Archive for April, 2011

Einband des Umschlages?

Thursday, 28. April 2011

Sollte sich trotz meines längeren Schweigens gelegentlich noch der eine oder andere Leser auf dieses Blog verirren, und sollte sich unter diesen paar Versprengten gar einer tummeln, der mit langem Atem mein treuer Gast ist, dann könnte ihm aufgefallen sein, dass unter anderen Rubriken auch diese, Sprechblasen genannte, sanft entschlummerte, vor ziemlich genau zwei Monaten. Mir schien es nämlich nach nur 13 Folgen nicht mehr der Mühe wert, mich auf die alltägliche „Schnitzerjagd“ zu begeben. Das war zu leicht, das wurde bald fad! Zudem verspürte ich bei meiner hämischen Kritikasterei stets ein leichtes Unbehagen, da ich doch hier ausgerechnet eine jener wenigen Tageszeitungen deutscher Sprache aufs Korn nahm, die bei allen angekreideten Fehlern immer noch den Anspruch zu haben scheint, richtig und gut zu schreiben.

So ließ ich ’s also bleiben. Und wenn ich jetzt einmal rückfällig werde, dann nur deshalb, weil der Süddeutschen in ihrer heutigen Ausgabe ein Patzer unterlaufen ist, der mir gleich in zweifacher Hinsicht bemerkenswert erscheint, handelt es sich hier doch um einen Fall von Steinewerfen im Glashaus und zugleich um einen Fall von kulturellem Banausentum.

Erstens geht es in dem fraglichen Artikel gerade um „peinliche Fehler“, nämlich im Begleitheft zum Finale des Eurovision Song Contest, das am 14. Mai 2011 in Düsseldorf ausgetragen wird. Das in einer Auflage von 65.000 Exemplaren gedruckte Heft kündigt einen gleichtags stattfindenden „Aktionstag der Schwulen“ an. Und in den 35.000 Exemplaren der Broschüre in englischer Sprache ist analog von einem „Gay’s Day of Action“ die Rede. Dumm nur, dass es sich um einen „Aktionstag der Schulen“ handelt. Das ist verständlicherweise ein Fall für die Panorama-Seite der SZ, denn dort will sich der gebildete Leser dieses Blattes schließlich für alles entschädigen, was ihm durch seinen BILD-Boykott entgeht.

Was aber dem Fass den Boden ausschlägt: dass nun just in diesem Oberlehrer-Artikel dem anonymen Autor ebenfalls ein Lapsus widerfährt, und zwar einer, der nicht bloß auf Flüchtigkeit beruht wie in den von ihm monierten Fällen, sondern noch ganz andere Defizite offenbart. Er schreibt: „Ein weiterer Fehler findet sich auf dem Einband des Umschlages.“ (SZ Nr. 97 v. 28. April 2011, S. 9.) So etwas gibt es nicht und kann es nicht geben! Vielleicht hat der Leser dieser Zeilen im Unterschied zu dem zitierten SZ-Redakteur einmal ein Buch in der Hand gehalten und erinnert sich von daher, dass das viele Papier im Inneren äußerlich von zwei meist etwas stabileren Deckeln eingefasst war, einer vorn und einer hinten. Dies nennt man „Einband“. Viele Bücher hüllen sich nun zusätzlich noch in eine Schutzschicht, damit die Einbanddeckel beim Lesen am Früstücks- oder Abendbrottisch nicht so leicht bekleckert werden können. Diese Schicht nennt man „Umschlag“.

So wird auch dem Buchunkundigen hoffentlich klar, dass man notfalls von einem „Umschlag des Einbandes“ sprechen kann, mitnichten jedoch, wie in dem Artikel geschehen, von einem „Einband des Umschlages“. (Der lässliche Flüchtigkeitsfehler auf dem Umschlag des Einbands sei immerhin noch nachgetragen: „Statt ,Welcome to Duesseldorf‘ steht da ‚Wielcome‘.“ Geschenkt!)

