Archive for the ‘Alltäglichkeiten’ Category

Schreibvoraussetzungen

Tuesday, 09. August 2011

Ich bin seit Wochen gesundheitlich etwas angeschlagen. Das bekommt auch mein Blog zu spüren. Die schöne Regelmäßigkeit eines täglichen Postings, die ich in den Monaten Mai und Juni durchhalten konnte, ist zumindest vorläufig passè. Ich habe gegenwärtig, wie man sagt, ganz andere Sorgen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal bewusst, wie viele Voraussetzungen doch erfüllt sein müssen, damit ich überhaupt erst mit dem Schreiben beginnen kann – von einem Gelingen mal ganz abgesehen!

Mein kleines Arbeitszimmer ist der einzige Ort, an dem ich schreiben kann, jedenfalls auf die nahezu definitiven Ergebnisse hin, die ich hier publiziere. Stichworte, Notizen, Skizzen kann ich handschriftlich überall zu Papier bringen, aber für die Niederschrift meiner Miniatur-Pentaloge muss ich auf diesem Stuhl sitzen, an diesem Tisch, mit Blick auf die kleine Straße. Ich brauche meinen Rechner samt Peripherie, die kleine Handbibliothek aus Notizbüchern und Nachschlagewerken, frische Luft und absolute Ruhe.

Mein Kopf muss frei sein von allen störenden Zwischengedanken. Ist noch Butter im Kühlschrank? Droht ein Telefonanruf? Steht gar ein Besuch vor der Tür? Pures Gift für meine kreative Abgeklärtheit ist ein Streit vor Arbeitsbeginn. Aber auch bevorstehende Ereignisse, wie ein seltenes Zusammentreffen mit einem lange nicht gesehenen Freund oder ein Termin bei einer Behörde, können mich gedanklich so sehr dominieren, dass ich mich nicht mit voller Kraft auf die aktuelle Niederschrift konzentrieren kann.

Zeitdruck ist kontraproduktiv, erhöht nach aller Erfahrung mindestens die Fehlerquote. Blasendruck mach mich nervös und führt mich in Versuchung, die zweitbeste Formulierung zu akzeptieren, weil ich mich erleichtern muss. Bevor ich wieder an der Tastatur sitze, ist mir meist nicht mehr präsent, dass das Provisorium noch auf Ablösung durch ein Optimum wartet. Generell sind falsche Druckverhältnisse abträglich, ob beim Blut- oder Luftdruck. Zu wenig Druck wirkt in aller Regel lähmend, zu hoher blockiert.

Vernichtend ist schließlich für mein Schreibvermögen Schmerz, in all seinen Facetten. Selbst ein leichtes Pochen im Backenzahn, sogar schon ein lästiges Jucken zwischen den Schulterblättern macht mich völlig unfähig, auch nur einen einzigen brauchbaren Satz abzusondern. Analgetika betäuben mit dem Störenfried zugleich auch die Inspiration und das Empfinden für Wohlklang und syntaktische Proportionen. Sorge und Angst verderben mir die gute Laune. Krankheit zwingt mich tief unter mein Niveau.

Nistgewohnheiten von Stadtvögeln

Wednesday, 01. June 2011

Die schmalen Streifen Restnatur, die sich in der Großstadt gegen die Totalherrschaft menschlicher Artefakte so gerade noch behaupten können, verbergen mitunter unerwartete Geheimnisse, Rätsel und Gefahren.

So beobachtete ich heute einen dunklen Vogel mittlerer Größe, der mit einem Sträußlein dünner Zweige im Schnabel in einem Buschwerk verschwand, das über einen Zaun am Rande eines Fußwegs herabquillt. Diesen Ort suche ich nahezu täglich auf, wenn ich mit unserer Hündin Gassi gehe.

Leider bin ich ornithologisch zu wenig bewandert, um mit Gewissheit sagen zu können, um welche Art Vogel es sich handelte. Er hatte etwa die Größe einer Schwarzdrossel, allerdings keinen gelben Schnabel, auch war sein Gefieder nicht tiefschwarz, sondern eher dunkelgraubraun. Und zudem schien er mir etwas schlanker, als Drosseln gewöhnlich sind. Immerhin begriff ich auf den ersten Blick, dass dieser Vogel mit seinem Nestbau beschäftigt war. Und da er aus dem Gebüsch nicht wieder auftauchte, folgerte ich, dass das Nest sich offenbar dort verbarg.

