Archive for the ‘Provinzglossen’ Category

Westropolis – ein Epilog (VII & Schluss)

Tuesday, 08. February 2011

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Die Vision eines für anspruchsvolle Kulturfreunde im Revier nützlichen Weblogs habe ich in groben Zügen umrissen. Nun also die letzte Frage, mit deren Beantwortung alles steht und fällt: „Wer ist interessiert und in der Lage, ein solches Kulturblog zu realisieren, sowohl inhaltlich als auch materiell?“

Die erste Voraussetzung, die dessen Stammautoren vermutlich erfüllen müssten, wäre ihre materielle Unabhängigkeit mindestens in einer Startphase. (Es sei denn, man fände einen risikofreudigen, idealistischen Sponsor.) Dass man mit Weblogs nur schwer Geld verdienen kann und in den ersten ein, zwei Jahren vorsichtshalber von einem Nullsummenspiel ausgehen sollte, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.

Sodann sollten sich die Autoren auf einen klar definierten, verbindlichen Standard verständigen können, was die Art der Themen, die Darstellungsweise und die stilistische und formale Qualität betrifft. Damit soll die Meinungsfreiheit und die Phantasie der Autoren keineswegs beschränkt werden. Aber ein Kulturblog für das Revier ist beispielsweise nicht die richtige Bühne für die Mitteilung persönlicher Befindlichkeiten, Exaltationen, Selbstdarstellungen selbstverliebter Schreibvirtuosen. (Als einen solchen kann man mich durchaus ansehen, aber diese Neigungen verwirkliche ich in meinem persönlichen Blog.) Auch ein Reisebericht von den Seychellen oder die Todesnachricht von Gary Moore gehört nicht hierher. Und das Unterscheidungsvermögen von das und dass ist die Mindestvoraussetzung für die Teilnahme an einem solchen Projekt, das sich an gebildete Leser wendet und sich von den auch orthografisch immer weiter degenerierenden Printmedien positiv abheben will. Ein besonders auffälliger Ton im Lokalkolorit der Ruhrstädte ist zweifellos der Fußball; doch bei allem Verständnis für Traditionen und gepflegten Infantilismus hat dieser vereinsmeiernde Ballspielwahn auf einer Kulturseite allenfalls ausnahmsweise etwas zu suchen.

Spätestens an dieser Stelle wird vielleicht deutlich, warum ich pessimistisch bin, was die Realisation dieses schönen Traums betrifft. Die einzigen Blogger im Revier, denen man den Anspruch unterstellen könnte, immerhin nebenbei auch Kultur im Revier und für das Revier zu vermitteln, die ruhrbarone, sortieren ihre Artikel in vier Schubladen: Alles über Pop bringt vorwiegend YouTube-Filmchen für junge Leute unter fünfzig; Auf dem Platz meint viel Fußball und sonst so allerlei, Lokalpolitik zum Beispiel und delikate Personalien aus der Region; Glaube, Sitte, Heimat ist ebenfalls ein Durcheinander ohne erkennbaren gemeinsamen Nenner, vielmehr rotieren regionale, nationale, internationale und interstellare Themen in der Schleuder, dass einem schwindlig wird; und schließlich hat die internationale Politik dann bei Rest der Welt noch ihren Exklusivauftritt.

Das ist jedenfalls kein Kulturblog, in dem man findet, was man sucht, sondern allenfalls über manches stolpert, von dem man nicht einmal träumte und das doch gelegentlich Spaß macht oder Interesse verdient. Wenn ich Langeweile habe, weil ich nicht weiß, was ich mit einem angebrochenen Abend anfangen soll, dann schnüffele ich vielleicht wie ein streunender Hund in meinen Lieblingsblogs, und dann vielleicht auch bei ruhrbarone herum, um für den Rest des Abends meine gute Stube nicht mehr zu verlassen. Wenn ich aber wissen will, was es an kulturellem Angebot für einen solchen Abend jenseits meines Monitors in der Region gibt, dann finde ich auf diesem Monitor zurzeit noch keine überzeugende Orientierungshilfe. – Mache ich einen Denkfehler, oder darf man dieses Defizit getrost als echte Marktlücke bezeichnen?

[Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (VI)

Tuesday, 01. February 2011

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Wie lautete noch gleich meine vierte Frage? (Wir kommen ja langsam zum Schluss dieses Epilogs auf ein komisches Trauerspiel.) „Welche Schlüsse kann man aus den Erfahrungen mit dem ,Experiment‘ Westropolis für die Voraussetzungen einer erfolgreichen Kulturplattform für das Ruhrgebiet im Internet der Zukunft ziehen?“ – Ich würde diese Frage nach meinen bisherigen Reflexionen so nicht mehr stellen, denn erstens ist „Kulturplattform“ ein ungenauer Begriff; sagen wir doch lieber „Kulturblog“. Und zweitens müssten wir uns darüber verständigen, woran wir den Erfolg messen wollen.

Was DerWesten unter seinem Karteikartenreiter „Kultur“ an Bildern und Texten ablegt, sortiert in die Sparten Film, Fernsehen, Musik, Bühne, Ausstellungen, Bücher, Wochenende, Events aktuell und TV-Programme, das kann man allerdings als „Kulturplattform“ bezeichnen, mit der Betonung auf „platt“. Ein Weblog, das zu sein Westropolis nicht ganz ohne Recht vorgab, ist dieser Gemischtwarenladen jedenfalls nicht mehr. Überdies sind die Schwächen, die ich schon am Experiment Westropolis aufgezeigt habe, noch einmal vertieft worden. Die konfuse Systematik der Website unterscheidet zwar zwischen „Fernsehen“ und „TV-Programmen“, schmeißt dafür aber andererseits alle Tonkunst von Oper bis Heavy Metal in einen Topf, wobei fraglich bleibt, ob dieser Topf mit „Musik“ oder „Bühne“ überschrieben ist. Und ein Profil als das kompetenteste Medium für die Revierkultur wird ebenfalls nicht erkennbar, wenn etwa bei „Literatur“ von John Updikes nachgelassenen Storys bis zu einem Hörbuch von Herbert Knebel alles verwurstet wird, was den WAZ-Redakteuren zufällig auf den Schreibtisch flattert oder plumpst. Und was drittens den Schreibstil der Autoren betrifft, so herrscht farbloses Mittelmaß vor, mit häufigen Ausrutschern nach unten und seltenen Ausreißern nach oben. – Ob diese Kulturplattform der konkurrenzlos beherrschenden Mediengruppe im Ruhrgebiet, als ein besch…eidener Teil ihres Internetauftritts, Erfolg hat, ist schwer zu sagen. Bei mir hat sie keinen, ich lese das nicht. Und der Rest der Welt? Man müsste die Klickzahlen kennen, aber differenziert nach den Hauptthemen. Nicht umsonst stehen ja die politischen Topnews auf der Startseite, einen Klick weiter folgen zunächst einmal „Lokales“ und „Sport“. Erst dann kommt die „Kultur“ an die Reihe – und nach ihr nur noch „Leben“, „Videos“ und „Spiele“. (Mal nebenbei: Was ist das für eine kuriose Ordnung vermeintlicher Humaninteressen?) Jedenfalls kann man mir den Verdacht nicht ausreden, dass hier die „Kultur“ bloß notgedrungen, zähneknirschend geduldet wird, wie die schreckliche Tante, die man leider auf alle Familienfeste einladen muss, wegen der Erbschaft. Man weist ihr ein Plätzchen im hintersten Eck zu und gibt ihr das kleinste Stückchen Torte. Und wie sehr sehnt man Tantchens Ableben herbei!

Ein Kultur-Weblog für das Revier müsste sich von dieser ungeliebten alten Schachtel ungefähr so unterscheiden wie Jean Seberg als Patricia Franchini in Godards À bout de souffle von Bette Davis als Jane Hudson in What Ever Happened to Baby Jane. Ein solches Blog müsste klug und schlank sein, geradlinig und ehrlich, beweglich und klar.

Ein paar präzise Regeln wären unumgänglich. Kultur im Revier bedeutet was es sagt und nichts darüber hinaus. Bücher zum Beispiel werden nur besprochen, wenn sie eine thematische Beziehung zum Revier haben; allenfalls noch, wenn die Autoren von hier stammen. Ausstellungen in Museen und Galerien und die Bühnenprogramme der Musiktheater und Schauspielhäuser im Ruhrgebiet sollten so frühzeitig gewürdigt werden wie möglich. Einmalige Events kann man vergessen, denn was nützt eine lobende Kritik dem Leser, wenn er keine Möglichkeit mehr hat, in den gleichen Genuss zu kommen. Im Bereich Kulturpolitik bin ich wenig beschlagen, aber gerade da könnte ein kluger Kopf mit spitzer Zunge sicher für große Aufmerksamkeit sorgen. Und dann gibt ’s ja noch das weite Feld der Alltagskultur. Hier könnte ein gutes Kulturblog sogar  Neuland betreten. Wie aufregend könnte es sein, die Einkaufsstraßen des Reviers kritisch unter die Lupe zu nehmen und zu vergleichen? Restaurants nicht nur nach der Speisekarte zu beurteilen, sondern nach der Atmosphäre und dem Publikum? Wer schreibt einen episodischen Reiseführer über die Wochenmärkte an der Ruhr? Und die Flaniermöglichkeiten in Stadtlandschaft und Natur lechzen geradezu nach der Erkundung durch einen scharfsichtigen Naiven. Selbst eine Würdigung architektonischer Auffälligkeiten in lockerer Folge könnte lesenswert sein, wenn der Blickwinkel ein anderer wäre als der von schlaumeiernden Bauhistorikern.

