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Interview mit einer Überlebenden

Tuesday, 05. July 2011

Seit etwa einem Jahr denke ich gelegentlich immer mal wieder über ein SciFi-Buch nach, das in der Form eines Interviews einen Blick aus ferner Zukunft auf die Geschichte der Menschheit auf diesem Planeten wirft. Wie ich die Menschheit kenne und wie mich der Leser dieses Blogs inzwischen kennen müsste, wird diese Geschichte auf eine bitterböse Dystopie hinauslaufen. Seit ein paar Wochen mache ich mir erste Notizen zu diesem Buch. Hier teile ich zunächst den Grundgedanken mit. Ich gehe übrigens davon aus, dass es ähnliche Geschichten in der unüberschaubaren Vielfalt des SciFi-Genres längst schon gibt, was mich aber nicht daran hindern soll, dieses Sujet zu meiner ganz persönlichen Ausgestaltung der künftigen Apokalypse zu nutzen.

Mein Interviewer könnte ein intelligenter Besucher aus einer fernen Galaxie sein, eine Art rasender Reporter im interstellaren Raum. Er sammelt für seinen Heimatplaneten Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten intelligenter Zivilisationen aus dem ganzen All, wobei er an letzteren besonders interessiert ist. Seine Auftraggeber daheim, die ihn auf diese lange Reise geschickt haben, erhoffen sich nämlich von Auskünften über die diversen Apokalypsen, die sich in den Weiten des Weltraum in den vergangenen Jahrmilliarden ereignet haben, wertvolle Aufschlüsse zur Bewahrung ihrer eigenen Spezies. Allerdings sind solche Katastrophenberichte sehr selten, da der Untergang der meisten Zivilisationen so gründlich vonstattenging, dass nichts und niemand mehr zu dessen Ursachen befragt werden kann.

So traurig auch das Schicksal der Späthominiden auf Terra gewesen sein mag, haben sich auf diesem blauen Planeten doch immerhin ein paar hunderttausend Exemplare bis ins 14. Jahrtausend nach der lokalen Zeitrechnung hinübergerettet. Größtenteils vegetieren sie noch immer von der „Resteverwertung“ der versunkenen Großreiche. Bei seiner ersten Begegnung mit Überlebenden zweifelte der Interviewer, ob überhaupt eine Verständigung mit ihnen möglich sein würde. Immerhin deutete die geschickte Verwendung verschiedener Jagdwerkzeuge darauf hin, dass wenigstens die klügsten unter ihnen vielleicht über eine ausreichend differenzierte Mitteilungsform verfügen mochten, um Auskünfte über die Vergangenheit ihres Stammes geben zu können. Allerdings beschränkten sich die akustischen Lebensäußerungen der meisten Exemplare auf starke Gefühlsregungen, wie Schreien, Weinen, Jammern, Zetern und Kichern.

Dann begegnete der Interviewer einem Exemplar, das sich sowohl durch seine kraftvolle körperliche Erscheinung als auch durch ein feines Lächeln wohltuend von seinen Stammesgenossen abhob. Dass die Wesen auf diesem Planeten in zwei Hauptgruppen in Erscheinung traten, war augenfällig, denn sie waren unbekleidet und ihre diesbezüglichen Unterscheidungsmerkmale leicht erkennbar. Später erfuhr der Interviewer, dass es sich bei seinem Gesprächspartner der folgenden Wochen um ein weibliches, d. h. gebärfähiges Exemplar handelte.

Doris, wie es sich nannte, erwies sich als ein ausgesprochener Glücksgriff für unseren Reporter. Sie war nämlich die letzte ihrer Art, die noch in der Lage war, die zahllosen Informationskonserven auf dem Planeten, die den Weltenbrand unversehrt überstanden hatten, zu dechiffrieren. Und so konnte sie ihrem Gesprächspartner eine Fülle unschätzbar wertvoller Auskünfte darüber geben, wie es in knapp zehntausend Jahren zum rasanten Aufstieg und schließlich zum abrupten Untergang der Zivilisation ihrer Ahnen gekommen war.