Mein nächster Gedanke war, dass dem zu erwartenden Nachwuchs des Vogels vielleicht Gefahr drohen könnte, wenn sich der Zaunbesitzer einfallen ließe, demnächst besagtes Gebüsch zu stutzen. Sollte ich den Mann, den ich vom Sehen kenne und der mich entfernt an Pettersson erinnert, warnen? Dann fragte ich mich, wie lange eigentlich ein solcher Vogel für den Bau seines Nestes benötigt, wie lange er brütet und wie lange es schließlich dauert, bis die Brut ihr Nest verlässt? Insgesamt drei Wochen? Oder eher drei Monate? Ich stellte wieder einmal fest, dass ich in solchen Dingen nicht die Spur einer Ahnung habe. Warum auch? Für mich hing ja tatsächlich in meinem bisherigen Leben nichts davon ab. Jetzt aber stand im schlimmsten Fall das Leben einiger gerade erst geborener Vögel auf dem Spiel!

Also sah ich bei Wikipedia nach, mangels zuverlässiger Klassifizierung unter Schwarzdrossel. (Dass dieser Vogel mit der Amsel identisch ist, war mir auch noch nicht klar.) Was ich dort über Neststandort und Nestbau dieser Vögel erfuhr, fand ich ausgesprochen interessant, so die Vorliebe für runde Buchstaben und die Abneigung gegen die Farbe Rot. Jetzt weiß ich, dass das Weibchen zwei bis fünf Tage für den Nestbau benötigt, ein bis drei Tage vergehen bis zur Eiablage. Die einzelnen Eier, vier bis fünf an der Zahl, werden im Abstand von 24 Stunden gelegt. Die Brutdauer liegt zwischen 10 und 19 Tagen, im Mittel bei 13 Tagen. Die Nestlinge sind etwa 13 bis 15 Tage nach dem Schlüpfen in der Lage, das Nest zu verlassen. Angenommen, „mein“ Vogel hätte gerade heute erst mit dem Nestbau begonnen, dann müsste ich sicherheitshalber dafür Sorgen, dass diese hängende Hecke sieben Wochen lang nicht beschnitten wird, also frühestens am 20. Juli. Ich werde mit Pettersson reden müssen.

Außerfahrplanmäßig

Monday, 23. May 2011

Ich führerscheinloser Fußkranker bin infolgedessen gewohnheitsmäßiger Vielnutzer von öffentlichen Omnibussen und Straßenbahnen. Wie jede andere Fortbewegungsweise, und wie vielleicht überhaupt alle Handlungsoptionen im Leben hat auch diese ihre Vorzüge und Nachteile. Heute widerfuhr mir ein Ereignis, das mich noch nach Stunden schwanken lässt, ob ich es als Ärgernis oder Glücksmoment werten soll.

