Vorlesenachlese

polgarsoiree

Das war’s also wieder einmal, der Polgar-Abend liegt hinter mir. Immerhin ertrugen die 18 Gäste ohne zu murren eine gleiche Zahl von Texten, drei Stunden reine Vorlesezeit. Keiner brach vorzeitig auf. Die Erheiterung war gelegentlich überbordend, wie man wohl sagt. An einigen Stellen, an denen ich Lacher erwartet hatte, kamen sie nicht – weil Polgars Humor oft so fein ist, so listenreich versteckt in seinen mit harter Punze ziselierten Sprachkunstwerklein, dass er beim notwendig flüchtigeren Zuhören, im Unterschied zum gemächlicheren Selbstlesen, dann und wann bei aller Liebe und Mühe des Vorlesers unbemerkt auf der Strecke bleiben muss.

Der Meister selbst war skeptisch, ob seine Prosa zum Vortrag tauglich sei. In einem Bericht über sein Debut als Vorleser eigener Texte zitiert er eine kleine „Stegreifrede“, die er zu diesem Anlass gehalten hat: „Ich lese heute zum erstenmal öffentlich, lege vor Ihnen meine Jungfernschaft als Vorleser ab. Obwohl mir die gute Mutter alles gesagt hat, was da bevorsteht und daß es ganz ohne Schmerzen nicht abgehe, bin ich doch ein wenig unsicher. Erstens, weil ich nicht weiß, ob, was ich schreibe, überhaupt zum Vorlesen taugt – das Beste liegt in der Luft zwischen den Zeilen, und wenn es nicht gelingt, diese Luft mitschwingen zu machen, bekommen Sie gewissermaßen nur die schlechtere Hälfte des Textes zu hören – und zweitens, weil ich nicht weiß, ob ich für mein Geschriebenes der richtige Sprecher bin, ob ich ihm als Vorleser vielleicht eher schade als helfe oder am Ende keines von beiden, und dann die komische Figur eines Reiters mache, der neben seinem Pferdchen herläuft.“ (Alfred Polgar: Vorleser; zuerst in Berliner Tageblatt v. 26. April 1928; hier zit. nach Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1984, S. 380.)

Diese Bedenken musste ich als Routinier beim Vorlesen nicht haben – eher schon Sorge tragen, dass mir mein Gaul unterwegs durchgehen würde, den ich in wochenlanger Arbeit für diesen weiten Ausritt präpariert hatte: gehätschelt, gefüttert, gestriegelt und gesattelt. Wenn das gelegentlich auf abschüssigem Gelände doch einmal geschah, dann gelang mir immerhin, bei aller Bescheidenheit sei’s gesagt, ihn mit ein paar sanften Ermahnungen wieder auf den goldenen Mittelweg zurückzubringen.

Nachher, wie üblich, fiel mir all das ein, was ich zu Polgar, seinen Lebens- und Schaffensumständen, seiner tragischen Verkanntheit und einsamen Größe noch hätte sagen müssen. Bis vier Uhr in der Frühe wälzte ich mich in den Federn und suchte vergeblich nach Entschuldigungen für diese unentschuldbaren Unterlassungssünden – während meine Gäste derweil längst, hoffentlich beseligt, in Morpheus’ Armen ruhten.

Schließlich schlief ich dann doch irgendwann ein. Das geschah vermutlich, als mir jener aus dem Pausengeplaudere der Zuhörer aufgeschnappte Kommentar durch den Sinn ging, dieser Polgar sei wohl in seiner Zeit gewesen, was etwa ein Dieter Nuhr für heute ist. Polgar beschließt seinen erwähnten Aufsatz mit den Worten: „Es wäre mir peinlich, wenn Sie von diesem Abend sagten: ,Heute war ich zweimal bei einer Vorlesung des P.: zum ersten- und zum letztenmal.‘“ Auch mir wäre dies peinlich – aber nur dann, wenn ich Talent zum „Fremdschämen“ hätte.

[Photographie: David Porsch.]