Zwiegespräche mit Schriftwerkern

Friday, 17. June 2011

Als ich vor drei Wochen mit großem Vergnügen die Schriftsteller-Interviews aus der Paris Review in der soeben erschienenen deutschen Übersetzung las, da fragte ich mich, warum es in Deutschland kein ähnlich ambitioniertes Unternehmen gab und gibt: Autoren nicht nur en passant zu befragen, wie es regelmäßig in unseren Zeitungs-Feuilletons geschieht, meist anlässlich des Erscheinens eines neuen Buches; sondern grundsätzlicher, zu ihrer Arbeitsweise, ihren Schreibtechniken, ihren innersten Anliegen, ihren Vorbildern und so weiter. Als einziges ungefähr dem amerikanischen Vorbild angenähertes deutsches Beispiel fielen mir spontan die Werkstattgespräche mit Schriftstellern ein, die Horst Bienek Anfang der 1960er-Jahre mit 15 zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftstellern geführt hat (München: Carl Hanser Verlag, 1962).

Dieses Buch war für mich eine wichtige Orienierungshilfe, als ich mir als lesehungriger 15-Jähriger einen Überblick über die damals modernen Autoren verschaffen wollte. Das Wörtchen „modern“ bezeichnete für mich die conditio sine qua non bei der Auswahl meines Lesestoffs in der Stadtbibliothek. Aus einem naiven Vorurteil heraus lehnte ich alle ältere Literatur ab. Ich war überzeugt, dass mir nur lebende Autoren etwas über die gegenwärtige Welt würden sagen können, am besten noch junge lebende Autoren. Warum sollte für Bücher nicht gelten, was doch auch für alle anderen Industrieprodukte galt? (Dass nämlich nur das jeweils Neueste, Modernste für den Zeitgenossen das Beste und Brauchbarste sein konnte.)

Es überforderte mich allerdings, Romane von allen 15 Autoren zu lesen, die Bienek interviewt hatte. Darum nahm ich einige in die engere Wahl, die mir den Gesprächen nach zu urteilen am meisten zusagten. Wenn ich mich recht erinnere, gefielen mir Alfred Andersch und Martin Walser besonders gut, während mir Robert Neumann, Hermann Kesten und Friedrich Sieburg vorkamen, als gehörten sie eigentlich schon nicht mehr in die Gegenwart. Zu unmodern! Ich kann nicht einmal verhehlen, dass ich mich auch von den Porträtfotos beeinflussen ließ, die dem Band beigegeben sind. In diesem Alter ist es wohl verzeihlich, dass man noch sehr auf Äußerlichkeiten achtet. Von Walser lieh ich ein Buch aus – um es schon nach ein paar Seiten wieder aus der Hand zu legen. Was war das denn? Als ich auch im zweiten Anlauf überhaupt nicht mit diesem sonderbaren Büchlein zurechtkam, entdeckte ich, dass ich irrtümlich Prosatexte eines Robert Walser gegriffen hatte, der ja schon längst tot war! Angewidert brachte ich das Bändchen aus der Bibliothek Suhrkamp zurück und entlieh stattdessen Ehen in Philippsburg vom „richtigen“ Walser, ohne indes damit wesentlich mehr anfangen zu können.

Heute nahm ich Bieneks Buch, das ich mir vor ein paar Jahren antiquarisch beschafft hatte, wieder einmal zur Hand. Und was erfahren wir gleich zu Beginn des Vorworts über den „Anlaß“, der den Herausgeber zu seinem Vorhaben angeregt hatte? „Vor Jahren las ich in der amerikanischen Zeitschrift Paris Review ein Interview mit William Faulkner; ein junger Autor, Jean Stein, hatte den amerikanischen Romancier besucht und mit ihm über ,Werkstattprobleme‘ eines Schriftstellers gesprochen. Die Antworten Faulkners haben mir ein tieferes Verstehen seiner Yoknapatawpha-Welt ermöglicht, sie waren für mich ein Schlüssel, eine Art authentischen Kommentars zur Struktur seiner Romane: Ich erfuhr mehr daraus als aus allen Essays über ihn.“ (Bienek, a. a. O., S. 7.)