Als gebürtigen Rüttenscheider mit Wohnsitz in Rellinghausen zieht es mich zum Einkaufen alle paar Tage an meinen Herkunftsort, den ich wahlweise „untenrum“ mit der Straßenbahnlinie 105 über den Moltkeplatz oder „obenrum“ mit der Buslinie 142 über die Martinstraße erreichen kann. Letztere Variante bevorzuge ich, weil sie zeitsparender ist und durchs Grüne führt. Zudem fährt der Bus fast vor unserer Haustür ab, während ich zur Tramhaltestelle fünf Minuten laufen muss. Heute hatte ich meine paar Einkäufe auf der Rü schnell erledigt und stand frühzeitig an der Bushaltestelle Martinstraße, von der außer dem 142er auch der 160er in Richtung Stoppenberg abfährt. Hier wurde vor einem knappen Jahr versuchsweise eine digitale Anzeigetafel montiert, auf der die aktuellen Abfahrtzeiten der jeweils nächsten Busse abzulesen sind. Diese Zeiten kann der Fahrgast zwar auch den an allen Haltestellen aushängenden Plänen entnehmen, aber vermutlich soll diese elektronische Anzeige es ermöglichen, auch über gelegentliche Verspätungen zu informieren. Heute wurde ich nun Zeuge, wie zwei Elektriker unter der Anzeigetafel eine Leiter aufklappten, hinaufstiegen, einen Kasten öffneten und sich an den labyrinthischen Verdrahtungen mit Schraubendrehern zu schaffen machten. Ihren großen Werkstattwagen hatten sie auf der Bushaltespur geparkt, sodass diese nicht mehr in voller länge frei war. Nun näherte sich „mein“ 142er und hielt in einigem Abstand hinter dem Werkstattwagen, was mir sofort plausibel war, denn um an der Kreuzing plangemäß rechts abbiegen zu können, musste der 142er sich noch einigen Spielraum zum Manövrieren lassen. Ich stieg ein und setzte mich gleich auf den ersten Platz rechts neben dem Fahrer, da der von mir sonst bevorzugte Platz links, direkt hinter dem Fahrer, von einer Dame mittleren Alters besetzt war. Nachdem offenbar alle wartenden Fahrgäste eingestiegen waren, lenkte der Fahrer sein Gefährt an dem parkenden Werkstattwagen links vorbei auf die rechte der beiden „normalen“ Fahrspuren. Die Ampel stand noch auf Rot, musste aber gleich auf Grün schalten. – Nun ereignete sich etwas Ungewöhnliches.

Von hinten aus dem Bus machte sich lautstark ein junger Mann bemerkbar, der den Busfahrer aufforderte, gefälligst noch zu warten. Hinter uns nähere sich der 160er, vielleicht wollten ja Fahrgäste aus diesem Bus in „unseren“ 142er umsteigen? Und außerdem sei der Fahrer sowieso wieder mal anderthalb Minuten zu früh abgefahren. – Ganz abgesehen davon, dass es jetzt definitiv zu spät war, um die Forderungen des Mannes im Hintergrund zu erfüllen, selbst wenn sie berechtigt gewesen wären, machte nun der Busfahrer seinerseits mit vollem Recht darauf aufmerksam, dass es wegen des außerplanmäßig parkenden Werkstattwagens für den 160er gar nicht möglich gewesen wäre, in die Bushaltespur einzufahren, solange sie noch von unserem 142er besetzt war. Und übrigens sei er auch nicht 90 Sekunden zu früh, sondern bloß 30 Sekunden zu früh abgefahren. Der Fahrgast möge sich also mäßigen und im übrigen das Busfahren ihm, dem Busfahrer überlassen. Seine Argumente trug der Fahrer in wohltuendem Unterschied zu dem Beschwerdeführer sehr sachlich vor. Dieser musste nun allerdings erst recht auf seinem Standpunkt beharren und stimmte ein langes Lamento darüber an, wie ärgerlich es doch immer wieder sei, dass Busse und Bahnen sich nicht an die Fahrpläne hielten, die Fahrer offenbar gar nicht schnell genug nach Hause kommen könnten, es insofern ja kein Wunder wäre, dass die öffentlichen Verkehrsmittel einen so schlechten Ruf hätten – und überhaupt gehe die Uhr des Fahrers wohl eine Minute vor! Dem Gemurmel, das sich seitens einiger älterer Leute rings um diesen Querulanten erhob, war eine verhaltene Zustimmung zu entnehmen, aber von der feigen Sorte, die sich nicht wirklich Farbe zu bekennen traut, sondern ganz schnell wieder verstummt, wenn eine gegenteilige Meinung sich noch lauter und respektgebietender vernehmen lässt. Der Fahrer hatte übrigens offenbar beschlossen, dem Krakeeler kein Paroli mehr zu bieten und sich auf den Verkehr zu konzentrieren, was von großer Besonnenheit zeugte und mich vollends auf seine Seite brachte. – Da geschah die zweite Überraschung!