Vielleicht könnte man mit einer Truppe von sechs bis zwölf wirklich guten Schreibern an verschiedenen Standorten im Revier ein solches Projekt auf die Beine stellen. Pro Tag müssten zunächst nicht mehr als zwei, drei Beiträge erscheinen. Die meisten Webseiten schrecken ja durch eine Überfülle von Inhalten ab. (Auch was das betrifft ist DerWesten ein schlechtes Vorbild.) Gute Weblogs sind da oft schon ein  Stück weiter, und sei ’s weil die Blogger, die als Einzelkämpfer kaum mehr als ein Posting täglich absetzen können, aus der Not eine Tugend machen. – Wenn schließlich noch die Kommentarfunktion des Blogs von kompetenten Lesern genutzt würde, die Berichterstattung und Kritik der Autoren durch gut begründete abweichende Meinungen zu bereichern, dann könnte man wohl von einem Erfolg sprechen, der den Aufwand lohnte. Aber ist das ein realistischer Plan?

[Zur letzten Folge der Serie. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (V)

Tuesday, 25. January 2011

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Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien mit Westropolis eine ganze Reihe guter Chancen verpatzt und vertan worden – sei ’s aus Mutwillen, sei ’s aus Trägheit, sei ’s aus Unfähigkeit. Aber vielleicht geht man schon von falschen Voraussetzungen aus, wenn man überhaupt nur den ernsthaften Willen unterstellt, aus diesem „Pilotprojekt“ einen soliden  Langstreckenflieger zu machen. Nach meinen Erfahrungen sind innovative Projekte in großen Unternehmen in einem Maße von „weichen“ Faktoren und Komponenten abhängig, wie es sich der ahnungslose Beobachter nicht träumen lässt. In Wahrheit ist ja der vielfach belästerte „grüne Tisch“ viel besser als sein Ruf. Es wäre gar nicht das Schlechteste, wenn sich die Projektmanager bei ihrer Entscheidungsfindung von abstarkten Überlegungen bestimmen ließen. Dann würden sich die Ergebnisse in der Umsetzung zwar auch noch als fehlerbehaftet erweisen und dieser oder jener Nachbesserung bedürfen. Aber bei der gängigen Praxis, wo Beziehungen, Freundschaften, Neigungen und Emotionen etwa bei den so wichtigen Personalentscheidungen den Ausschlag geben, darf man sich nicht wundern, wenn im Garten lauter Böcke wüten. Ich werde jetzt nicht der Versuchung erliegen, hier auch nur einen einzigen Namen zu nennen – soviel nur: Mit dieser Besetzung konnte das Stück nicht reüssieren.

Ich mache jetzt mal einen weiten Sprung in die Gegenwart und frage: Was ist denn nun eigentlich aus dem Projekt „Kultur online bei der WAZ-Mediengruppe“ geworden? Eine ganz gewöhnliche Sparte in einem ganz gewöhnlichen Zeitungs-Internetportal. Wer macht ’s, wer schreibt ’s? Die ganz gewöhnlichen Print-Redakteure. Oder, noch simpler und billiger: Es erscheinen dort die ganz gewöhnlichen Printartikel, die von einer Internet-Redaktion technisch angepasst und online gestellt werden. Man fragt sich natürlich auch hier wieder: Was hat denn die Zeitung davon, wenn jeder Leser sein Abo kündigen kann, weil er die Inhalte kostenlos auf seinen Monitor geliefert bekommt? Nun gut, er tut ’s mehrheitlich noch nicht, weil Zeitunglesen am Frühstückstisch gemütlicher ist und er es hasst, wenn ihm die Brötchenkrümel in die Tastatur fallen. Aber das ist doch wohl eine reichlich anämische Begründung, oder? Also fällt mir nichts anderes dazu ein als die alte Leier: „Die Zeitung online stellen? Jeder macht ’s, also können wir nicht davon abstehen – und wer weiß, was die Zukunft bringt!“

Nun ist ja das, was manche Blogger seit ein paar Jahren im Web vorführen, in mehrfacher Hinsicht anders als das Ged®uckte in einer Zeitung. Die Inhalte präsentieren sich oft direkter, freier, unbefangener, frecher, rücksichtsloser. Gute Weblogs wirken unverbraucht, experimentierfreudig und in gewisser Weise auch herrlich unschuldig. Zuallererst aber bekommt man als Leser den Eindruck, Zeuge der Gedanken und Gefühle eines leibhaftigen Menschen zu werden, der glaubwürdig vorgibt, sein „Geschäft“ aus Überzeugung, gar Leidenschaft zu betreiben. (Wenn diese Glaubwürdigkeit sich zugegebenermaßen vor allem dem Nebeneffekt verdankt, dass Blogger gewöhnlich kein Geld mit diesem „Geschäft“ verdienen, so ist dies nur eine weitere zu den vielen Ungerechtigkeiten in unserer bösen Welt.) Nun wäre es zweifellos wenig sinnvoll, die Berichterstattung über den Weltklimagipfel allein Bloggern zu übertragen, die ihre ganz persönlichen Bauchgefühle in alle Welt schicken und keine Lust haben, sich mit den trockenen Zahlen, Daten, Fakten zu beschäftigen. Wenn es aber um Zustände und Ereignisse in unserem unmittelbaren Lebensumfeld geht, in unserem Stadtteil etwa oder in unserem Unternehmen, dann hat der Blogger den Vorteil der Nähe und Betroffenheit. Und bei der Kulturkritik kommt ja noch hinzu, dass es hier eben am allerwenigsten um Zahlen, Daten und Fakten geht, sondern um Empfindungen und Meinungen, um Genuss und Geschmack. Was eignete sich also besser zur Darstellung durch Blogger als das regionale kulturelle Geschehen?

Aus Sicht der Zeitung haben Blogger ein paar Vorzüge gegenüber den klassischen, fest angestellten Redakteuren. Sie sind billiger, im Idealfall arbeiten sie sogar für lau. Sie brauchen keine Büros und kein technisches Equipment, denn sie arbeiten daheim am eigenen PC. Ihre Honorierung erfolgt nicht auf Stundenbasis, sondern nach Lieferumfang. Und vor allem kann man sich jederzeit wieder von ihnen trennen, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. – Dagegen stehen allerdings auch allerlei Nachteile. Blogger lassen sich nicht zensieren oder sonstwie reinreden. Sie schlagen öfter mal über die Stränge und schädigen so im schlimmsten Fall den Ruf der Zeitung. Man muss ständig auf der Hut sein, dass sie keine Urheberrechte verletzen, den Pressekodex missachten oder sonstwelchen kindischen Unfug treiben. Zudem sorgen sie für Unruhe in der Stamm-Mannschaft der fest angestellten Redakteure, besonders dann, wenn sie gleich gute oder gar bessere Ergebnisse für deutlich weniger Geld liefern. – Fazit: Echte Blogger haben auf Zeitungsseiten nichts zu suchen. (Es sei denn, sie geben alles auf, was ihr eigentliches Wesen ausmacht, wie etwa neuerdings Die Kolumnisten bei SPON.)

Wie kam es dann aber zu diesem insofern geradezu „utopischen“ Experiment der WAZ-Mediengruppe? Meine Erklärung hierfür ist ganz einfach. Als Katharina Borchert zum 1. August 2006 ihren Job als Online-Chefin im WAZ-Konzern antrat, gab es eigentlich nur zwei gute Gründe, die für sie als Stelleninhaberin einer solchen innovativen Schlüsselposition sprachen. Der erste Grund war einer jener „weichen“ Faktoren, siehe oben. Und der zweite Grund war der Erfolg ihres privaten Weblogs, Lyssas Lounge. Also war es nur zu verständlich, dass Borchert ihren Traum vom Zeitungs-Blog in den ersten Monaten an ihrem neuen Schreibtisch noch ein wenig weiterträumte. Als ich Ende April 2007 bei Westropolis aufkreuzte, hatte sie ihn wohl schon ausgeträumt, denn in meinen 16 Monaten als „Gastautor“ in diesem Haus gelang es mir trotz mehrfacher Versuche nie, auch nur einen Blick auf sie zu erhaschen, geschweige denn ein Wort mit ihr zu wechseln. Sie sei, so hieß es wiederholt auf meine Nachfrage, bis über beide Ohren mit der Arbeit an der „eigentlichen“ Website des Unternehmens beschäftigt. Offenbar hatte der Drache die Prinzessin längst mit Haut und Haaren verspeist.

[Zur nächsten Folge. –  Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (IV)

Tuesday, 18. January 2011

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Westropolis ging also durchaus mit Potenzialen an den Start, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Dieses Kulturportal für das Revier hätte zu einer festen Adresse für alle Bewohner und Besucher der Region werden können, die ihre Freizeit planen bzw. einen Aufenthalt in der Region dazu nutzen wollen, mehr über die (damals noch) bevorstehende „Kulturhauptstadt Europas 2010“ zu erfahren. Westropolis hatte also vom Start weg so viele Qualitäten, dass diesem Weblog kaum noch etwas in die Quere hätte kommen können – außer vielleicht dem Unvermögen seiner Macher und dem mangelnden Interesse seiner Inhaber. Eine echte Konkurrenz zu einer professionellen Online-Präsentation des Kulturangebots an der Ruhr gab es vor vier Jahren nicht – und gibt es eigentlich auch heute noch nicht. Da bleibt doch die Frage: Welche Möglichkeiten hätten genutzt werden müssen, diese Qualitäten zu kultivieren und das Profil der Website so zu schärfen, dass Westropolis bis 2010 als Topadresse für die hiesige Kultur im Internet etabliert gewesen wäre – und zwar nicht im Stil der langweiligen Pflichtberichterstattung festangestellter Redakteure, sondern geschrieben mit dem frischen Elan neugieriger und respektloser Blogger?