Ich habe das Faulkner-Interview soeben gelesen. Es hat mich in meinem Vorurteil bestärkt, dass Faulkner kein Autor ist, der mich interessieren könnte. Schon die Unverrückbarkeit seiner Standpunkte stößt mich ab, seine maskuline Selbstsicherheit. Dazu passt, dass er voreilig schlussfolgert und sich zu Gegenständen äußert, von denen er offenbar nicht die geringste Ahnung hat. Jean Stein bittet ihn, sich zur Zukunft des Romans zu äußern. “I imagine as long as people will continue to read novels, people will continue to write them, or vice versa; unless of course the pictorial magazines and comic strips finally atrophy man’s capacity to read, and literature really is on its way back to the picture writing in the Neanderthal cave.” (Paris Review No. 12 / Spring 1956.) – Wo ein Bedarf ist, finden sich Leute, die sich dafür bezahlen lassen, ihn zu decken? Das geht noch hin. Aber dass sich, „vice versa“, auch immer Leute finden, die ein Produkt abnehmen, bloß weil es in die Welt gesetzt wird, ist schlicht Blödsinn! Und mit seiner kulturpessimistischen Unkerei, dass die zeitgenössische Menschheit zum Neanderthaler regrediert, wenn sie ihre Kinder Comics lesen lässt, kommt mir Mr. Faulkner vor wie ein bornierter Spießer aus den miefigen 1950er-Jahren.

Paris-Review-Interviews

Tuesday, 31. May 2011

Die Interviews der New Yorker Literaturzeitschrift Paris Review können mit Fug und Recht als stilbildend für die ganze noch junge Gattung gelten. Dass man den Befragten nicht mit den üblichen Allerweltsfragen à la FAZ-Fragebogen abwärts kommen kann, mit denen die sonstige Prominenz aus Politik, Sport und Showbiz gelöchert wird, liegt auf der Hand. Schließlich sind Literaten Leute, die immerhin schreiben können. Hierunter verstehe ich selbstredend nicht jene Dauersekretion von Banalitäten als Tagesgeschäft, die schon immer 99,9 Prozent aller Papierwaren beschleimte. Schreiben im eigentlichen Sinn jedoch setzt Verstand voraus, Selbstbewusstsein, Weltkritik und ein gerüttelt Maß Verzweiflung. Menschen, die unter solchen schweren Handicaps leiden, darf man nicht mit Fragen nach ihrem Lieblingsbuch und ihrer schönsten Kindheitserinnerung in Lebensgefahr bringen. Das wissen die einfühlsamen Interviewer der Paris Review, und sie beherrschen ihr Mundwerk. In den vergangenen 57 Jahren seit Gründung der Vierteljahreszeitschrift sind dort fast 350 Interviews erschienen, von denen nun die Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag ein Dutzend ausgewählt und in deutscher Übersetzung vorgelegt hat. (Ich muss das so unpersönlich formulieren, denn einen Herausgeber im eigentlichen Sinn scheint diese Sammlung nicht zu haben. Die Übersetzer heißen Henning Hoff, Judith und Alexandra Steffes; letztere hat auch ein knappes Vorwort geschrieben. Leider verrät sie dem Leser nicht, welche Kriterien gerade diese Auswahl bestimmten.)