Völlig unvermittelt, aus dem sprichwörtlichen heiteren Himmel erhob die Dame mittleren Alters links neben mir ihre Stimme und trug nun mit flammender Leidenschaft ihr Anliegen und ihre Sicht der Dinge vor: „Jetzt reicht es! Bevor sie hier den Fahrer weiter belästigen, sollten Sie sich vielleicht zunächst einmal die Beförderungsbedingungen durchlesen. Dort heißt es nämlich, dass Fahrgäste zwei Minuten vor dem fahrplanmäßigen Abfahrttermin an den Haltestellen eintreffen sollen, da es nicht in allen Verkehrssituationen gewährleistet werden kann, dass die Fahrzeuge bis zur letzten Sekunde mit der Abfahrt warten. Ich bin selbst seit 18 Jahren mit einem Busfahrer verheiratet, der nach mancher Schicht nach Hause kommt und mit den Nerven völlig am Ende ist, wegen solch unverschämter Fahrgäste wie Sie einer sind! Ich bin mir sicher, dass ein einziger Tag hinter dem Steuer eines Busses oder einer Straßenbahn ausreichen würde, um Sie nie wieder auf den Gedanken kommen zu lassen, solch ein unbegründetes Urteil über die Tauglichkeit und Redlichkeit dieser Fahrer zu fällen, wie Sie es hier getan haben.“ Punktum.

Der Querulant murmelte noch bis zur nächsten Haltestelle vor sich hin, es sei ja klar, dass die Frau von solch einem Fahrer keine objektive Meinung haben könne, befangen wie sie sei. Er bleibe bei seinem Standpunkt. Dann stieg er aus. Die opportunistischen Claqueure aber hatten sich schon vorher geräuschlos in Luft aufgelöst.

Wieso ich?

Tuesday, 14. December 2010

condensdissenz

Immer mal wieder erreichen mich über meine Adresse info[at]revierflaneur[dot]de E-Mail-Angebote einer vermeintlich lukrativen Zusammenarbeit. Meist sind mir diese Offerten nicht einmal eine Antwort wert. Heute aber konnte ich es nicht lassen, wenigstens öffentlich zu replizieren. – Hier zunächst der Anlass meiner Irritation, das Angebot der Unister GmbH in Leipzig:

„Hallo Herr H., auf der Suche nach relevanten Partnern zum Thema Reisen, Urlaub o. ä. bin ich auf Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite revierflaneur.de gestoßen. – Unser Unternehmen betreibt das Portal ab-in-den-urlaub.de und wir entwickeln derzeit das Affiliate-Partnerprogramm Content4Partners. Über dieses Programm (WordPress-Plugin) haben Sie die Möglichkeit, Beschreibungen zu Städten und Hotels in von Ihnen gewählten Regionen, beispielsweise Hotels Afrika oder Hotels Ghana auf Ihrer Seite einzubinden. Das Layout der generierten Seiten wird automatisch an das Aussehen Ihrer Website angepasst. – Das Plugin liefert Ihnen suchmaschinenfreundliche Inhalte und dadurch erhöhte Zugriffszahlen. Des Weiteren ermöglicht es Ihnen, Provisionszahlungen für Reisebuchungen über Ihre Website zu generieren und ist somit eine sehr gute monetäre Ergänzung zu den bisherigen Inhalten auf Ihrer Website. – Die Einbindung des Plugins (Programm) erfolgt über eine einfache One-Klick-Installation. – Momentan befindet sich Content4Partners in der späten Beta-Phase. Dafür suchen wir nach interessierten Partnern, die Content4Partners testen würden. – Aus diesem Grund möchten wir Sie herzlich dazu einladen, sich kostenlos und unverbindlich für die Beta-Phase von Content4Partners anzumelden. – Wenn Sie sich das Plugin innerhalb der nächsten 2 Wochen auf Ihrem WordPress Blog installieren, aktivieren und mindestens einen Monat testen, dann bekommen Sie eine einmalige Aufwandsentschädigung von 40 € brutto. – Für weitere Informationen hänge ich Ihnen eine Präsentation an und stehe Ihnen natürlich sehr gern für Rückfragen zur Verfügung. – Wir freuen uns auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit! – Freundliche Grüße, Frank Z. Projektmanager“