Zuallererst hätte schon in der Themenvorgabe eine eindeutige Begrenzung auf die Kultur im Ruhrgebiet erfolgen müssen. Dies geschah jedoch einigermaßen konsequent nur in den Bereichen „Bühne“ und „Festival“, ansatzweise noch bei „Kunst“, „Design“ und „Musik“, während die unter „Film“ und „Literatur“ abgelegten Artikel nur im Ausnahmefall irgendeinen Bezug zum Revier hatten. Gerade diese beiden Bereiche machten aber mit zusammen über 4.500 Beiträgen den Bärenanteil aus, was nicht zuletzt auch daran lag, dass Else Buschheuer als Cineastin und Bernd Berke, Johannes Groschupf und ich als Büchermenschen sich nach Belieben austoben konnten. Mit Blick auf das gesamte Projekt muss man aber ganz klar urteilen: Thema verfehlt!

Über allen Wolken ist die Freiheit tatsächlich grenzenlos, aber da hier doch – so glaubte ich mindestens für eine beträchtliche Zeit – kein Wolkenkuckucksheim gebaut werden sollte, zu dem jeder schlichtweg alles beitragen könnte, was ihm gerade so durch den Kopf ging oder am Herzen lag, sondern ein handfestes Kulturblog für eine Region mit ein paar Millionen Einwohnern, das einigermaßen represäntativ und halbwegs vollständig das kulturelle Leben in dieser Region widerspiegeln müsste, wartete ich immer darauf, dass sich in den Geschäftsleitungsetagen der WAZ-Mediengruppe mal jemand räuspern und Korrekturen vornehmen würde – leider bis zuletzt vergeblich!

Dabei gab es doch eine zugleich konkrete und komfortable Terminsetzung zur Verwirklichung der oben beschriebenen Vision, nämlich den Start des Kulturhauptstadt-Jahres im Frühjahr 2010. Volle drei Jahre hätten Katharina Borchert und ihre Mannschaft also Zeit gehabt, aus dem Pilotprojekt Westropolis ein vollwertiges, sinnvoll integriertes Segment des neuen Webauftritts DerWesten zu machen. Dazu hätte man sich aber zuallererst auf die Suche machen müssen nach einem Dutzend standortbezogener Blogger in den Revierstädten von Duisburg bis Dortmund, deren Aufgabe gewesen wäre, über das regionale kulturelle Umfeld an ihrem jeweiligen Heimatort zu berichten. Das hätten die meisten Hardline-Blogger alter Schule zwar voraussichtlich strikt abgelehnt, bei denen es bekanntlich noch immer als Verstoß gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Bloggerei gilt, sich von zahlenden Auftraggebern abhängig zu machen. Andererseits ist das Weblog als junger Ableger der Kommunikationstechnik längst noch nicht hinreichend ausgetestet, als dass man seine positiven Wirkmöglichkeiten aus Ressentiments heraus beschränken sollte, die sich unter überholten Bedingungen entwickelt haben. Das klingt jetzt vermutlich etwas abstrakt, ich kann es aber auch ganz konkret sagen: Ich schämte mich nicht, mit der WAZ Hand in Hand zu gehen, da mir alle Freiheiten zugesagt wurden, die ich brauchte, um Morgen für Morgen unbefangen in den Spiegel blicken zu können. Allerdings wurde ich irgendwann skeptisch, weil mir diese Freiheiten in ihrer Grenzenlosigkeit unheimlich wurden. Ich beschloss, den schweigenden Riesen mit allerlei Provokationen zu reizen, ließ beispielsweise eine allsonntägliche Atheismus-Serie vom Stapel – doch nichts geschah!

Da wurde mir allmählich klar, dass es eine Narren-Freiheit war, die hier gewährt wurde. Und ich ahnte schon, worauf es hinausliefe, wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hätte. (Mohren und Narren erfüllten an den europäischen Fürstenhöfen ja nahezu die gleiche Funktion.)

[Fortsetzung folgt.Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (III)

Tuesday, 11. January 2011

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Fünf Fragen habe ich mir gestellt und will ich hier versuchen zu beantworten, um aus dem „Experiment“ Westropolis vielleicht die eine oder andere nicht nur für mich lehrreiche Einsicht ableiten zu können. Heute also erstens: Welche Qualitäten führten dazu, dass sich anfangs bei Westropolis, wenn man den Kommentaren etwa der ersten beiden Jahre trauen darf, eine ambitionierte, gebildete und treue Leserschaft einfand?“

Die WAZ-Mediengruppe, die über ihre Tochter WestEins (heute DerWesten) dieses Kultur-Blog in Auftrag gegeben hat, ist mit ihren Tageszeitungen der unangefochtene Marktführer im gesamten Ruhrgebiet, das drittgrößte Verlagshaus Deutschlands und einer der größten Regionalzeitungs-Verlage Europas. Kein Wunder also, dass ein solcher Riese sich nur räuspern muss, und alle horchen auf. Nach meiner Erinnerung war die Werbung für Westropolis in den WAZ-eigenen Blättern eher verhalten. (Vielleicht hätte man schon darob stutzig werden sollen?) Aber auch dies Wenige reichte aus, um genügend regelmäßige Leser für ein angeregtes Geplaudere in den Kommentaren einzusammeln. Andererseits wurde das Kulturblog aber zunächst auch nicht von einer Kommentarflut heimgesucht, die ja meist die bekannten Probleme mit Spammern, Trollen und ähnlichen lästigen Gästen mit sich bringt und nicht selten viel Arbeitskraft bindet, die ausschließlich zur Schadensbegrenzung eingesetzt werden muss. Die kulturellen Inhalte schienen sich mit den Hauptgebieten Film, Musik, Design, Bühne, Literatur, Kunst und Festival an Leser aller Altersgruppen zu wenden – wenngleich man bei näherer Betrachtung der publizierten Inhalte dann doch zu dem Ergebnis kam, dass eher die unter Vierzigjährigen angesprochen wurden.

Die Kriterien bei der Auswahl der festen „Gastautoren“ blieben nicht nur mir unerforschlich. Man hätte annehmen können, dass eine regionale Verwurzelung im Ruhrgebiet die allererste Grundvoraussetzung für die Aufnahme in die Mannschaft eines Schiffes hätte sein sollen, das die Regionalität ja schon im Namen trug. Für den in Berlin lebenden Braunschweiger Johannes Groschupf und die in Leipzig lebende Sächsin Else Buschheuer traf dies definitiv nicht zu. Hatice Akyün, gebürtige Türkin, ist zwar immerhin in Duisburg aufgewachsen, lebt aber seit zehn Jahren nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern abwechselnd mal in Hamburg, mal in Berlin. Damit reduzierte sich der Kreis der Vor-Ort-Berichterstatter auf die Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau in Dortmund (Bernd Berke, Jürgen Overkott und Nadine Albach) sowie auf die beiden „Freien“ Ingo Juknat und Christian Scholze. Habe ich noch jemanden vergessen? Richtig: mich selbst, den Revierflaneur, gebürtig, wohnhaft und flanierend hauptsächlich in Essen. Wollte man hier schon mäkeln, dann müsste man sagen: Es wirkt auch im Rückblick reichlich konzeptionslos, was die Planer am Grünen Tisch bei der WAZ da als „Blogredaktion“ zusammengewürfelt hatten, zumal es für diese „Gastautoren“ nach meiner Kenntnis keinerlei Vorgaben zu den Inhalten ihrer Beiträge gab. Aber das feine Wort „Kultur“ ist ja geduldig wie ein Kieselstein, mit dem man so ziemlich alles machen kann: bunt anmalen, kaputtkloppen und die Splitter als Talismane verteilen – oder aber ab in die Tonne damit.

Weil die Planer gerade beim Ausprobieren waren, schließlich handelte es sich ja um ein „Experiment“, eröffneten sie wagemutig jeder Leserin und jedem Leser die Möglichkeit, selbst eigene Artikel zu publizieren, mit der kleinen Einschränkung, dass die Leser-Artikel im Unterschied zu denen der „Gastautoren“  jeweils von der Redaktion freigeschaltet werden mussten. Zur Animation für diese Leserbeteiligung wurden regelmäßig neu erschienene Bücher als Freiexemplare angeboten, unter der Voraussetzung, dass die Interessenten diese läsen und anschließend bei Westropolis besprächen. Auch dieser Versuch schien halbwegs zu glücken, wenngleich die Rezensionen, die dabei herauskamen, gelegentlich wenig schmeichelhafte Rückschlüsse auf das Urteils- und Ausdrucksvermögen ihrer Verfasser zuließen und schon aus Rücksichtnahme auf deren Leumund besser nicht dem Licht einer unbegrenzten Öffentlichkeit hätten preisgegeben werden sollen. Andererseits kann man diese grenzenlose Toleranz der Administratoren natürlich auch begrüßen, gewährten die nach gängigen journalistischen Kriterien völlig mangelhaften bis ungenügenden Publikationen doch ab und zu ausgesprochen interessante Einblicke in das Geistesleben zeitgenössischer Mitteleuropäer.