Ohne Einschränkung darf ich zunächst den Vorsatz preisen, dem deutschen Leser diese Meisterwerke der Befragungskunst nahezubringen. Selbst von jenen Autorinnen und Autoren, die mir bisher fremd waren und auch durch ihre Antworten mein Interesse an ihrem Werk nicht so stark wecken konnten, dass ich in nächster Zeit eins ihrer Werke lesen müsste, habe ich nun doch immerhin eine recht deutliche Vorstellung. Köstlich amüsiert hat mich Dorothy Parker, zu deren Short Storys ich vor vielen Jahren trotz mehrfacher Versuche keinen rechten Zugang finden konnte, was möglicherweise damit zu erklären ist, dass ich seinerzeit eine Verehrerin ihrer Prosa kannte, die mir mit ihrem humorlosen Suffragetten-Appeal ganz schrecklich auf die Nerven ging. Von Françoise Sagan kannte ich außer den Titeln ihrer Bücher nur die Verfilmung ihres Debutromans Bonjour tristess, die ich mir in einer Periode heftigster Leidenschaft für Jean Seberg zugemutet habe und nahezu unerträglich fand. Als das Mädchen aus gutem Hause in meinem Geburtsjahr befragt wurde, zählte sie gerade einmal 21 Jahre und gab Antworten wie eine abgebrühte Existenzialistin. Insofern habe ich sie bisher wohl unterschätzt. Da ich nun weiß, dass sie keineswegs das naive Hühnchen war, für das ich sie hielt, weil ich sie vermutlich mit der Bardot und mit Mireille Mathieu in einen Topf warf, glaube ich stattdessen erkannt zu haben, dass sie ein viel zu früh gereiftes, altkluges Wesen war, größenwahnsinnig und ohne stabile Orientierung. Truman Capote erscheint mir im Interview ganz so, wie ich ihn bisher wahrgenommen habe. Er schwindelt auf eine Weise, dass er damit mehr über sich sagt, als wenn er streng bei der Wahrheit bliebe; und er übertreibt, doch wenn er es nicht täte, hätte man das Gefühl, er würde untertreiben. Eine wirkliche Überraschung in zweifacher Hinsicht bot mir das Interview mit Ernest Hemingway, das der Chefredakteur der Paris-Review, George Plimpton führte. Erstens sind die Auskünfte des bulligen Mannes über seine Schreibtechnik außergewöhnlich präzise, feinsinnig und gewissenhaft. Er erinnert mich darin an Joseph Roth, mit dem er eigentlich doch nur eines gemeinsam hatte: den exzessiven Alkoholismus. Und zweitens verzückt mich geradezu seine gnadenlose Aufrichtigkeit im Umgang mit schwachen Fragen. Ein Beispiel? Plimton fragt: „Was würden Sie als bestes intellektuelles Training für einen angehenden Schriftsteller ansehen?“ Und Hemingway antwortet: „Sagen wir, er sollte rausgehen und sich aufhängen, weil er feststellt, dass Schreiben, nun, unvorstellbar schwer ist. Dann sollte er ohne Gnade heruntergeschnitten werden und gezwungen, für sich alleine so gut zu schreiben, wie er es kann, bis zum Ende seines Lebens. Immerhin wird er mit der Geschichte des Erhängens anfangen können.“ (S. 65.) Während ich bei Hemingway ein negatives Vorurteil hatte, sah ich Vladimir Nabokovs Auskünften mit gelassener Vorfreude entgegen – und wurde bitter enttäuscht! Dabei hätte ich darauf gefasst sein können, denn in der Vorbemerkung erfahren wir, dass der große Meister sich die Fragen vorab nach Montreux schicken ließ und seine Antworten von A bis Zett vorformulierte, um sie dem Interviewer beim vereinbarten Gesprächstermin schwarz auf weiß auszuhändigen. Wie soll ich das denn finden? Welche kleinliche Angst steckt dahinter, auch nur ein falsches oder nur missverständliches Wort von sich zu geben? Dabei hätte Nabokov wie alle anderen Befragten auch ohnehin die Gelegenheit erhalten, seine Antworten vor der Drucklegung zu überarbeiten oder zu streichen. Ist es Zufall, dass diese Enttäuschung in eine Zeit fällt, da meine Begeisterung für das Werk Nabokovs sich spürbar abschwächt? Zu den drei nächsten Autoren – Kurt Vonnegut, Heinrich Böll und Philip Roth – kann ich summarisch bekennen, dass ich ihre Aufnahme in diese Sammlung bedaure, stehlen sie doch den Platz für solch ungleich interessantere Geister wie Julio Cortazar, Raymond Carver oder Primo Levi. Die letzten vier – Toni Morrison, Orhan Pamuk, Joan Didion und David Grossman – kannte ich bislang nur ganz oberflächlich. Jeden einzelnen von ihnen würde ich gern näher kennenlernen, wenn ich nicht zu viel Zeit mit meinem eigenen Schreiben verschwenden müsste. So reicht es nur für eine knappe Sympathiebekundung. Ich entdeckte bei ihnen einen Ernst, eine Weite und eine Leidenschaft, die sicher hervorragende Voraussetzungen sind, um große Werke zu schaffen. (Allerdings muss ich, was die Leidenschaft betrifft, bei Joan Didion gewisse Abstriche machen. Sie erschien mir – vielleicht insofern ein direktes Gegenstück zu Toni Morrisson – in vielen ihrer Antworten eher unterkühlt.)

