday, 09. August 2009

In wenigen Tagen läuft nach vierzig Jahren die Ruhezeit für dieses Urnengrab ab. Deshalb nutzte ich heute eine günstige Gelegenheit, es mir zum ersten und letzten Mal anzuschauen.

Schön, dass es unter einem alten Ahornbaum liegt. Dass der Vorname in dieser Koseform gewählt wurde, lässt Raum für Spekulationen.

Eine sentimentale Regung, die ich für nicht ganz ausgeschlossen gehalten hatte, stellte sich nicht ein. Wieder machte ich die überraschende Beobachtung an mir, dass mich Friedhöfe keineswegs traurig stimmen oder gar bedrücken. Eher im Gegenteil fühle ich mich beschwingt, frohgemut und durch die Beobachtung des Eifers amüsiert, mit dem wacklige Witwen die Gräber ihrer Vorangegangenen pflegen.

Auch mit dem Tod hat der Gottesacker für mein Empfinden nur von Ferne etwas zu tun. Hier passt einmal das pervers missbrauchte Wort Entsorgung und gewinnt seine ursprüngliche Unschuld zurück.

Als meine Begleiter die Frage aufwerfen, wie ich selbst es denn gern hätte, posthum, betreffs die Verbringung der sterblichen Hülle, die dann wohl nicht mehr meine ist, bleibe ich unentschieden und verweigere eine Antwort. Vorläufig reicht mir für diesen Fall, dass ich meine Organe zur Weiterverwendung freigegeben habe. Was mit dem Rest geschieht, scheint mir völlig belanglos.

Protected: Seltenheitswert

Sunday, 09. August 2009

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Dran!

Saturday, 08. August 2009

Unschreibbare Romane (I)

Friday, 07. August 2009

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist der von dem Junggesellen Mitte dreißig, der in der Herrenabteilung eines großen Bekleidungshauses einer wenig attraktiven Großstadt arbeitet und sich schon längst ums Leben gebracht hätte, wenn er nicht so antriebslos wäre.

Sein einzig starkes Gefühl, seit er sich erinnern kann, ist ein bodenloser Hass gegen seine Mutter, eine inzwischen pensionierte Lehrerin für Mathematik und Musik. Wann immer er in den letzten Jahren mit einem Mädchen oder einer jungen Frau vertraulich wurde, musste er ihr so bald wie möglich von diesem Hass erzählen, in den schrillsten Farben malte er diesen Hass aus, und stets gipfelten seine Tiraden in Mordphantasien von geradezu lodernder und schwärender Bestialität.

Zwar verhielten sich die Herzensdamen dieses bösen Buben im Einzelnen je nach ihrem Temperament und ihrer Tagesform sehr unterschiedlich, doch in einem Punkt gingen sie konform: Mit diesem armen Irren wollten sie keineswegs noch vertrauter werden, als es ihnen nun durch ein offenbares Missgeschick widerfahren war.

Besonders eindrucksvoll an den dramatischen Darbietungen des unglücklichen Anzugverkäufers wären für seine Zuhörerinnen jene kurzen szenischen Einlagen gewesen, bei denen er gewisse gestische Marotten und sprachliche Ticks seiner Mutter gekonnt imitierte – wenn, ja wenn sie denn das zweifelhafte Vergnügen gehabt hätten, die garstige Frau persönlich kennenzulernen. Dann nämlich hätten sie nicht schlecht gestaunt über das imitatorische Genie ihres Verehrers. So aber mussten sie die affektierten Auftritte und hysterischen Ausbrüche, die er ihnen vorspielte, für alberne und maßlose Übertreibungen halten.

Womit niemand und am wenigsten der Sohn gerechnet hätte, das geschieht. Die überaus agile Alte, die seit Menschengedenken nicht einmal über ein Schnüpfchen geklagt hatte, fällt eines lauen Julitages bei ihrer Morgengymnastik plötzlich tot um. Der Sohn ist wie verwandelt, fühlt sich von einer schweren Last befreit, wird am offenen Grab von einem Lachanfall überwältigt etc. pp. Doch dann bemerkt er, zunächst nur als schwache Ahnung, dann als zunehmenden Verdacht, schließlich als böse Gewissheit, eine unwiderstehliche Veränderung seines Verhaltens: Er übernimmt zwanghaft die Ticks und Marotten seiner Mutter. Diesmal aber spielt er sie nicht, sie mischen sich vielmehr ununterscheidbar in sein ganz alltägliches Auftreten. (Bis hierher und nicht weiter. Wie für alle meine unschreibbaren Romane gibt es auch für diesen keinen sinnvollen Schluss.)