Last but not least möchte ich das optische Erscheinungsbild dieses kulturellen Internet-Auftritts loben. Vielleicht bin ich befangen, weil ich mich dort ja immerhin 16 Monate lang nahezu täglich aufgehalten und unterdessen geradezu eine Art Heimatgefühl für diese Umgebung entwickelt habe. Aber es ist schon erstaunlich, dass sich noch nach langer Abstinenz, als ich kurz vorm letzten Jahreswechsel wieder einmal bei Westropolis vorbeischaute, mein altes gutes Gefühl beim Anblick dieser farblichen und formalen Gestaltung wieder einstellte. Wenn den Entwicklern bei vi knallgrau etwas gelungen ist, dann diese Optik! Und fast scheint es mir, als wäre die Empörung der bis zuletzt Westropolis treu gebliebenen Stammgäste über die Abschaltung der Website wenigstens teilweise dieser gelungenen Optik gutzuschreiben, die sie zu schätzen gelernt haben und nun schmerzlich vermissen. Das gibt mir aber nun zugegebenermaßen bloß mein subjektives Gefühl ein, ist vielleicht reine Geschmacksache. Jedenfalls war ich sehr optimistisch, als ich mir Ende Februar 2007 die Westropolis-Seite zum ersten Mal anschaute, sonst hätte ich mich schließlich nicht um eine Stelle als „Gastautor“ beworben. Daraus müsste sich doch mit etwas gutem Willen und sehr viel Fleiß etwas machen lassen, so dachte ich. Warum trotzdem nichts draus wurde, das werde ich in den nächsten Folge versuchen zu ergründen.

[Zur nächsten Folge. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (II)

Tuesday, 04. January 2011

sinkendesschiff

Seit heute ist die Westropolis-Seite im Web nicht mehr erreichbar. Mit vier Tagen Verspätung hat nun die WAZ-Gruppe ihre Drohung wahrgemacht und alle Inhalte aus knapp vier Jahren, etliche tausend Artikel und alle darauf eingegangenen Kommentare rückstandslos gelöscht. Das erstaunt mich nicht, denn ein Wertbewusstsein für geistige oder kreative Leistungen gab es in diesem Haus noch nie. Was mich eher schon wundert ist das Erstaunen einiger bis zuletzt dieser Plattform treu ergebenen Autoren-Kollegen und Kommentatoren, die darüber knatschten, dass man doch wenigstens die Inhalte stehen lassen könnte. Naja, solche Ewigkeitswerte haben wir hier nun auch wieder nicht geschaffen. Und wer seine eigenen Erzeugnisse für die Zukunft konservieren wollte, konnte ja verfahren wie Jens Matheuszik vom Pottblog und seine Beiträge noch rechtzeitig sichern.

Nachdem ich mich am 31. August 2008 bei Westropolis abgemeldet hatte, ging ich vielleicht wenn ’s hochkommt noch vier- oder fünfmal auf diese Seite, in großen Abständen und immer mit dem Ergebnis, dass die Schwächen dieses Auftritts fortbestanden, das Niveau der schwächsten Artikel immer noch weiter sank, einige wenige lesbare Autoren – wie Bernd Berke und Ingo Juknat – ihre Perlen vor die Säue warfen, der Kreis der ernst zu nehmenden Kommentatorinnen auf Kaffeekränzchenformat schrumpfte und der ehemalige Ausflugsdampfer Westropolis zuletzt an ein Geisterschiff erinnerte. In meinem Abschiedsgruß hatte ich ganz ohne Groll und Häme meine Kritikpunkte an der Kultur-Website der Zeitungsgruppe durchnummeriert: „1. Das war wohl nur ein Pilotprojekt für DerWesten, leider aber 2. ohne Pilot, mit einer 3. von Anfang an recht dilettantischen thematischen Struktur, die 4. anzupassen offenbar die Mittel fehlten, wie auch 5. ein engagiertes Management, das die Emphase und Energie aufgebracht hätte, die durchaus vorhandenen Potenziale über die Minimalvorgaben der Geschäftsführung hinauszuführen, geschweige denn 6. über deren vermutliche Bedenken, also 7. ein vorhersehbares (und auch vorhergesehenes) Scheitern, bei dem es 8. schließlich nun nur noch darauf ankommt, die Peinlichkeit in Grenzen zu halten, was 9. gewiss auch gelingen wird und das mir 10. für die Dauer meiner Teilnahme allerlei Illusionen beschert hat, die ich nicht missen möchte und deren schmerzvolle Zerstörung mich auf meinem Weg ein gutes Stück vorangebracht hat.“

Das könnte ich im Großen und Ganzen heute noch unterschreiben. Allenfalls die Begrenzung der Peinlichkeit gelang zuletzt immer schlechter, wie ich jetzt weiß, denn ich habe mir in den ruhigen Tagen „zwischen den Jahren“ die Bescherung noch einmal genauer angeschaut und muss sagen: Pfui Teufel! Und insofern war es endlich mal eine kluge Entscheidung der für dieses Desaster Verantwortlichen, den vergifteten Komposthaufen in Gänze abzufackeln, auch wenn dabei manches hübsche Pflänzchen mit in Rauch aufging. Was meine eigenen exakt 367 Westropolis-Artikel betrifft, immerhin ca. 6,55 % aller dort veröffentlichten rund 5.600 Artikel, so habe ich mir in kluger Voraussicht vertraglich zusichern lassen, dass mir deren Wiederverwertung in meinem eigenen Weblog vorbehalten bleibt. Mindestens jene Artikel, auf die ich in meinem Revierflaneur-Blog, also von hier aus verlinkt habe, werde ich bei Gelegenheit und vermutlich in einer überarbeiteten Version wieder online stellen.

Darüber hinaus bleibt natürlich eine Handvoll Fragen, die dieses Experiment aufgeworfen hat und zu deren Beantwortung ich eventuell den einen oder anderen Beitrag leisten könnte. Erstens: Welche Qualitäten führten dazu, dass sich anfangs bei Westropolis, wenn man den Kommentaren etwa der ersten beiden Jahre trauen darf, eine ambitionierte, gebildete und treue Leserschaft einfand? Zweitens: Welche Möglichkeiten hätten bestanden, diese Qualitäten zu kultivieren und damit das Profil der Website zu schärfen? Drittens: Warum geschah dies nicht – mit der Folge, dass sich schließlich Trolle und andere Wirrköpfe einnisteten und die ernsthaft an den kulturellen Inhalten interessierten Leser verschreckt wurden? Viertens: Welche Schlüsse kann man aus den Erfahrungen mit dem „Experiment“ Westropolis für die Voraussetzungen einer erfolgreichen Kulturplattform für das Ruhrgebiet im Internet der Zukunft ziehen? Fünftens: Wer ist interessiert und in der Lage, eine solche Plattform zu realisieren, sowohl inhaltlich als auch materiell?

In den Folgen III bis VII werde ich mich bemühen, meine persönlichen Antworten auf diese fünf Fragen zu finden.

[Zur nächsten Folge. – Zurück zum Anfang der Serie.]

Westropolis – ein Epilog (I)

Saturday, 25. December 2010

westropolis

Dieser Tage bekam ich Weihnachtspost vom Comunity Management der Redaktion von DerWesten, dem Internetportal der WAZ-Gruppe in Kooperation mit dem WDR. Die Absenderin bedankte sich bei mir und den Lesern und Kulturfreunden, die „uns“ durch ihre Text- und Bildbeiträge zu der Kulturplattform Westropolis viele interessante und lehrreiche Eindrücke aus der Kulturlandschaft an Rhein und Ruhr vermittelt hätten. Mit der ersten Person Mehrzahl sind wohl einerseits die Comunity Manager bei DerWesten gemeint, andererseits können auch die Leserinnen und Leser in aller Welt mitgedacht werden, die Westropolis in den vergangenen knapp vier Jahren seit Mitte Februar 2007 besucht haben.

Viele waren das vermutlich nie. Und zuletzt dürften die Besucherzahlen wohl noch weiter in den Keller gesackt sein, wenn man von den gegen null tendierenden Kommentarzahlen auf die Gesamtfrequenz hochrechnen will. Dabei hatte das Kulturportal ursprünglich gute Aussichten, sich für das Ruhrgebiet zu einem etablierten Online-Forum für lebendige und unabhängige Kulturberichterstattung zu mausern. Das Webdesign und die Bedienfunktionen konnten sich durchaus sehen lassen. (Entwickelt hatte die Webseite vi knallgrau aus Wien, auf der Basis der hauseigenen Multimedia-Blog-Software twoday media.) Zudem zeichnete sich am Horizont das Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ab, das sicher genügend Inhalte für eine lebendige und interessante Kulturberichterstattung bieten würde. Entsprechend aufgeregt reagierten Pottblog, Gelsenclan & Co, die angestammte Blogger-Szene im Revier, auf den Newcomer mit dem reichen Onkel im Hintergrund, der selbst überregional für kurzfristige Aufmerksamkeit sorgte.

Westropolis war gerade gestartet, da hörte ich von diesem „Experiment“. (So nennt es ja zum Abschluss jetzt „Das westropolis-Team“.) Zu diesem Zeitpunkt war für mich bereits absehbar, dass ich nach fast 30 Jahren in festen Anstellungen bald wegen Unternehmensstilllegung auf der Straße stehen würde. Zuletzt war ich u. a. als Redakteur für den Internet-Auftritt eines mittelständischen Verlagshauses tätig gewesen, das Schreiben für Online-Medien war mir also durchaus vertraut: „Knackige Headlines! Bündige Teasertexte! Kurze Sätze! Süffige Geschichten! Das Wichtigste zuerst! Viele Bilder! – Parole: Denk immer an den Döfsten!“ Mit dieser Referenz und jenen Qualifikationen stellte ich mich im frischmöblierten Großraumbüro von DerWesten an der Friedrichstraße in Essen vor und wurde nach Ablieferung einiger Kostproben aus meiner Feder zu meiner Verwunderung vom Fleck weg als regelmäßiger Beiträger engagiert, drei Beiträge pro Woche. Von Mitte April 2007 an prangte mein Zylinderporträt neben ein paar Kollegen im rechten Frame der Westropolis-Seite unter der Titelzeile „Gastautoren“. Mit von der Partie waren anfangs die Westfälische-Rundschau-Redakteure Nadine Albach und Bernd Berke, die Buchautoren Hatice Akyün und Johannes Groschupf, der Dramaturg Christian Scholze, der Musikjournalist Ingo Juknat sowie die Filmjournalistin, Buchautorin und Bloggerin Else Buschheuer; kurz drauf kam noch Jürgen Overkott hinzu, ebenfalls von der WR.