Ich habe das 350 Seiten starke Buch auf einen Rutsch in drei Tagen gelesen, auf ,meiner‘ sonnigen Bank am Blücherturm und nachts in meinem blauen Ohrensessel vorm Zubettgehen. Es war eine streckenweise unterhaltsame und gelegentlich sogar lehrreiche Lektüre, besonders dann, wenn es um die ganz profanen technischen Fragen und Probleme des Schreibens ging. Mit großem Interesse habe ich auch die wenigen Passagen zur Kenntnis genommen, in denen einzelne Autoren auf ihr Verhältnis zu ihrem Lektor zu sprechen kommen – verständlich, da ich selbst in jüngster Zeit diese Tätigkeit als professionelle Nebenbeschäftigung betreibe. Toni Morrison schwärmt von ihrem Lektor Bob Gottlieb: „Was ihn so gut machte für mich waren mehrere Dinge – zu wissen, was man nicht anrührt; all die Fragen zu stellen, die man wahrscheinlich sich selbst gestellt hätte, hätte man die Zeit gehabt. Gute Lektoren sind wirklich das dritte Auge: sachlich, leidenschaftslos. Sie lieben nicht dich oder dein Werk; das ist für mich das Wertvolle – nicht Komplimente. Das ist für mich hilfreich. Manchmal ist es unheimlich. Der Lektor legt seinen Finger genau auf die Stelle, die schwach ist; der Autor weiß es, war aber zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, sie besser hinzubekommen. Oder vielleicht dachte der Autor, es könnte funktionieren, war sich aber nicht sicher. Gute Lektoren identifizieren die Stelle und machen manchmal Vorschläge. Manche Vorschläge sind nicht hilfreich, da man einem Lektor nicht alles erklären kann, was man da zu tun versucht. Ich könnte unmöglich all diese Sachen einem Lektor erklären, da das, was ich mache, auf so vielen Ebenen zu funktionieren hat. Aber wenn in dieser Beziehung etwas Vertrauen steckt, etwas Wille zuzuhören, können außergewöhnliche Dinge passieren. Ich lese dauernd Bücher, von denen ich weiß, dass sie nicht von einem Korrekturleser profitiert hätten, sondern von jemandem, der das Buch schlicht durchgesprochen hätte.“ (S. 214.)

Da beneide ich Toni Morrison allerdings, denn ich lese vielmehr dauernd Texte aller Art, die zuallererst einmal eines gründlichen Korrekturlesers bedurft hätten. Und leider macht auch das hier zu würdigende Buch da keine Ausnahme, hätte es doch einen scharfsichtigen „letzten Leser“ vor der Drucklegung so sehr verdient! Immer wieder stolpert der Leser über kleine Fehlerchen, nicht weltbewegend, aber eben doch den Lesefluss störend, beispielsweise gehäuft fehlende Buchstaben am Ende eines Wortes. In einem Absatz stand gleich zweimal „and“ statt „und“. Das passiert einem Übersetzer aus dem Englischen eben; aber liest denn keiner noch mal drüber? Vermutlich gab es wie so oft ganz zum Ende des langen Produktionswegs zeitlichen Druck, der den letzten Schliff unmöglich machte. Das ist schade – und umso mehr, da ja heutzutage bei einer zweiten Auflage in aller Regel die Ausmerzung dieser Fehler nicht finanzierbar ist. (Auch ein Vorteil, nebenbei bemerkt, von Weblogs wie diesem. Ich korrigiere dauernd an meinen älteren Texten herum, bis sie endlich – hoffentlich! – perfekt sind.)