Pushkids (III)

Wednesday, 05. August 2009

Ich weiß gar nicht mehr, wer die ohnehin schon nicht geringe Konfusion noch verschärfte, indem er die Beutelfrage ins Spiel brachte.

Üblicherweise wirft man seinen Müll in unseren reinlichen Zeiten ja nicht sozusagen ungeschützt in den Abfalleimer. Vielmehr befindet sich in diesem schmucken Gefäß ein weiterer, geringfügig kleinerer und weniger ansehnlicher Eimer. Und um auch diesen „Eimer im Eimer” vor ekligen Verschmutzungen zu bewahren, wird er mit einem Müllbeutel ausgekleidet.

Nun hatten wir bei unseren Internetrecherchen auf der Wesco-Website gesehen, dass es für die Baseboys und Pushboys aus dem Sauerland auch spezielle Abfallbeutel mit Zugband gibt. Meine Gefährtin witterte gleich Geschäftemacherei: „Da zahlt man bloß für den Namen. Ich hole die Beutel wie bisher bei ReWe oder Aldi.

Nun musste ich freilich zu bedenken geben, dass die meisten Abfallsammler von Wesco ja gerade durch ihre ungewöhnlichen Proportionen ins Auge stechen und sich eben deshalb dem Liebhaber gediegener Haushaltwaren als unverwechselbare Design-Schmuckstücke einprägen. Ich argwöhnte, dass sich möglicherweise ein für die Firma Wesco angenehmer Nebeneffekt dieser individuellen Formgebung daraus ergab, dass in ihre Eimer ausschließlich Wesco-Beutel passen. Meine Gefährtin murmelte etwas, das so klang wie „was nicht passt, wird passend gemacht”, aber damit konnte sie kaum sich selbst, geschweige denn mich überzeugen. „Du glaubst doch nicht, dass ich einen weit über hundert Euro teuren Abfalleimer kaufe, der für die Ewigkeit halten soll, um dann ewig an irgendwelchen unpassenden Billigbeuteln herumzuzerren!”

Als wir an diesem Punkt unserer warenkundlichen Recherchen in Sachen Abfalleimer angelangt waren, hätte ich nicht mehr darauf gewettet, dass wir überhaupt noch einmal zu einem neuen Eimer kommen würden. Seit etlichen Tagen entsorgten wir sehr zur Freude eines munteren Fruchtfliegenschwarms unsere Küchenabfälle provisorisch in Plastikeinkaufstüten, die wir an die Klinke einer Zimmertür hängten.

(Wird fortgesetzt.)

Jetzt erst recht!

Tuesday, 04. August 2009

Es gibt in allen Schichten und Professionen und gab zu allen Zeiten wie auch heute noch vereinzelte Menschen, die sich durch einen heroischen Starrsinn aus der gewöhnlichen Gemeinschaft hervortun, oft zu deren Belustigung, fast immer zu ihrem eigenen Schaden. Diese knorrigen Solitäre, einsamen Kämpfer für eine unbezweifelte „Wahrheit”, gehen eher aufrecht vor die Hunde, als dass sie nur einen Fingerbreit von ihren Überzeugungen abrückten. Solch ein armer Tropf war der norwegische Erzähler Knut Hamsun, dessen Geburtstag sich heute zum 150. Mal jährt.

Als ich vor achtunddreißig Jahren erstmals Hunger las, war dies – neben der gleichzeitigen Begegnung mit Kafkas Amerika und Büchners Lenz – einer der Glücksfälle, die mich auf kürzestem Weg zu einem anspruchsvollen Lesergeschmack führten. Hamsuns Debutroman von 1890 wurde dann hundert Jahre nach seinem Erscheinen noch einmal bedeutsam für mich, als ich eine anorektische Phase durchmachte und bis auf 59,2 Kilo herunterhungerte.

Wenige Wochen vor seinem frühen Tod Ende 1993 hatte ich eine kurze Korrespondenz mit dem aus Essen stammenden Helmut Salzinger. Ich wollte mich bei ihm beliebt machen und sandte Hamsuns Mysterien als rororo-Erstauflage nach Odisheim. Der Gärtner im Dschungel bedankte sich, dies sei ein merkwürdiger Zufall. Er habe das Buch einst als Kind im Bücherschrank einer Tante in Essen gesehen, bevor das Haus und damit auch die Mysterien ein Opfer des Bombenhagels wurden. Nun werde er es also endlich lesen. Ich weiß nicht, ob die Zeit dazu noch gereicht und ob ihm der Roman gefallen hat.