Ich stürzte mich gleich mit Feuereifer in die Arbeit und probierte in den folgenden 16 Monaten allerlei aus. Ich beließ es allerdings nicht beim Schreiben von Artikeln, sondern beteiligte mich auch eifrig als Kommentator, sowohl unter meinen eigenen als auch unter den Beiträgen anderer Autoren. Gerade die lebhafte Diskussion der Texte schien mir ja den besonderen Reiz der Bloggerei auszumachen, im Unterschied zu den langsamen Printmedien, in denen es als „Resonanzboden“ allenfalls eine stiefmütterlich unterhaltene Leserbriefspalte gibt. Hinzu kam, dass ich als Autor keine statistischen Auswertungen zu den Klickzahlen auf meine Artikel erhielt – angeblich gab es dergleichen Statistiken nicht. So war das einzige aussagekräftige Feedback, das ich zu meiner Arbeit erhielt, die Resonanz in den Kommentaren. Ich setzte also meinen Ehrgeiz darein, möglichst viele Kommentare „einzufahren“. Ob das der Qualität meiner Beiträge immer zuträglich war, will ich dahingestellt sein lassen.

Jetzt, wo der Vorhang fällt, scheint evident, dass das Pilotprojekt Westropolis bloß der Absicherung der unerfahrenen Entscheider bei der WAZ-Gruppe diente, um daran risikolos zu testen, ob vi knallgrau ein solches Großobjekt wie den Internet-Auftritt des Zeitungsriesen wohl hinbekäme. Anschließend ließ man den Versuchsballon noch ein Weilchen schweben, er kostete ja kaum was. An einem selbstgestellten Anspruch war vi knallgrau allerdings völlig gescheitert, hatte es über Westropolis doch geheißen, diese vorerst eigenständige Plattform im Kulturbereich solle nach dem Launch von WestEins (so der Arbeitstitel von DerWesten) in das Gesamtportal nahtlos eingegliedert werden können. Davon konnte freilich zu keiner Zeit die Rede sein. Der Button auf Westropolis wirkte bei DerWesten von Anfang an und bis zuletzt wie ein Fremdkörper, wie der verschämte Hinweis auf ein ungeliebtes Kind. – Was mich betrifft, so habe ich meine Arbeit für Westropolis als eine wertvolle Zeit in bester Erinnerung, mit vielen unvergessenen Begegnungen und nützlichen Erfahrungen. Ich nehme die Liquidation des Unternehmens darum zum Anlass, mich öffentlich an einige meiner vielleicht lehrreichsten Erlebnisse zu erinnern, den Kommenden zu Nutz und Frommen, allen anderen zur Unterhaltung oder Übelnahme.

[Zur nächsten Folge.]

Protected: Mein letzter Chef

Friday, 05. November 2010

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Vom Ständer geschüttelt (I): DUMMY

Sunday, 18. April 2010

dummy

Immer schon habe ich mich für jene eher randständigen Periodika interessiert, die im Schatten der Massenpresse zwar ein karges Dasein fristen, dabei aber oft einen Wagemut und Erfindungsreichtum an den Tag legen, von dem die Großen nur träumen können. (Und wenn sie schlau sind, kupfern sie dort ab, was das Zeug hält. Bekanntestes Beispiel: Als die twen 1971 einging, war der Stern deren beste Kopie und schrieb sich von da an konsequenterweise stern.) Mehr noch als das Layout und die Bebilderung interessieren mich allerdings die Texte, die bei der Illustrierten-Kritik, wie könnte es anders sein, meist nicht in den Mittelpunkt der Bewertung gestellt werden. Manch augenfreundliches Magazin erweist sich dann bei näherer, lesender Erkundung als ein karges Stoppelfeld, auf dem Stotterer herumstolpern und sich doch Autoren nennen. – Ich werde ab heute sporadisch brandneue, bereits etablierte oder vor langer Zeit eingegangene Heftserien des deutschsprachigen Pressehandels vorstellen und mit dem Fokus auf ihre sprachliche Werthaltigkeit taxieren.

Den Anfang mache ich heute mit DUMMY, das sich im Untertitel „Unabhängiges Gesellschaftsmagazin“, manchmal auch „Das Gesellschaftsmagazin aus der Hauptstadt“ nennt und vierteljährlich jeweils zum Beginn der neuen Jahreszeit in einer Druckauflage von 45.000 Exemplaren erscheint. Das Heft hat das Format 222 x 287 mm und soll es auf einen Umfang von ca. 148 Seiten bringen. Mir liegt mit Nr. 26 das aktuelle Frühjahrsheft vor, das sich mit nur 114 Seiten bescheidet. Laut einer Umfrage vom März vorigen Jahres deckt sich die Leserschaft ziemlich genau mit den Sinus-Milieus der „Postmateriellen“ und „Modernen Performer“, die jeweils zehn Prozent der Bevölkerung in der BRD ausmachen. Es sind dies einerseits die aufgeklärten Nach-68er mit liberaler Grundhaltung, postmateriellen Werten und intellektuellen Interessen; andererseits die junge, unkonventionelle Leistungselite, die beruflich wie privat ein intensives Leben führt, auf Multi-Optionalität und Flexibilität Wert legt und sich für Multimedia-Technologie begeistert. Jetzt wissen wir, wer die Leute sind, die für ein solches Heft einmal im Quartal 6 Euro am Kiosk lassen (bzw. einmal jährlich 24 Euro zzgl. Porto und Versandkosten überweisen), was sie bei einem monatlichen Haushaltseinkommen von 2.500 Euro netto nicht allzu sehr schmerzen dürfte. Jedes Heft widmet sich einem auf dem Titel deklarierten gesellschaftlich relevanten Thema und wird von jeweils anderen Grafikern gestaltet. Sogar die Typographie des Titels DUMMY ist auf jedem Heft eine andere. Auf dem Mediadatenblatt des Magazins heißt es, DUMMY treffe „mit seinem publizistisch einmaligen Konzept […] punktgenau die Lebenseinstellung“ seiner Zielgruppen. Schon möglich, aber was genau an dem publizistischen Konzept nun so einmalig sein soll, wird nicht verraten. Themenheft-Magazine gibt es viele und gab es schon immer. Ich nenne nur als seit vielen Jahren erfolgreiche Beispiele zwei Hefte aus der Schweiz, das Du-Magazin und das Magazin Folio der Neuen Zürcher Zeitung; und das legendäre, von Benneton gesponserte Colors-Magazine von Tibor Kalman und Oliviero Toscani. Aber vielleicht darf man solch vollmundige Selbstanpreisung nicht allzu wörtlich nehmen. (Immerhin sollte Herausgeber Oliver Gehrs gelegentlich einmal veranlassen, dass das Wort „Millieu“ auf dem Datenblatt korrigiert wird.) Doch nun schauen wir uns ganz vorurteilsfrei an, was die DUMMY-Redaktion aus dem Thema „Provinz“ gemacht hat.

Noch vor dem Editorial überfällt sie uns mit einem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.“ Soll uns hier also mit Berufung auf die sozialistischen Klassiker die Gleichung Provinz = ländliche Gebiete = idiotische Bevölkerung aufgedrängt werden? Ganz abwegig ist das ja nicht einmal, denn laut Wikipedia bezeichnet Provinz wenigstens in der Umgangssprache „das Gebiet außerhalb der Hauptstadt oder an der Peripherie eines Landes, manchmal mit abwertender Konnotation: Da aktuelle Moden oder Sitten oft zuerst in den Städten auftreten und diese im ländlichen Raum noch wenig bekannt sind, gilt dieser als eine rückständige, ‚provinzielle‘ Gegend.“ Der Wert eines im besten Sinn aufklärerischen Magazins über Provinz könnte also etwa darin bestehen, mit solchen oberflächlichen Verallgemeinerungen und realitätsfernen Vorurteilen zu brechen und sich in der Provinz auf die Suche nach einer neuen, posturbanen Avantgarde zu begeben. Schaut man sich aber die fünf ernst zu nehmenden Textbeiträge des Heftes an, dann behandeln vier von ihnen tatsächlich den hinterwäldlerischen Idiotismus der Provinz, nämlich im schwäbischen Donzdorf, in einem Dorf in Märkisch-Oderland nahe Strausberg, in Bielefeld und in dem Dorf Bagwa in der Ukraine. Allein der fünfte Artikel führt aus dieser bedrückenden Engherzig- und -stirnigkeit hinaus und stellt uns das Deep Springs College in der kalifornischen Wüste vor, wo Elitestudenten neben ihrer akademischen Ausbildung Kühe melken und Felder bewässern, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren.