Eine letzte Bemerkung noch zum Verlag. Die Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag mit Sitz in London ist ein Imprint des Düsseldorfer Lilienfeld-Verlags, dessen kleines und feines Programm ich seit seiner Gründung vor vier Jahren mit Wohlwollen und wachsender Neugier beobachtet und gelegentlich in meinen Blogs kommentiert habe. Zu dem neuen Engagement schreiben die Lilienfeld-Verleger Viola Eckelt und Axel von Ernst in ihrer Frühjahrsvorschau: „Durch die Übernahme des traditionsreichen C. W. Leske Verlages als Imprint werden wir im nächsten Jahr gleich 190 Jahre alt!“ Bald wollen die beiden unter diesem Namen ein Sachbuchprogramm starten. Nun ist das mit dem Reichtum der Traditionen ja manchmal eine vertrackte Sache. In diesem Fall ergibt die Recherche, dass der 1821 in Darmstadt gegründete C. W. Leske Verlag ursprünglich ein Sprachrohr des Vormärz war, im Laufe seiner langen Geschichte aber weit in die rechte, nationalistische Ecke hinüberwanderte. Bedeutende Sortimentsschwerpunkte waren über viele Jahre hinweg Kriegsgeschichte und Militärkunde. Was der Verlag in der Zeit des Nationalsozialismus getrieben hat, weiß ich nicht. Sehr interessant ist jedenfalls die rege Betriebsamkeit, die er in den 1950er-Jahren entfaltete, als er sich mit nationalkonservativen politischen Sachbüchern von Autoren wie Horst Mahnke aus der Deckung traute, jenes vormaligen SS-Hauptsturmführers, der es im Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Ära bis zum Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger schaffte. Was wundert es, dass Mahnke sein gemeinsam mit dem ehemaligen SS-Hauptsturmführer Georg Wolff verfasstes Buch 1954 – Der Frieden hat eine Chance just bei C. W. Leske erscheinen ließ, war dessen Verlagsleiter seit 1953 doch kein geringerer als Franz-Alfred Six, SS-Brigadeführer und Amtsleiter im berüchtigten Reichssicherheitshauptamt von Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler. (Letzterer kommt übrigens auch in Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes vor, deutsch erschienen unter dem Titel Die Wohlgesinnten.) Dieser Clique gelang es in der Nachkriegszeit sogar, Augsteins Spiegel als Medium für antisemitische und den Faschismus exkulpierende Artikel zu nutzen, wie erst jüngst Peter-Ferdinand Koch in einer verdienstvollen Monographie noch einmal in allen für das Hamburger Magazin nicht eben schmeichelhaften Details nachgewiesen hat. Ich will damit nur sagen, dass die 190 Jahre adoptierte Verlagsgeschichte offenbar mehr hergeben als die nobel schimmernde Patina einer nicht weiter hinterfragten „Tradition“. Es stünde dem Lilienfeld-Verlag gut zu Gesicht, wenn er diesen Stier bei den Hörnern packte und einen investigativen Historiker beauftragte, die Geschichte des Darmstädter Verlags C. W. Leske einmal bis in die letzten finsteren Falten auszuleuchten. Vielleicht gelingt das ja bis zur 200-Jahr-Feier?

[die PARIS REVIEW Interviews – 01. A. d. Engl. v. Alexandra Steffes, Judith Steffes u. Henning Hoff. London / Berlin: Edition Weltkiosk im C. W. Leske Verlag, 2011. – ISBN 978-3-942377-01-0. – 19,90 €.]

Warum ich? Warum nicht du?

Monday, 30. May 2011

Und warum gerade heute? Warum stehen in Online-Tagebüchern (Weblogs) oben auf der ersten Seite die jüngsten, in Print-Tagebüchern dort hingegen die ältesten Einträge? Warum werden Einträge in Weblogs, die älter als eine Woche sind, so gut wie niemals mehr gelesen und dennoch für alle Zeiten aufbewahrt?

Warum gibt es eine Vergangenheit? Warum hat der Mensch ein Gedächtnis? Warum bewahrt man Dinge auf, die man nicht ständig im Gebrauch hat? Warum hängt man sich für viele Jahre Bilder an die Stubenwand, die man nach wenigen Tagen nicht mehr ansieht? Warum erzählt man neuen Freunden irgendwann einmal die Lebensgeschichte? Warum manchen alten Freunden nie? Warum kann man allerlei unangenehme Erinnerungen nicht einfach bzw. einfach nicht auslöschen?