Reflexartig frage ich mich bei solchen Gelegenheiten immer: Wie, um alles in der Welt, kommen die bloß ausgerechnet auf mich? Diesmal lag die Antwort realtiv nahe, denn offenbar ist Herr Z. oder einer seiner Zuarbeiter beim Googeln nach den Top-Destinationen dieses Online-Reisebüros auf dem Weg über das Suchwort Ghana Hals über Kopf in mein Weblog hineingestolpert. Das Kompliment gleich eingangs – „Ihre interessante und optisch sehr ansprechende Webseite“ – verfehlte leider seinen Zweck, ist es doch völlig unglaubwürdig. Denn um mein Blog interessant zu finden, muss man erstens schon reichlich schräg drauf sein; und wer dessen Gestaltung ansprechend findet, hat vermutlich zweitens noch das falsche Kräutlein geraucht! Aber Scherz beiseite: Wenn eines gewiss ist, dann dass der Projektmanager und seine Leute maximal fünf Minuten auf die Absendung dieser Akquise-Mail an mich verwendet haben, davon allenfalls 90 Sekunden aufs Anschauen meines Weblogs.

Gelesen haben sie jedenfalls nicht darin. Nicht einmal den einzigen der mittlerweile über 700 Beiträge, der sie vielleicht hätte interessieren können, haben sie zur Kenntnis genommen: das Impressum. Denn sonst hätten sie dort gleich eingangs gelesen: „Die Website revierflaneur.de ist ein rein privates Weblog zur Information, Meinungsbildung und Unterhaltung seiner Leser. Kommerzielle Zwecke werden mit diesem kostenlosen Angebot nicht verfolgt. Werbung wird nicht geschaltet.“

Wirklich absurd ist dieses Anerbieten aber insofern, weil der Revierflaneur ein strikter Gegner des Massentourismus ist, schon seit vielen Jahren keine Erholungs- oder Vergnügungsreisen mehr unternimmt, erst recht das Verreisen per Flugzeug als einen völlig inakzeptablen Anschlag auf die Überlebenschancen künftiger Generationen ablehnt und sich deshalb niemals und für kein Geld der Welt dazu hergeben würde, diesen selbstmörderischen Luxus zu bewerben oder solche Werbung zu unterstützen.

Was’n das?

Thursday, 25. February 2010

offerten

Ich bin noch ganz verdattert. Was ist passiert? Seit nahezu zwei Jahren blogge ich jetzt hier still und heimlich vor mich hin und habe mich längst daran gewöhnt, dass meine Anklagen, Stimmungsbilder, Strafpredigten, Jammerarien und Lobeshymnen kaum einmal Resonanz finden; und wenn, dann kommt sie von ein paar versprengten Sympathisanten, die mir noch aus der Zeit meiner Westropolis-Hospitanz verbunden sind und mich gelegentlich aufmuntern zu müssen meinen.

Und jetzt das! Auf eine eher beiläufig hererzählte Episode aus meinem destabilisierten Alltag hin geht unvermittelt ein warmer Regen durchweg freundlicher Kommentare nieder, von Hansi, Hoshi, amo, saba, Mata, Ole, Paco, ch, Horst, JanDob, Julian, Brandbarth, Gerd, Leo, jules nut, Bernd das Brot, Oliver, docmed, mailo, Brent und Andi – lauter Menschen, die sich hier bisher noch nie haben vernehmen lassen. (Oder doch höchstens ganz selten einmal.)

Was hat das kleine Geschichtchen bloß an sich, dass es plötzlich einen solchen Applaus auslöst und seine Leser gar – das Wort ist nicht von mir – zu einer gründlichen Exegese veranlasst? Zu Pfennigfuchsereien garadezu? Oder gibt es vielleicht in der Blogosphäre irgendwelche Multiplikations-Mechanismen, die eine Flüsterpropaganda nach dem Schneeballprinzip in Gang setzen? Der Vorgang ist mir jedenfalls einigermaßen unheimlich.

Schon ertappe ich mich bei dem offenbar von schierer Eitelkeit erkitzelten Einfall, hier künftig in schöner Regelmäßigkeit ähnliche Alltäglichkeiten unter die Lupe zu nehmen, wie etwa: Was mir unlängst vor den Altglascontainern widerfuhr; Traurige Beobachtungen am Rande des diesjährigen Karnevalszugs; Wie mich die Zeuginnen Jehovas zum allerletzten Mal besuchten; „Würden Sie vielleicht eine Obdachlosenzeitung erstehen, der Herr?“; Stammgäste bei Starbucks usw. Aus dem Stegreif würden mir wohl zwei Dutzend ähnlich ergiebige Geschichtchen einfallen.