6 Responses to “Vorlesenachlese”

  1. Eva und Eva Says:

    Lieber Manuel,

    “Man sollte Polgar lesen, weil er Vergnügen macht und gescheit ist.” (Elke Heidenreich)

    Wie recht sie hat. Während wir durch Dich in der letzten Soiree einen Menschen ausschnittweise kennengelernt haben (Andre Müller), der seine ganze Intelligenz offensichtlich einsetzt, um anderen (Alice Schwarzer) die gute Laune zu verderben, sind wir in Polgar jemandem begegnet, der hochintelligent scharf schaut und den Menschen trotzdem Mensch sein lässt. Das ist tatsächlich im hohen Maße unterhaltsam, weil es niemals destruktiv ist. Insofern konnte die erneute Vorstellung die vorhergehende tatsächlich toppen.

    Leider sind Dein Händchen, das Richtige zu finden, und Deine Vortragskunst nicht mehr zu toppen. 🙂
    Für uns ist es Luxus pur, das von Dir Zusammengestellte ungefiltert aufnehmen zu dürfen.

    In der Vorfreude auf eine baldige neue Einladung

    grüßen ganz herzlich
    Eva & Eva

  2. BiKe Says:

    Lieber Revierflaneur,

    ich kann den beiden Evas nur zustimmen, es war ein Vergnügen und ich werde auf jeden Fall meine kleine Handbibliothek um einige Polgar-Bände erweitern. Mich hat erstaunt, wie zeitlos viele Beobachtungen und Beschreibungen familiärer und sozialer Umstände doch sind. (Der arme Onkel Philipp!) Ich hätte bei einigen Texten nicht spontan darauf getippt, dass sie aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen!

    Und wenn ich mir einen Hund zulegen würde, dann würde es ab jetzt ein “Rattler” sein, den ich “Toddy” nennen würde. (Das Pilzgericht meiner Mutter habe ich am Wochenende aber trotzdem verschmäht!) Also, viel gelernt und Neues entdeckt und dafür wie immer lieben Dank!

  3. BiKe Says:

    Lieber Revierflaneur,

    ich kann den beiden Evas nur zustimmen, es war ein Vergnügen und ich werde auf jeden Fall meine kleine Handbibliothek um Alfred Polgar erweitern. Erstaunlich, wie zeitlos viele Beobachtungen und Beschreibungen doch waren. Einige Texte hätten durchaus auch aus der Gegenwart stammen können und wirkten gar nicht so, wie man sich allgemein Texte aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vorstellen würde.

    Besonders Onkel Philipp ist mir ans Herz gewachsen. Und wenn ich mir einen Hund zulegen würde, dann würde es jetzt ein “Rattler” sein, den ich “Toddy” nennen würde. (Das Pilzgericht meiner Mutter habe ich am Wochenende aber trotzdem verschmäht!) Also, wieder was gelernt und Neues entdeckt und dafür wie immer lieben Dank!

  4. Revierflaneur Says:

    Liebe BiKe,

    offenbar warst Du verdutzt, weil Dein erster Kommentar nicht gleich im Weblog erschien – und hast ihn darum noch mal “aus dem Kopf” verfasst. Das fand ich so rührend (und die kleinen Abweichungen so interessant), dass ich auch No. 2 freigeschaltet habe. Die Erklärung: Wer zum ersten Mal hier kommentiert, muss erst eine Art Ritterschlag von mir verpasst bekommen, um dann freie Zutrittsrechte zu haben. Das kann man übrigens auch im Impressum unter “Kommentare” nachlesen.

    Dein Revierflaneur

  5. David Porsch Says:

    Hallo Manuel, und all die anderen Mitleser,

    da ich ca. zwei Wochen meinen Urlaub an der Atlantikküste genossen habe und gestern erst mit einer Mitfahrgelegenheit die 1.200 Kilometer Rückfahrt bewältigen konnte, folgt mein Kommentar erst sehr spät.

    Ich habe mich sehr an deiner CIII. Soiree ergötzt. Leider war es erst meine II. Literarische Soiree, in deren Genuss du mich hast kommen lassen.

    Ich freue mich schon sehr auf deine nächste Literarische Soiree und hoffe, dass ich ein weiteres Mal eingeladen bin.

    SG David

    PS: Da der Valentin auch das ein oder andere Bild gemacht hat, könnte es doch sicherlich auch von ihm sein?! Oder war ich es erst, der den Blitz ausgemacht hat?

  6. Revierflaneur Says:

    Zum PS: Genau, Valentin hat ausschließlich eiskalte Blitzbilder geschossen. Die Ehre dieses warmen Wackelbildes gebührt allein Dir.

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