Womit aber füllt die DUMMY-Redaktion die übrigen zwei Drittel des Heftes? Da gibt es zur Einstimmung ein Interview mit dem Humangeografen Peter Dirksmeier, der gleich eingangs das Thema des Themenheftes abschießt, indem er die Frage verneint, ob es überhaupt noch einen Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Metropole und Provinz gebe. Ein kurioser Sprachführer Kolonial-Deutsch aus dem Jahr 1916 wird vorgestellt, anhand von vier Seiten im Faksimile. Die zwei- und dreibuchstabigen Ortskürzel auf den Autonummernschildern der Republik haben die Redaktion zu einem despektierlichen Assoziationsspiel verleitet, mit peinlich unlustigem Ergebnis. Charlotte Roches Ex Eric Pfeil erinnert sich leider an die Wirkung seines provokanten Outfits als Pubertierender in Bergisch Gladbach. Eine Geschichte über das isoliert lebende Volk der Sentinelesen ist so dünn, dass sie nur noch mittels 16-Punkt-Schrift auf Artikellänge hochgefüttert werden kann. Das kommentierte Verzeichnis separatistischer Abspaltungen weltweit, von Abchasien bis Xinjiang, mutet mich ebenfalls wie ein von der Not abgepresster Lückenbüßer an. Und noch dünner wird die Luft! Streichholzschachtelgroße Bildchen und ein fußnotenartiger Textstreifen verlieren sich auf den Seiten über eine Pendlerin zwischen Berlin und Spremberg. Zum Ausklang erfahren wir auf einer Seite, was die Taliban ihren Frauen verbieten, in Gestalt einer Top-Ten-Liste, was nicht nur geschmacklos, sondern auch unsinnig ist, denn nach welchen Kriterien wurde denn die Reihenfolge von 1 bis 10 festgelegt? Den traurigen Abschluss bildet eine herablassende Kritik der Zeitschrift Landlust aus der Feder von Herausgeber Oliver Gehrs. Die Landlust tritt gewiss weit weniger ambitioniert auf als das DUMMY, hält aber vielleicht, was sie verspricht.

Einen Artikel habe ich bewusst noch nicht erwähnt, weil ich ihn für den versöhnlichen Abspann aufbewahren wollte, denn er ist der einzige, den ich wirklich gelungen finde. Vielleicht liegt das auch daran, dass er von einem journalistischen Profi verfasst wurde. Hartmut Palmer ruft sich unter dem Titel In einem fernen Land die Bonner Kneipe „Provinz“ in Erinnerung, in der in den 1980er-Jahren Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihr Herz füreinander entdeckten. Dazu werden zeitgenössische Fotos von Axel Greinert gezeigt, an denen ich mich gar nicht satt sehen kann. Und hier blitzt sogar mal ein Erkenntnislicht aus dem Trüben. Nie habe ich die provinzielle Verspießerung der 68er so barrierefrei studieren können wie auf diesen Bildern. – Fazit: Das Heft wirkt auf mich, als wäre ihm die Puste ausgegangen und es traue sich bloß noch nicht, sich aus dem Rennen zu nehmen.

Hungerengel

Saturday, 23. January 2010

platzwahl

Gestern Abend fand nun in der Essener Lichtburg die Buchvorstellung mit Herta Müller statt, die ursprünglich für den 13. Oktober vorigen Jahres angekündigt worden war, als noch niemand wusste, dass die deutschsprachige Schriftstellerin aus Rumänien den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekommen würde.

Große Erwartungen hatte ich nicht in diese Veranstaltung gesetzt, das gebe ich frank und frei zu. Herta Müller habe ich sehr früh wahrgenommen, als nämlich ihr erstes Buch Niederungen im Orwell-Jahr 1984 in einer ungekürzten Ausgabe bei Rotbuch erschien, zwei Jahre nachdem der Bukarester Verlag Kriterion nur eine gekürzte Fassung hatte herausbringen dürfen oder wollen. Da begegnete mir bei einer Leseprobe in der Buchhandlung, in der ich arbeitete, eine eigenwillige Sprache, und auch das Thema hatte es zweifellos in sich, wenn man darauf vertrauen konnte, was der Klappentext versprach. Ich weiß noch, dass ich Müllers Niederungen in der Linken hielt, und in der Rechten ein anderes Buch aus dem Rotbuch-Verlag dagegen abwog, denn eines nur konnte oder wollte ich mir an diesem Tag leisten. Das andere erhielt den Vorzug. Es waren die gleichzeitig erschienene Erzählung von Karin Reschke, Dieser Tage über Nacht. Warum ich so entschied und nicht anders? Ich weiß es nicht. Der Preis kann jedenfalls nicht den Ausschlag gegeben haben, beide Bücher kosteten, eins wie das andere, dreizehn Deutsche Mark. Reschkes Buch habe ich damals nach ein paar Seiten enttäuscht aus der Hand gelegt. Und Herta Müller wurde anschließend unverdientermaßen von meinem Unterbewusstsein in Mithaftung genommen, weil ich ganz unsinnigerweise auch ihren Namen mit der Frustration verband, die mir doch allein Karin Reschke bereitet hatte. Erst als ich mich Mitte September mit der Shortlist des fünften Deutschen Buchpreises beschäftigte, also genau 25 Jahre nach meiner ersten Begegnung, trat Herta Müller wieder in deutlicheren Konturen vor mich hin und weckte mein Interesse. Ich las die vier Seiten in den Leseproben, die ab dem 23. August in den Buchhandlungen auslagen, den Anfang von Atemschaukel, einem Buch, das sich Roman nannte. Diesmal prüfte ich den Text nicht, um Gewissheit zu finden, ob es sich für mich lohnen könnte, es zu kaufen und zu lesen. Diesmal beschäftigte mich allein die Frage, ob ich anhand dieser knappen Kostprobe die Chancen würde abschätzen können, die dieser Roman in der Konkurrenz um den Preis hatte. Ich kam, wie übrigens auch bei den übrigen fünf Titeln der Shortlist, zu einem negativen Befund. Vielleicht wäre ich aber für Atemschaukel eingesprungen, wenn ich statt der kurzen Textprobe das ganze Buch gekannt hätte.

Dass der Essener Auftritt von Herta Müller nun nicht vor den üblichen fünfzig bis hundert Verdächtigen, den hartnäckig an widerspenstiger bis avantgardistischer Literatur interessierten Stammgästen der Heldenbar im Grillo-Theater stattfand, sondern vor über tausend unbescholtenen Bildungsbürgern in Deutschlands größtem Kinosaal, das ist dem undurchschaubaren Ratschluss jenes Clübchens grauer Herren in Stockholm zu verdanken, die sich in der Vergangenheit bekanntlich weniger durch glasklare und nachvollziehbare Kriterien ihrer Entscheidungsfindung hervorgetan haben, als vielmehr durch den Wackelgang jenes blinden Huhns, das alle Jubeljahre auch mal ein Korn findet. Dass dieser Auftritt schließlich zu einem ganz außergewöhnlichen Ereignis gedieh, ist einem ähnlich orientierungslosen Glücksgriff des Schicksals geschuldet. Und nun ist der Zeitpunkt gekommen, da ich den Gesprächspartner der Nobelpreisträgerin all jenen vorstellen muss, die in diesem Augenblick den Namen Norbert Wehr zum ersten Mal lesen. Diesen meist etwas griesgrämig dreinblickenden, leicht magenkrank wirkenden Mann Mitte fünfzig kenne ich nun wohl schon seit 35 Jahren persönlich. Meine intensiveren Begegnungen mit ihm datieren aus der Zeit vor seiner Herausgeberschaft der Literaturzeitschrift Schreibheft. Also aus einer Zeit, an die er sich vermutlich weit weniger gut erinnert als ich. Seine Verdienste um die Art Literatur, die ohne Leute wie ihn nicht von verschwindend wenigen, sondern von gar keinen Lesern gelesen würde, sind unbestreitbar und allgemein anerkannt. Er ist für mich eins der treffendsten Beispiele für einen Menschenschlag, den die Enttäuschung seiner ersten großen Liebe zu einer noch größeren Liebe geläutert und befähigt hat. Wehr, der wenig schreibt und auch im mündlichen Verkehr ein bis zur Sprachlosigkeit wortkarger Mensch ist, fördert vielleicht gerade durch seine Zurückhaltung im Orchester der Plaudertaschen Stimmen zu Tage, die sonst gar kein Gehör fänden.

Genau dies geschah gestern auf der Bühne der Lichtburg, unter einer großen Leinwand, wo sich die beiden krähenhaften Helden des Abends an zwei schlichten Tischchen im rechten Winkel gegenübersaßen. Norbert Wehr fasste in einem einleitenden Vortrag, der genau in dem Moment abbrach, als meine Aufmerksamkeit zu ermüden drohte, die historischen und persönlichen Voraussetzungen des Romans Atemwende zusammen. Und ehe ich mich versah, war Herta Müller in ihr Element versetzt und schöpfte aus dem Vollen ihrer Erinnerungen an die Zeit, als sie Oskar Pastior über sein Leben als Zwangsarbeiter in Krivoi Rog und Gorlowka befragte, an die gemeinsame Reise in die Ukraine in Begleitung von Ernest Wichner. Herta Müller sprach über ihr Verhältnis zur Mutter, die doch auch Zeitzeugin und traumatisiertes Opfer der Zwangsarbeitslager war und doch nicht darüber sprechen konnte. Sie erzählte in diesen knapp neunzig Minuten so viel und so viel Erhellendes über die Entstehungsbedingungen ihres Romans, dass ich jenes Buch, so kraftvoll es sein mag, ohne Zögern für das Erlebnis dieser Erzählung hingegeben hätte. Und warum konnte sich dieses Naturereignis eines Werkstattberichts ohne störende Zwischenfragen so frei entfalten, dass es fast an ein Wunder grenzte? Weil der Gesprächspartner, den wir hier getrost als solchen in Anführungszeichen setzen können, durch größtmögliche Zurückhaltung glänzte.