Aber will ich das? Ich weiß nicht so recht. Erfolg war mir immer schon verdächtig. Komplimente korrumpieren ja leicht. Immerhin mag ein wenig Zuspruch alle paar Jahre vielleicht noch hingehen. Und wenn er überhandnimmt, ist es mir bekanntlich ein Leichtes, die Gäste schleunigst wieder aus dem Haus zu ekeln. Vielleicht darf ich das Experiment wagen. Die neue Kategorie soll also Alltäglichkeiten heißen.

Wer ist dran?

Tuesday, 23. February 2010

marktstaende

Gestern Vormittag vorm Backwarenstand. Ich stehe links, in der Mitte eine ältere Dame, die sich gerade eine sehr spezielle Auswahl von Teilchen zusammenstellen lässt. Ich spüre, dass ich ungeduldig werde, nicht weil ich in Eile bin, sondern einfach vom Zuhören: „Und dann bitte noch zwei Quarktaschen. Oder nein, geben sie mir doch besser drei! Aber nicht die zerdrückte, lieber die links daneben. Nein, von mir aus gesehen links.“ Und so weiter in der Manier einer einsamen Frau, die für den Rest des jungen Tages keinen Gesprächspartner mehr findet. Dass die Backwaren seit heute vor dem Supermarkt verkauft werden, hat seinen Grund offensichtlich darin, dass der Verkaufsstand im Geschäft komplett neu aufgestellt wird. Handwerker tragen die Einzelteile des alten Standes hinaus und werfen sie krachend in einen Container. Im Hintergrund schrillt eine Säge. Zudem liegt ein feiner Nieselregen in der Luft. Jede dieser kleinen Unannehmlichkeiten ist, für sich genommen, gewiss keine Katastrophe, alle zusammen aber lassen es nicht unbedingt als wünschenswert erscheinen, vor diesem Backwarenstand Wurzeln zu schlagen. „Momentchen,“ höre ich die ältere Dame sagen, „das müsste ich passend haben.“ Dann lässt sie mit ungelenken Fingern neun Euro und 78 Cent auf den Zahlteller klappern, gestückelt in 19 einzelne Münzen. Ein Zwei-Cent-Stück fällt zu Boden, ich bin ganz Kavalier und klaube es aus dem Matsch. Misstrauisch nimmt sie es entgegen, als hätte sie befürchtet, ich könnte mich damit aus dem Staub machen. Gleichzeitig höre ich die Brotverkäuferin sagen: „Es sind aber Neuneuroneunundsiebzig! Hätten Sie vielleicht noch einen Cent für mich?“ Sofort greife ich nach meiner Geldbörse, damit dieses grausame Spiel endlich ein Ende hat. Aber ich muss feststellen, dass sich in meinem Münzfach nur ein einziges Zwei-Euro-Stück befindet. Auch die ältere Dame hat bei der Suche in ihrem Portemonnaie und in den Taschen ihres Mantels offenbar keinen Erfolg. Da kommt ihr ein älterer Herr zu Hilfe, den ich jetzt erst bemerke. Er hatte wohl zuvor auf der, von uns aus gesehen, rechten Seite des Backwarenstandes gewartet. „Sie erlauben, dass ich ihnen diesen Glückscent zum Geschenk mache?“

Die überschwängliche Begeisterung, mit der die ältere Dame dieses Präsent von ihrem Altersgefährten entgegennahm, gab mir einen kleinen Stich. Zugleich beschäftigte mich die Frage, ob dieser spendable Kavalier bereits um Backwaren angestanden hatte, als ich hinzukam; oder ob er erst nach mir an der Reihe war. Möglicherweise hatte die zwischen uns stehende Teilchenkäuferin mir den Blick auf ihn verstellt. Vor dieser provisorischen Verkaufsstelle hatte sich in der Kürze der Zeit noch keine Gewohnheitsregel etablieren können, ob sich die Warteschlange nun nach rechts oder links zu bilden hätte. Ich kam aus Richtung der Bushaltestelle und stand darum links. Dass der ältere Herr hingegen rechts stand, konnte vielleicht darauf hindeuten, dass er mit dem Auto unterwegs war, denn rechts vom Standort, eben von diesem soeben erst aufgebauten Backwarenstand, befindet sich der Parkplatz des Supermarkts, der ungefähr die gleiche Fläche in Anspruch nimmt wie der Supermarkt selbst.