Die Welt ist klein! Heute ist es ausgerechnet Brigitte Kronauer, die Knut Hamsun in der Süddeutschen Zeitung zum 150sten gratuliert – auch sie eine gebürtige Essenerin. (Das ist schon erstaunlich, denn wesentlich mehr nennenswerte Schriftsteller hat meine Heimatstadt im vorigen Jahrhundert nicht hervorgebracht.) Kronauer empfiehlt, nachdem sie über Hamsuns politische Verirrungen berichtet hat: „Man halte sich an seine Werke. Zu eigenem Nutzen und Gewinn lese man wenigstens einmal im Leben Hunger, erst recht den darauf folgenden, genialen Roman Mysterien, in dem es der Held noch einfallsreicher, ja epiphanischer versteht, an einer (diesmal klein-)städtischen Gesellschaft zu verzweifeln.” (Brigitte Kronauer: „Die unendliche Beweglichkeit meines bißchens Seele”;in: SZ Nr. 177 v. 4. August 2009, S. 12.) – Ich zögerte einen kurzen Augenblick, bevor ich vor zwei Wochen meine fünfzehnbändige Hamsun-Werkausgabe (München: Albert Langen, 1921-30) dann doch in eine Kiste für die neue Wohnung packte und nicht in eine Kiste für das Außenlager. Nun bin ich froh über meine Entscheidung, auch eingedenk des wahnwitzigen Nachrufs, den der Norweger am 2. Mai 1945 auf Adolf Hitler veröffentlichte. (Vgl. Robert Ferguson: Knut Hamsum – Leben gegen den Strom. A. d. Engl. v. Götz Burghardt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1992, S. 555.)

Eine Rezitation von Hunger gibt es von dem großartigen Mimen und Vorleser Oskar Werner, für Menschen, die das Selbstlesen bereits verlernt haben, ein nahezu gleichwertiger Ersatz. Ich selbst werde mir wohl bald einmal Hamsuns spätes Tagebuch Auf überwachsenen Pfaden gönnen.

Pushkids (II)

Monday, 03. August 2009

Als Bewohner der achtgrößten Stadt Deutschlands waren wir voller Zuversicht, in der City gleich mehrere Haushaltswarengeschäfte, Design-Studios oder Kaufhausabteilungen zu finden, wo wir die verschiedenen Modelle des bekanntesten Abfalleimerfabrikats würden in Augenschein nehmen können. Zwei enervierende Stunden belehrten uns eines Besseren. Lediglich in einem alteingesessenen Fachgeschäft am Theater waren drei Exemplare der Produktlinie „Baseboy” vorrätig, in Weiß, Rot und Neusilber, Fassungsvermögen 20 Liter.

Das waren nun die üblichen Treteimer, wie man sie schon aus den 1950er-Jahren kannte, die mit der speziellen Wesco-Erfolgsstory nur bedingt etwas zu tun hatten. Ihren Namen konnten wir uns nicht recht erklären. Bedeutete das englische „base”  nicht so viel wie gemein, niedrig, niederträchtig, minderwertig, unedel? Oder spielte es auf den laut Herstellerwerbung „extrem standfesten Sockel” an, auf dem der Behälter ruht, eben auf seine Basis? Mein Hauptargument gegen ein vorschnelles Umschwenken vom Pushboy auf den Baseboy war aber, dass der Tretmechanismus des Letzteren gewiss komplizierter und somit anfälliger für Defekte wäre als der primitive, aber grundsolide Kippmechanismus des Pushers. Und wir suchten ja schließlich einen Abfalleimer für die Ewigkeit. Immerhin waren wir nun doch einigermaßen verunsichert und vertagten die Kaufentscheidung, wozu auch das wenig enthusiastische Auftreten des Verkäufers und der stolze Preis von 169 Euro beitrugen.