Wortgefechte im Sandkasten

Saturday, 16. April 2011

„Der Vorwurf, meine Doktorarbeit sei ein Plagiat, ist abstrus“, teilte Guttenberg unmittelbar nach Bekanntwerden des Plagiatsverdachts gegen seine Doktorarbeit vor Medienvertretern in Berlin mit. (Spiegel online v. 16. Februar 2011.) Nun bedeutet abstrus im eigentlichen Wortsinn soviel wie „tief verborgen, dunkel, schwer verständlich oder geradezu unverständlich“ (nach Adolf Genius: Neues großes Fremdwörterbuch. Regensburg 1933, S. 9) oder auch „versteckt, verborgen […] (abwertend) absonderlich, töricht […] schwer verständlich, verworren, ohne gedankliche Ordnung“ (nach dem Duden Fremdwörterbuch. Mannheim: Bibliographisches Institut, S. 8). Das Wort passte nicht zur Sache – und der Fehler bei der Wortwahl erscheint nachträglich wie ein erster versteckter Hinweis darauf, dass der strahlende Politstar vielleicht doch ein Problem mit dem Verhältnis von Schein und Sein haben mochte.

Noch am gleichen Tag meldete sich Guttenbergs weltberühmter und über jeden Zweifel erhabener Doktorvater, der brave Professor Peter Häberle aus Bayreuth zu Wort und wies die Vorwürfe gegen seinen Ex-Doktoranden im empörten Brustton lauterster Überzeugung zurück: „Das ist absurd“, sagte er der Münchner Abendzeitung. „Die Arbeit ist kein Plagiat.“ (AZ online v. 16. Februar 2011.) Auch dieses Wort passt nicht so recht in den Zusammenhang, heißt es doch ursprünglich soviel wie „mißtönend“, dann auch „ungereimt, abgeschmackt, einen Widerspruch enthaltend“ (Genius, a. a. O.) bzw. „widersinnig, dem gesunden Menschenverstand entsprechend, sinnwidrig“ (Duden Fremdwörterbuch, a. a. O.). Einzig das vom Duden zuletzt noch angeführte Synonym „abwegig“ könnte passen, wenn Häberle unterstellen will, dass der Beweisführer für einen solchen Vorwurf die Argumente für seine Behauptung nur abseits von Logik, Vernunft und Realität finden könnte.

Neuerdings gibt es deutliche Anzeichen, dass das Gaddafi-Regime im Bürgerkrieg in Libyen Streubomben verwendet. Die libysche Führung bestreitet den Einsatz dieser international geächteten Munition. „Wir tun das nie“, wies Regierungssprecher M[o]ussa Ibrahim in der Hauptstadt Tripolis entsprechende Vorwürfe von Human Rights Watch zurück. Die Berichte seien „surreal“. (sueddeutsche.de v. 16. April 2011.) Dieses Adjektiv kommt bei Genius noch gar nicht vor; das Duden Fremdwörterbuch übersetzt: „traumhaft, unwirklich“ (a. a. O., S. 704). Könnten die Augenzeugen in Misrata den nächtlichen Hagelschlag tausender tödlicher Geschosse in den engen Straßen ihrer Stadt nur geträumt haben?

Interessant ist dabei ja, wie der libysche Regierungssprecher auf solch ein Wort überhaupt kommt. Zufällig stieß ich auf einen Bericht über eine Pressekonferenz des Gaddafi-Regimes Ende März, an der auch M[o]ussa Ibrahim teilgenommen hat. Die Autorin Lourdes Garcia-Navarro zitiert darin ihren Landsmann Don Macintyre, der Zeuge dieser unwirklich anmutenden Veranstaltung wurde: “There is something very surreal about sitting in Tripoli and hearing people talking about things that we actually know to be untrue, but having no access to the outside world […] That is a very surreal experience.” (In Libyan Capital, Reporters Encounter The Surreal; nach npr National Public Radio v. 30. März 2011.)

Vielleicht hat M[o]ussa Ibrahim diesen Radiobericht gehört und zahlt nun mit gleicher Münze heim, wie wir Kinder damals im Sandkasten: „Wer ’s sagt, der isses selber!“

Mein 20.000ster Lebenstag

Thursday, 14. April 2011

Geburtstag feiert man üblicherweise einmal im Jahr, wenn sich das kalendarische Datum der Geburt wiederholt – es sei denn, man gehört zu den traurigen Schaltjahrskindern vom 29. Februar, die sich damit trösten können, erst mit 72 volljährig zu werden.