Dass vermutlich kaum einer der eintausendzweihundertfünfzig Zuhörer so recht begriff, was ihm hier geschah, spricht wohl noch zusätzlich für die außergewöhnliche Seltenheit des Ereignisses. Dass die lokale Presse nicht mehr abzuliefern imstande war als eine holprige Pflichtberichterstattung, war nicht anders zu erwarten. – Ob ich mich nun auf die Schaukel setzen und dieses Buch lesen werde? Vorläufig warte ich ab. Vielleicht befeuert der Nobelpreis ausnahmsweise einmal den Träger (hier: die Trägerin) dazu, sich selbst zu übertreffen, statt sich wie üblich auf diesem allerhöchsten Lorbeer zur letzten Ruhe zu betten.

Rundgang (VII)

Tuesday, 25. August 2009

Da ich dies schreibe, sind’s noch 6 Tage, 05 Stunden, 02 Minuten und 32 Sekunden bis zu den Kommunalwahlen am kommenden Sonntag. Woher ich das so genau weiß? Von der Website der Freien Wähler – ESSENER BÜRGER BÜNDNIS, wo eine Digitaluhr den Countdown zu dieser Stimmabnahme runterzählt.

Das EBB steht in einer Linie mit ähnlichen Gruppierungen in anderen Revierstädten, die sich vor ein paar Jahren aus Kreisen des bürgerlichen Mittelstands gebildet haben, geeint durch tiefe Unzufriedenheit über den Klüngel der etablierten Parteien und die selbstgefällige Saturiertheit ihrer Lokalmatadore.

Liest man die Programme und Erklärungen solcher selbsternannten „Stachel im Fleisch der etablierten Parteien”, in diesem Falle zum Beispiel das Essener Bürger-Manifest und die Essener Erklärung, dann findet man dort vieles getadelt, das man selbst auch tadeln würde, manches gewünscht, was wohl jeder wünschenswert findet – aber kaum einen Plan, wie und mit welchen Mitteln dieses zu vermeiden und jenes zu erreichen sei. Wenn das EBB bei der letzten Kommunalwahl dennoch einen Achtungserfolg verbuchen konnte, so erklärt sich das vermutlich aus der Ratlosigkeit jener Wähler, die von den traditionellen Parteien enttäuscht sind, aber davor zurückschrecken, den extremen Parteien am rechten oder linken Rand ihre Stimme zu geben.

Welches Potenzial in dieser mit Ratlosigkeit gepaarten Verdrossenheit steckt, das hat zuletzt die Begeisterung für den Politiksatiriker Horst Schlemmer alias Hape Kerkeling gezeigt. Nun will es die Ironie des Schicksals – denn an eine böse Absicht zynischer Werbefuzzis, die sich hier einen Scherz mit ihrem Auftraggeber erlaubt haben, wagt man nicht zu glauben -, dass der Oberbürgermeister-Kandidat des EBB auf den Wahlplakaten aussieht wie eine Satire der Satire. Heute flatterte mir auf der regennassen Rellinghauser Straße ein solches Udo-Bayer-Plakat vor die Füße (s. Titelbild).

Ich weiß ja, man soll als mündiger Bürger seine Wahlentscheidung nicht von Äußerlichkeiten abhängig machen. Aber wer es zulässt, dass ein solches imageschädigendes, mitleiderregendes, das Auge beleidigendes Bild tausendfach am Straßenrand plakatiert wird, dem mag man nicht so recht vertrauen, wenn er ankündigt, er wolle im Falle seiner Wahl das Image dieser Stadt aufbessern. Dies nur in aller Bescheidenheit und um das Mindeste zu sagen.

Dorfgeschichte (II)

Friday, 14. November 2008

Sieben Wochen nach seiner fristlosen Kündigung als Intendant der Essener Philharmonie hat Michael Kaufmann vorgestern zu den gegen ihn in einem dezidierten Fragen- und Antwortkatalog der Theater und Philharmonie Essen GmbH (TuP) erhobenen Vorwürfen Stellung bezogen. Sich bei einer öffentlichen Pressekonferenz den Medienvertretern zu stellen, dazu reichte offenbar die Courage nicht. Stattdessen vermittelte der wirtschaftlich gescheiterte Konzerthaus-Chef seine Sicht der Dinge vor einem kleinen Kreis handverlesener Medienvertreter, sekundiert von seinem Anwalt, denn schließlich muss Kaufmann fürchten, dass jedes falsche Wort in dem nun bevorstehenden Arbeitsgerichtsverfahren gegen ihn verwendet wird.

Letzteres kann ich ihm nicht verübeln, schließlich hat auch die TuP ihren Katalog mit dem Vorbehalt versehen, „dass es sich bei diesem Papier nicht um eine juristische, sondern um eine rein informatorische Zusammenstellung handelt.” Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, und Scherben hat es in dieser unseligen Affäre ja nun wahrlich schon genug gegeben. Außerdem kennen beide Seiten wohl das alte Sprichwort: Coram iudice et in alto mare in manu dei soli sumus. Bei aller gebotenen Neutralität des vorurteilsfreien Beobachters einer solchen Posse komme ich aber auch nach Kenntnisnahme von Kaufmanns Gegendarstellung zu keinem neuen Ergebnis. Im Vergleich zu den detailliert nachgewiesenen Pflichtversäumnissen des Intendanten, mit Zahlen, Daten und Fakten, nimmt sich seine Selbstverteidigung sehr dürftig aus. Wenn ihm nicht mehr einfällt, als die Hauptschuld an seinen eklatanten Etatüberschreitungen dem vermutlich nicht mehr haftbar zu machenden TuP-Geschäftsführer Otmar Herren in die Schuhe zu schieben, der im Sommer dieses Jahres in den Ruhestand ging, dann kann Kaufmann mir fast schon wieder leidtun. Und dass er gar die ausgewiesenen und mittlerweile auch von der Düsseldorfer Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft Warth und Klein testierten Zahlen, die unterm Strich für die beiden letzten Spielzeiten eine Etatüberschreitung von 1.700.000 € ausweisen, achselzuckend hinnimmt, mit Kommentaren wie „im Wesentlichen nicht in meiner Verantwortung” und „kenne ich im Einzelnen gar nicht” – dann ist das doch mindestens für den gut dotierten Kaufmann Kaufmann ein Armutszeugnis.

Dass die Wogen nun überhaupt so hoch schlagen, hat zweifellos seinen Grund darin, dass Michael Kaufmann andererseits ein großartiger Impresario dieser Kulturinstitution gewesen ist. Der international renommierte Dirigent Kurt Masur meint zum Beispiel, Kaufmann sei „der fähigste und wertvollste Intendant, den es in Deutschland gibt”. Und auch das feinnervige und hochgebildete Publikum der Essener Philharmonie steht treu zu seinem Ex-Intendanten und versammelt sich zu einer „Solidaritätsbekundung” anlässlich des besagten Pressegesprächs vorm Sheraton-Hotel neben der Philharmonie, um mit einem kleinen Ständchen dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass Kaufmann seine Arbeit fortsetzen solle. Einerseits rührt diese fromme Hoffnung unser kunstsinniges Herz zu Tränen, andererseits zählt uns der Verstand in Heller und Pfennig vor, dass ein solcher Wunsch kaum realisierbar sein dürfte.

Halbwegs realistisch ist hingegen das Fazit, das der Essener Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Reiniger zur „Episode Kaufmann” an der Essener Philharmonie jüngst gezogen hat: „Das Problem des Michael Kaufmann besteht darin, dass dieser im persönlichen Umgang so gewinnende Mensch nicht willens und bereit war, finanzielle Vorgaben zu akzeptieren und sowohl das Programm der Philharmonie als auch sein persönliches Ausgabeverhalten hieran auszurichten. Es ist die intellektuelle Arroganz des Künstlers, der glaubt, sich über alles hinwegsetzen zu können.” (Leider nur halbwegs realistisch, lieber Herr Oberbürgermeister, denn statt „des Künstlers” hätte es richtiger wohl „des Kunstmanagers” heißen müssen. Ansonsten kann ich Ihrem Statement aus meiner jetzigen Sicht auf die Dinge, wie sie nun mal liegen, durchaus zustimmen.)

Wie weit sich aber bornierte Hochkultur-Fanatiker in ihrem Feuereifer zu geschmacklosen Vergleichen versteigen konnten, das hat mich anlässlich dieser Provinzposse dann doch überrascht – als ich nämlich lesen musste, mit welchen Worten der Verleger und Herausgeber Theo Geißler (*1947) in seinem Hausorgan Neue Musikzeitung – nmz diese Stellungnahme des Essener Oberbürgermeisters kommentierte: „Das Vokabular wird langsam gespenstisch, mit dem sich Essens Stadt-Obere vom gefeuerten Philharmonie-Intendanten Michael Kaufmann zu distanzieren suchen. Mit Formulierungen aus dem Repertoire der Reichs-Kulturkammer mischt sich jetzt Essens OB Wolfgang Reiniger in die Diskussion. Nach Rückkehr von einer Reise mit einer städtischen Delegation nach Tunis (zu viel Sonne?) erklärte Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger zur Diskussion um den ehemaligen Philharmonie-Intendanten Michael Kaufmann … [es folgt das besagte Reiniger-Zitat]. Mit dem Vorwurf ,intellektueller Künstler-Arroganz‘ begründeten seinerzeit unter anderem die Nazis Bücherverbrennungen, Aufführungsverbote, Vertreibungen. Wie weit ist es in Essen gekommen, dass die Verantwortlichen für die Ausrichtung der Kulturhauptstadt 2010 vermutlich auch noch unbewusst in den Argumentations-Dreckkübel der kulturlosesten Zeit unserer jüngeren Geschichte greifen müssen? Sind in der Administration unserer ,Kulturhauptstadt 2010‘ nur noch geschichtslose Dilettanten und Erbsenzähler am Werk? Hart wie Kruppstahl[,] aber ein wenig weich in der Birne?” Um zum Reiniger-Kommentar anlässlich der Entlassung eines Philharmonie-Intendanten die Hetzreden der Goebbels-Meute bei der Bücherverbrennung in der Nazi-Zeit zu assoziieren, dazu bedarf es wohl schon eines gerüttelten Maßes an historischer Verblendung. Unwillkürlich musste ich bei diesem maßlosen Vergleich an den Fauxpas des Präsidenten des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Hans-Werner Sinn (*1948) denken, der neulich die in die Kritik geratenenen Manager des Spätkapitalismus mit den verfolgten Juden im Dritten Reich gleichsetzte. – Gewährt die „Gnade der späten Geburt” (Helmut Kohl) eine Generalabsolution für Geschmacklosigkeit? Dann will ich sie jedenfalls nicht für mich reklamieren, obwohl noch ein paar Jahre jünger als die beiden hier erwähnten Herren.