Um so bald wie möglich zu einem hieb- und stichfesten Entschluss zu kommen, besprachen wir das Thema nun mit allen unseren Freunden. Dabei stellte sich heraus, dass es ebensoviele Ansichten übers optimale Wegschmeißen gibt wie Wegschmeißer. Nur zwei Beispiele. Eine erfahrene Hausfrau gab zu bedenken, dass beim Versenken schmieriger Lebensmittel durchs Pushmaul des Pushboys dessen Verschmutzung nie ganz zu vermeiden sei. „Da bekommt ihr Spaß, wenn es alle zwei Wochen heißt, den festgetrockneten Schmodder abzubürsten!” Und ein Hobbykoch aus der Nachbarschaft plädierte mit Nachdruck für den Treteimer: „Der Einsatz von drei Extremitäten beim Wegwerfen – rechter Fuß auf dem Pedal, linke Hand hält den Teller, rechte Hand schiebt mit der Gabel die Reste in die Tonne – ist und bleibt ergonomisch einfach unübertroffen!”

Ich bin manchmal kindisch. Zum Beispiel dann, wenn ich eine einmal gefasste Meinung noch verteidige, wenn sie schon längst als widerlegt gelten kann. So führte ich nun für den Pushboy ins Feld, dass er dank seines imposanten 50-Liter-Volumens nur selten geleert werden müsse, weniger als halb so oft wie der Baseboy. Der Einwand meiner Gefährtin folgte auf dem Fuße: „Den Riesensack darfst dann aber du zur Mülltonne schleppen. Und außerdem: Wenn der Abfalleimer so selten geleert wird, fängt’s bald an zu stinken. Und die Wolken von Fruchtfliegen, die dann unsere Küche heimsuchen, sehe ich auch schon lebhaft vor mir.”

Ich verzog mich eingeschüchtert an meinen Schreibtisch und verglich am Monitor die Farbmuster der diversen Wesco-Eimer. Was das anging, taten sich Pushboy und Baseboy nicht viel. Was aber, wenn ich mich jetzt rettungslos in den Pushboy in Silber verlieben würde? Das war der einzige Ton, in dem der Baseboy nicht lieferbar war. Nein, Unsinn, auch damit würde ich nicht durchkommen.

(Wird fortgesetzt.)

Pushkids (I)

Sunday, 02. August 2009

Ein wesentlicher Stressfaktor beim Umzug ergab sich aus der allgegenwärtigen leidigen Frage: „Aufbewahren oder wegwerfen?” Wir entdeckten Dinge, die zu besitzen wir längst vergessen und die wir in den vergangenen viereinhalb Jahren niemals entbehrt hatten. Uns begegneten zahllose Fehlkäufe, unwillkommene Geschenke von dubiosester Provenienz, angeknackste, aber doch noch nicht restlos defekte Sächelchen, Krimskrams von ausschließlich sentimentalem Wert, originelle Staubfänger und provozierend hässliches Zeugs, das vielleicht doch noch zu dokumentarischen Zwecken taugte.

Erschwert wurde das Abwerfen dieses vielgestaltigen Ballasts durch den vertrauten Umstand, dass wir uns nur in der Minderheit der Fälle über Wert oder Unwert eines jeden Einzelstücks einig wurden. Zudem befand ich mich aus bekannten Gründen in diesen Konfliktfällen stets in der schwächeren Position. Wer zehntausend Bücher um sich herum angestaut hat, sollte sich hüten, seine Gefährtin wegen lächerlicher fünf Dutzend Paar Schuhe einen Messie zu schimpfen.

Nachdem wir uns wochenlang über das Bleiberecht toter Gegenstände in unserem Haushalt gestritten hatten, beschlossen wir, uns zum Ende dieser Zerreißprobe mit einem nützlichen neuen Gegenstand zu belohnen: einem besonders schönen, soliden und zweckmäßigen Küchenabfalleimer! In den mehr als drei Jahrzehnten unserer häuslichen Gemeinschaft hatten wir etliche kleine, mittlere und große Mülleimer aus Kunststoff oder Metall in unserer Küche beheimatet, alle hatten ihre funktionalen oder ästhetischen Nachteile gehabt und waren schnell verschlissen, was aber dank ihres geringen Preises leicht zu verschmerzen war. Warum sollten wir uns jetzt nicht einmal einen Abfalleimer für die Ewigkeit gönnen?