Ich fragte mich jüngst, wieviele Tage ich eigentlich genau auf dem Buckel habe. Dies zu ermitteln ist nun etwas umständlich, muss man doch erstens wissen, wieviele Tage vom Jahr noch am eigenen Geburtstag übrig blieben und wieviele Tage bis heute vom laufenden Jahr bereits verflossen sind. Sodann muss man die Zahl der dazwischenliegenden Jahre mit 365 malnehmen. Und schließlich gilt es noch, die Schalttage dieser Jahre nicht zu vergessen.

Man kann sich solche Rechnereien erheblich vereinfachen, wenn man einen der zahlreichen Ewigen Kalender im Internet nutzt und mit diesem praktischen Hilfsmittel für alle fraglichen Tage das Julianische Datum ermittelt. Diese Zahl gibt die Anzahl der Tage an, die seit dem 1. Januar 4713 v. Chr. vergangen sind.

Das Julianische Datum von heute ist zum Beispiel 2.455.666 und das Julianische Datum meiner Geburt war 2.435.666 – zwischen beiden Daten gibt es also eine Differenz von exakt 20.000 Tagen. (Natürlich bin ich genau andersherum vorgegangen und habe vor ein paar Monaten errechnet, dass der 20.000ste Tag meines Lebens auf den heutigen 14. April 2011 fällt.)

Bei dieser Gelegenheit wurde mir bewusst, dass jeder Mensch höchstens drei solcher runden Julianischen Geburtstage erleben kann: in seinem 28., im 55. und zuletzt im 83. Lebensjahr. Ob mir letzteres vergönnt sein wird und ich den 30.000sten Tag meines Lebens noch erlebe? Immerhin weiß ich schon, auf welches Datum er fällt, nämlich auf den 30. August 2038, einen Montag. (Wer mir dazu gratulieren möchte, sollte sich dieses Datum schon einmal vormerken.)

Abgrund mit Schleimrand

Friday, 08. April 2011

Die bittere Wahrheit über den Menschen ist unter den Menschen verständlicherweise wenig angesehen. Sie wenden sich ab von den Miesmachern, den Pessimisten, den Zynikern und verbuchen deren ätzendes Genöle unter Misanthropie, also als Krankheit. Dass vielleicht die Menschheit selbst die für den Rest der irdischen Schöpfung schlimmste Krankheit sein könnte, die Errettung dieser Restnatur nur durch die Ausrottung des ,Untiers‘ (Ulrich Horstmann) vielleicht noch möglich – diese naheliegenden Einsichten passen nicht in die Zeit. Haben wir nicht wahrlich schon genug Probleme mit unserer Existenzsicherung, als dass wir uns noch weitere aufhalsen könnten durch die Infragestellung unserer Existenzberechtigung?

Wir optimistischen Misanthropen müssen bescheidener sein: „Wer auch immer, aus Zerstreutheit oder aus Unzulänglichkeit, die Menschheit […] nur ein klein wenig in ihrem Vormarsch aufhält, ist ihr Wohltäter.“ Ein klitzekleinwinzig wenig tut man dies ja schon, wenn man sich selbst bremst, vom Marschschritt ins Schleichen verfällt, gar stehen bleibt und zurückschaut. (Ungefähr das ist es ja, was ich hier probiere.)

Doch ob dies Wenige und immer weniger Werdende genügt? Wohl kaum.

Der Philosoph Emile M. Cioran, den ich soeben zitiert habe und der heute vor hundert Jahren im siebenbürgischen Reschinar nahe Hermannstadt geboren wurde, faszinierte den jungen Mann, der ich 1979 war, durch seinen radical chic am Rande des Abgrunds. Spätestens seit seinem natürlichen Tod am 20. Juni 1995 scheinen mir die gebetsmühlenhaften Insinuationen von Ciorans Selbstmordabsichten entwertet, wie Spiegelfechtereien eines narzisstischen Poseurs.

Immerhin möchte ich seine Bücher in meinen wenigen verbliebenen Regalen (noch) nicht missen; am wenigsten seine Syllogismen der Bitterkeit, denen ich für heute einen weiteren Aphorismus entnehme: „Die Würde der Liebe liegt in der ernüchterten Zuneigung, die einen schleimigen Moment überlebt.“ (A. d. Frz. v. Kurt Leonhard. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1969, S. 54 & S. 89.) – um allerdings hinzuzufügen: … und deren Sinn im gleißenden Augenblick vor diesem Moment.