Bevor ich diese Erwägungen zu einem für mich eindeutigen Ergebnis hätte führen können, hatte die Backwarenverkäuferin gegen mich entschieden, indem sie sich dem älteren Herrn zuwandte: „Und was darf’s denn für Sie sein?“

Bevor er antwortete, schaute er kurz zu mir herüber, wie mir schien aber nicht mit einem fragenden, sondern eher mit einem triumphierenden Blick. Es war einer dieser Augenblicke, in denen eine kleine Ewigkeit Platz findet und die sich uns einbrennen, als läge in ihnen eine Weisheit verborgen, die weit über die in Sekunden oder in Jahren messbare Zeit hinausreicht. Er sah mich nicht so an, als wollte er sich vergewissern, ob er wirklich vor mir an der Reihe sei; und noch nicht einmal so, als wollte er prüfen, ob ich mich mit diesem Verlauf der Ereignisse abfinden würde, obwohl ich vielleicht davon ausginge, dass die Reihe eigentlich an mir sei. Er schaute vielmehr drein, als wollte er sagen: ,Pass mal auf, Du Trottel. Ich weiß zwar besser als Du selbst, dass ich nach Dir gekommen bin. Aber Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich die Gunst des Augenblicks verstreichen lasse, in dem mich die Verkäuferin zuerst angesprochen hat.‘ Und ehe ich mich’s versah, hatte er schon das Wort ergriffen. „Ich hätte gern … ich wollte eigentlich … aber ich hörte ja gerade … dass ihre Brotschneide-Maschine ja leider … wegen dem Umbau, tja … sehr ärgerlich.“ An Stelle der drei Pünktchen muss man sich jeweils eine so lange Pause vorstellen, wie man in einer solchen Situation eben noch für möglich hält. Offenbar litt die Backwarenverkäuferin genauso wie ich, denn nachdem sie kurz „Jasoisses“ gesagt hatte und darauf seitens des älteren Herrn erst einmal gar nichts mehr kam, wandte sie sich sichtbar erleichtert mir zu: „Und bei Ihnen?“ Wie aus der Pistole geschossen stieß ich hervor: „Nur drei Brötchen. Ich hab’s auch passend.“ Und sie steckte meine drei Brötchen schon in die Tüte, als der ältere Herr, ich ahnte es ja, seiner Entrüstung Ausdruck verlieh: „Das glaube ich jetzt nicht! Wieso sind Sie denn jetzt dran. Ich war doch noch längst nicht fertig.“ – „Und deshalb sind ja auch schon wieder dran. Ich wusste, was ich wollte und hab’s auch schon.“ Hier schwenkte ich mit der Linken die Brötchentüte und legte mit der Rechten abgezählte 81 Cent auf den Teller. Und nach einem verständnisinnigen Blickwechsel mit der Verkäuferin fügte ich hinzu: „Ich dachte, wir nutzen die Zeit, bis sie mit Ihren Überlegungen zu Rande gekommen sind.“ – „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Meinen Sie etwa, weil ich auf meine alten Tage nicht mehr ganz so schnell bin, können Sie sich hier alles erlauben? Entschuldigung, dass ich noch lebe!“ – „Aber keine Ursache. Das stört mich nur mäßig.“ Und weg war ich.

Bin ich nun hiermit zu weit gegangen? Hätte ich dem Motto folgen sollen, das da heißt: Der Klügere gibt nach? Hätte ich bis zum fernen Ende weiter mit Engelsgeduld die schikanöse Slowmotion-Darbietung dieses offenbar unter Langeweile leidenden Rentners auf der Suche nach Streit ertragen müssen? Nun weiß ich nicht, was Dr. Dr. Rainer Erlinger im SZ-Magazin auf diese Gewissensfrage antworten würde. Ich werde ihn allerdings auch nicht fragen. Ich bin nämlich nach diesem kleinen Zwischenfall völlig im Reinen mit meinem Gewissen. So einer bin ich!