Nach oberflächlicher Orientierung über das gehobene Abfalleimerangebot verständigten wir uns bald darauf, dass eigentlich nur eins jener stilvollen Entsorgungsgefäße aus dem Hause Wesco in Frage kam. Schon die Erfolgsstory der Firma M. Westermann & Co. aus dem sauerländischen Arnsberg war uns rundweg sympathisch: „Schon bald nach seiner Gründung im Jahr 1867 spezialisierte sich das Unternehmen auf die Verarbeitung von Blechen für Haushaltwaren und baute das Sortiment stetig aus. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hielt der ,Ascheimer‘ Einzug in das Produktsortiment und nach dem Krieg produzierte Wesco seinen ersten ,Treteimer mit Fuß‘.” (Wesco-Website) Den ganz großen Durchbruch verdankt Wesco aber einer glücklichen Fügung. Egbert Neuhaus weilte als jüngster Spross im Familienbetrieb Anfang der 1970er-Jahre als Austauschstudent in Texas. Dort fielen ihm die typisch amerikanischen Abfallbehälter mit einem Fassungsvermögen von 50 Litern und mehr auf, die ursprünglich für die Gastronomie entwickelt worden waren, dank der leichtsinnigen Mentalität der Wegwerfgesellschaft jedoch längst auch Einzug in die Privathaushalte gefunden hatten. Bald produzierte Wesco nach dem Vorbild der amerikanischen Trash cans ähnlich geräumige Abfallsammler, die in Anlehnung an den Schriftzug auf der großen Einwurfklappe hierzulande auf den Namen „Pushboy” getauft wurden.

So machten wir uns am ersten Tag nach der erfolgreichen Wohnungsübergabe von der neuen Wohnung aus auf den Weg in die Essener Innenstadt, um unseren ersten und letzten Pushboy zu erstehen. (Fortsetzung folgt.)

Letzter Umzug

Saturday, 01. August 2009

Nach gezählten siebzig Tagen und einer gefühlten drei viertel Ewigkeit bin ich wieder daheim in meinem Weblog. Unterdessen war ich mit allerlei Verrichtungen befasst, die so gar nicht zum Repertoir meiner erprobten Fähigkeiten und erwiesenen Begabungen gehören, die meistenteils Anstrengungen ungeübter Muskeln, Knochen und Gelenke erforderten und deren erfolgreiche Bewältigung eine motorische Geschicklichkeit der Extremitäten voraussetzte, über die ich allenfalls in den vordersten Gliedern meiner Schreibfinger gebiete. Das Abenteuer, das mir solche Schindereien abverlangte, hört auf den harmlosen Namen Umzug.

Wenn Benjamin Franklin 1757 in Poor Richard’s Almanack den Stoßseufzer zum Himmel schickte, Three removes are as bad as a fire!, dann scheint mir dies nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen noch untertrieben. Dieser Umzug war ein Flächenbrand, durch den ohne Unterlass Kapitän Haddocks Mille millions de mille sabords! trampelten. Wäre ich nicht schon immer ein herzhafter und rücksichtsloser Flucher gewesen, ich hätte diese frohe Kunst unweigerlich gelernt, auf dem langen und beschwerlichen Weg aus der alten in die neue Wohnung.

Bei allen Verletzungen und Verstörungen, Beschädigungen und Beschämungen einer gar schröcklichen Zeit – die sich paradoxerweise einerseits ins Unermessliche zu dehnen schien, wenn ich nämlich mit diesen unüberschaubaren und nicht enden wollenden Plackereien befasst war, während sie andererseits rasend schnell verstrich, angesichts des gnadenlos näher rückenden, definitiven Auszugstermins aus dem gekündigten Wahnsitz Nummer 10 – war doch die schlimmste der Qualen der notgedrungene, wenngleich vorübergehende Verzicht aufs Schreiben.

Einen solchen Tort werde ich mir nie, nie wieder antun. Dies Haus, Wahnsitz Nummer 11, verlasse ich nur mehr in Rückenlage und mit den Füßen voran! Und bis dahin will ich keinen Tag mehr verstreichen lassen, dem ich nicht an dieser Stelle je nach Gusto meinen Tadel oder meine Jauchzer hinterherschicke. Wenn ich zum Schweigen verurteilt bin, werde ich ganz kümmerlich und miesepetrig und stumpfsinnig. Das darf sich niemals mehr wiederholen!

(An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle Helfer: Heinrich F., Mario R., Ronald K., Christoph K., Johannes M., Hannerlore M., Jakob T., Christoph Sch., Dominik V., Gabi N., David P., Tim T., Ludger C., Susanne B., Thomas B., Söhnke N., Pablo F., Ulf G., Christian F., Benedikt R., Paul H. und meine Kinder.)