Selbstprofiling

Friday, 01. April 2011

Der reflektierte Egotrop von heute ist ein aufmerksamer Selbstprofiler. Was tue ich, was lasse ich? So setzt sich ein Autoporträt zusammen, das mal wie ein Scherbenhaufen, mal wie ein Wolkenwürfel anmutet.

Wie sehr ich abweiche, fast außerhalb nicht nur der Norm, sondern des Maßstabs der Normierung stehe, das wird mir immer dann bewusst, wenn wieder einmal der Mann von der Gebühreneinzugszentrale vor der Tür steht. „Sie haben ein Rundfunkgerät angemeldet.“ – „Ganz richtig, ein Gerät zum Empfang von Radioprogrammen. Aber kein Fernsehgerät. Wie ja Ihren Unterlagen da zu entnehmen ist.“ Aus diesen Papieren schaut er nun auf und mich an mit einem mimischen Mix aus Ironie, Trotz und Verbitterung: „Und einen Fernseher haben Sie natürlich keinen!?“ – „Ja und nein.“ Er ist für ein Momentchen irritiert, bis ich das Rätsel löse. „Ich habe tatsächlich kein Fernsehempfangsgerät. Aber nicht ,natürlich‘! Denn dieses Nichthaben ist ja, im heutigen Sinne von ,natürlich‘ als Synonym von ,normal‘, ganz im Gegenteil eher äußerst unnatürlich. Allerdings habe ich einen Personal Computer mit Zugang zum World Wide Web. Aber dessen Nutzung ist, wie Sie wissen, bisher noch durch meine Radiogebühr abgegolten.“ Zerknirscht zieht der freiberufliche Schnüffler von dannen.

Ich habe auch kein Auto, nicht mal eine Fahrerlaubnis. Dennoch bin ich mobil in einem für mein Wohlbefinden erforderlichen Radius, weil ich die öffentlichen Verkehrsmittel als Schwerbehinderter mit Gehbehinderung zum Tarif von fünf Euro monatlich nutzen kann. Fernreisen möchte ich nicht mehr unternehmen. Vielleicht werde ich einmal alle meine Reisen der vergangenen fünfzig Jahre hererzählen, dann wird man verstehen, warum ich diese Scheinabwechslung nicht entbehre. Reisen bildet? Die Reiseberichte, die ich von meinen Mitmenschen gelegentlich zu hören bekomme, zwingen mich ein ums andere Mal zu anderen Schlussfolgerungen. Auch sonst leiste ich mir einen beneidenswerten Luxus, was Unabhängigkeit von Apparaten betrifft. Ein Handy zum Beispiel habe ich schon deshalb nicht, weil meine Aufmerksamkeit beim Flanieren ganz meiner unmittelbaren Umgebung gelten muss und ich beim sinnlichen Genuss dieser Sphäre keine Störung vertrage.

Daheim erreicht mich wer immer will per Festnetz oder E-Mail. Beide Formen des Austauschs sind mir angenehm. Ich vermisse übrigens auch die klassische Korrespondenz auf Briefpapier durchaus nicht, denn ich verfasse meine elektronischen Mitteilungen mit der gleichen, von Jugend auf gewohnten Gründlichkeit. Dies betone ich an die Adresse jener, die mich für einen verschrobenen Romantiker halten. Es geht mir stattdessen immer nur um Zweckmäßigkeit.

Das Internet nutze ich intensiv. Mein Lesezeichen-Menü bei Firefox ist überaus reichhaltig und wohl strukturiert. Diese Navigationshilfe wird kontinuierlich ergänzt und in regelmäßigen Intervallen bereinigt, eine Routine, die für mich längst zum Handwerk des Schreibens gehört wie die Lektüre der Tageszeitung, das Buchlesen, Gespräche mit Vertrauten, Film- und Museumsbesuche, Spaziergänge in der Natur, Nichtstun. Worauf ich wiederum bewusst verzichte, das ist die Teilnahme an sozialen Netzwerke à la Facebook & Co. Das sind nach meiner Beobachtung reine Zeitfresser und Illusionsfabriken für einsame Seelchen. Ich habe nicht nötig, Reklame für mich zu machen. Ich bin, was ich bin, mehr nicht und nicht weniger. Wer mich sucht, wird mich finden.