Dorfgeschichte (I)

Friday, 07. November 2008

Leider viel zu spät veröffentlicht jetzt die Theater und Philharmonie Essen GmbH (TuP) einen „Fragen- und Antwortkatalog” zur fristlosen Entlassung des Intendanten der Philharmonie Essen, Michael Kaufmann, die deren 13-köpfiger Aufsichtsrat am 23. September mehrheitlich (mit fünf Stimmenthaltungen) beschlossen hat. Wer die ausführlichen Antworten auf die dort gestellten 17 Fragen vorurteilsfrei zur Kenntnis nimmt, kann kaum zu einem anderen Ergebnis kommen: Die Kündigung von Kaufmann war nicht nur berechtigt, sondern auch hoch an der Zeit. Und selbst gegen den Vorwurf, dass sie zu spät erfolgt sei, muss man die Befürworter des Antrags, die sich mit ihrem Votum glücklicherweise durchgesetzt haben, in Schutz nehmen. Sie haben damit Courage bewiesen und einen allerdings schmerzlichen und unpopulären Schritt vollzogen, was ihnen nachträglich gar nicht hoch genug anzurechnen ist. (Und ich habe ihnen in meinem ersten Beitrag zu diesem Thema wohl in einigen Punkten Unrecht getan, was sie durch ihre behäbige Informationspolitik allerdings selbst verschuldet haben.)

Der Vorwurf des „Provinzialismus”, der sich gegen diese einzig richtige Entscheidung erhob, fällt nach Veröffentlichung dieses Katalogs auf die unsachlichen Lamentierer zurück, die in den folgenden Tagen unisono in einen empörten Krakeel verfielen, allen voran  auf unser meinungsführendes Provinzblättchen mit Millionenauflage, die WAZ, mit ihrem der deutschen Sprache nur für den Hausgebrauch seines Arbeitgebers mächtigen Zampano Wulf Mämpel, der mit seinen wetterwendischen Meinungsäußerungen als „Schaf im Wolfspelz” unter dem Pseudonym Lupus tagtäglich bei seinen treuen Lesern, den Wertschätzern unfreiwilliger Komik, für Erheiterung sorgt.

Den Leserbriefschreibern und Blogkommentierern, die sich zu diesem „peinlichen Eklat” äußerten, dürfen wir ihre unbedarften Stellungnahmen nicht verübeln, denn sie wissen es ja nicht besser, da sie schließlich in ihrer meinungsbildenden Grundversorgung auf besagtes Krawallblatt und seine gleich tönenden Ableger angewiesen sind.

Dass unser aller Boulevard-Berthold vom hohen Hügel herab über den Entscheid der „Wilden Dreizehn” die Nase rümpfte und dem verantwortungsvoll handelnden Gremium der TuP postwendend einen Tritt in den Hintern verpasste, das ist wiederum provinziell und weit eher mit der Gattungsbezeichnung „Schmierenkomödie” zu versehen als der gut begründete Kaufmann-Rausschmiss, der mehrfach so genannt wurde. Doch für Beitz gilt ja längst unumschränkte Narrenfreiheit, er schwebt als „Guter Gott von Ruhropolis” über den unruhigen Wassern der Kulturhauptstadt – und niemand außer einem Enfant terrible wie mir, das nichts mehr zu verlieren hat, traut sich – auch eine Art von Narrenfreiheit – ihm auf seine alten Tage dies zu sagen. „Sancta senilitas!”

Die tiefste Niederung der Provinzialität wurde aber schon zuvor durchschritten, als sich der prominenteste Mann des TuP-Aufsichtsrats, der Kulturdezernent der Stadt Essen und Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH, Oliver Scheytt, bei der Abstimmung am 23. September seiner Stimme enthielt (vgl. WAZ Nr. 236 v. 9. Oktober 2008). Das ist nicht mehr nur provinziell, diese Feigheit hat schon dörflichen Charakter: „Was sollen bloß die Nachbarn denken?” Ich bin, durchaus im wörtlichen Sinn, Nachbar dieses stimmlosen Entscheiders. So steh ich hier und kann nicht anders, als zu sagen und zu bekennen: „Du bist ne Kneifbüx, Olli!”

Ausgezählt

Wednesday, 24. September 2008

Zur Abwechslung mal eine Kulturnachricht aus der Provinzhauptstadt an der Ruhr. Am vergangenen Montag wurde der Gründungsintendant der Essener Philharmonie, Michael Kaufmann (47), im sechsten Jahr seiner Tätigkeit vom 13-köpfigen Aufsichtsrat der Essener Theater und Philharmonie GmbH (TuP) „wegen wiederholter Etatüberschreitung” fristlos entlassen. Mit diesem „Höhepunkt einer hässlichen Sinfonie voller scharfer Dissonanzen” (Neue Osnabrücker Zeitung) ziehen die wirtschaftlich für dieses Abenteuer Verantwortlichen nun die Notbremse.

Allerdings muss sich diese “Wilde Dreizehn” wohl die Frage gefallen lassen, warum sie zwei Spielzeiten lang der eigenmächtigen Etatüberschreitung ihres Intendanten um mittlerweile 1,5 Millionen Euro zugesehen haben. Und warum sie dessen blauäugige Hans-guck-in-die-Luft-Mentalitat erst im vorigen Jahr mit einer Vertragsverlängerung bis 2013 belohnt haben. Wie soll ein solches Konzerthaus Bestand oder gar eine Zukunft haben, wenn von seinen 1.900 Stühlen im Durchschnitt pro Veranstaltung nur 722 (38 Prozent) besetzt sind, und davon noch etliche durch Besucher mit Freikarten? Das sollte selbst einem schlechten Kaufmann einleuchten, Sponsoren hin oder her. Zum Thema der unzureichenden Auslastung der Essener Philharmonie habe ich schon im April 2007 einen kritischen Beitrag geschrieben, damals noch bei Westropolis: „Jetzt sind unkonventionelle Ideen gefragt, um neue Besucher zu gewinnen. […] Und diese Ideen müssen von Kaufmann recht bald einmal kommen – sonst sind (nach meiner unmaßgeblichen Einschätzung) seine Tage in Essen gezählt.” Die Ideen kamen nicht in den seither verstrichenen 515 Tagen – und jetzt ist Kaufmann ausgezählt.

Offenbar haben sich der Aufsichtsratsvorsitzende der TuP, Hans Schippmann (CDU), und seine zwölf Verschworenen zu lange von den unbestreitbaren künstlerischen Erfolgen des guten Prof. Kaufmann blenden lassen. Immerhin zeichnete der angesehene Deutsche Musikverleger-Verband ihn erst neulich noch für das beste Konzertprogramm der letzten Spielzeit aus. Der immer optimistisch strahlende Intendant war zudem bei seinen Mitarbeitern überaus beliebt. So beliebt, dass seine Pressesprecherin ihm nach dem Rauswurf noch mit einer offiziellen Presseerklärung der Philharmonie ihre Solidarität bekundete – und dafür gleich auch ihren Hut nehmen durfte.

Mindestens vorübergehend war Michael Kaufmann auch erfolgreich beim Eintreiben von Sponsorengeldern. Seit aber feststand, dass Essen die Kulturhauptstadt 2010 ist, waren die Wartezimmerstühle vor den Vorstandsbüros in den großen Firmen wohl deutlich besser besetzt als die Stühle des Musentempels an der Huyssenallee. Die Gelder wurden knapper. Erstaunlich immerhin, dass noch vor wenigen Tagen die Gründung eines „Kuratoriums der Philharmonie Essen” bekannt gegeben wurde, initiiert vom Vorstandsvorsitzenden der MAN Ferrostaal AG, Dr. Matthias Mitscherlich, und mit Beteiligung weiterer sieben Großunternehmen. Nun nennt Mitscherlich die Entlassung Kaufmanns „absolut unwürdig für eine Kulturhauptstadt, schädlich für Essen und abschreckend für Geldgeber”.

Dass die Entlassung Kaufmanns falsch war, sagt der MAN-Vorstandschef freilich nicht. Er stört sich bloß an der Form des „Vorgangs” – vermutlich, weil er davon erst aus der WAZ erfuhr. Solche gekränkte Eitelkeiten von Leuten, die fremdes Geld verteilen, fehlen noch, um das Bild einer Provinzposse zu vervollständigen. Und als i-Tüpfelchen möchte ich noch den Kommentar des Leiters der Stadtredaktion des hiesigen Provinzblättchens zitieren: „Dass auch ein Intendant sich an sein Budget halten muss, ist unstrittig. Das muss heute jede Führungskraft in seinem [!] Unternehmen.” Sollte Kaufmann von einer Intendantin abgelöst werden, muss Wulf Mämpel auf seine alten Tage noch deutsche Grammatik lernen. Dann sind wir endlich gewappnet für die Kulturhauptstadt Europas.