Warum fragt er? Warum fragt sie nicht? Warum fragt er sich manchmal, warum er ihr diese oder jene Frage nicht gestellt hat? Warum meint sie mindestens einmal im Leben, dass sie ihm in einem bestimmten Augenblick bloß die eine entscheidende Frage hätte stellen müssen, und ihr restliches Leben wäre völlig anders verlaufen? Warum kommst du nicht darüber hinweg, dass du vor ewigen Zeiten auf eine einfache Frage keine Antwort von mir erhalten hast? Warum weiß ich jetzt die Antwort nicht mehr?

Warum setzen wir uns nicht einfach hin und schreiben unser ganzes bisheriges Leben auf, alles was wichtig war, wichtig schien oder wichtig hätte sein können? Warum lassen wir uns immer wieder von diesem Plan abbringen, sei es durch Zweifel an der Bedeutung unseres Lebens, sei es durch Skrupel gegenüber unseren Weggefährten, wenn sie sich in unserer Erinnerung nicht wiedererkennen oder gar wiedererkennen, sei ’s aus Angst, unser Leben als eine einzige Verfehlung zu enttarnen? Warum erkennen wir nicht, dass es keinen Sinn hat, auf ein zweites Leben zu warten, das die Beschreibung eher wert wäre?

Warum finde ich nicht die Quadratur des Kreises, eine neue Struktur im Rahmen des Weblogs, die es möglich macht, die Leserin zu verführen, mich gleichzeitig als den Gewordenen des heutigen Tages und den Werdenden der vergangenen fünf Jahrzehnte zu erleben?

Q’s Gequatsche (I)

Sunday, 21. February 2010

q1

Ich werde jetzt nicht bei Adam und Erika anfangen und erzählen, wo und wann und wie ich Q kennengelernt habe. Vielleicht später einmal. Auch eine umständliche Beschreibung seiner Äußer- und Innerlichkeiten erspare ich mir und der Leserin. Q spricht für sich, und da er dies ohne Unterlass tut, dürfte dies fürs Erste nicht nur reichen, sondern immer ein Schlag mehr als genug sein, um sich ein Bild von diesem Quatschkopf zu machen. Weil ich aber weiß, wie hungrig die Einbildungskraft des Lesers danach giert, sich das Erscheinungsbild des Helden mit ein paar starken Strichen wenigstens näherungsweise auszumalen, gebe ich hier einen der zahlreichen Schnappschüsse preis, die ich von Q im Laufe der Jahre ohne sein Wissen gemacht habe [Titelfoto v. Revierflaneur / Osnabrück 1998].

Anfang des Monats rief Q nach längerer Pause wieder einmal an. Er meldet sich grundsätzlich nicht mit Namen, sondern stets mit der hirnverbrannten Floskel: „Altes Haus! Schräger Sims? Ganz genau: Ich bin’s!“ Sprüche dieser sinnfreien Art hat er noch etliche auf Lager. Ich habe ihn mal gefragt, woher er die eigentlich hat. Das seien volkstümlich Redensarten, die seine Tante häufig im Munde geführt habe. Ich mag das nicht so recht glauben, denn ich habe dergleichen nie jemals anderswoher als aus Q’s Munde vernommen. Und auch gelegentliche Googelei führte zu nichts. Eher schon traue ich besagter Tante zu, dass sie sich den Nonsense aus den Rippen geschnitten und ihrem Neffen als altehrwürdige Sprichwortfolklore verkauft hat. Diese Tante muss es nämlich sehr im Unterschied zu Q fausdick nicht nur hinter den Ohren gehabt haben, nach allem, was ich mir aus Q’s Berichten über sie und über seine „irreguläre Kindheit“ (Q’s Worte) mit viel Phantasie und Spucke zusammenleimen konnte. Er habe, so Q zur Abwechslung wieder einmal, einen „mittelschweren Verdacht“.

Wenn er so anfängt, mache ich mich darauf gefasst, entweder mit einer neuen Ausgeburt seiner Paranoia oder mit dem aktuellen Auswuchs seiner Hypochondrie Bekanntschaft schließen zu müssen. Ich ließ mich also mit einem kaum unterdrückten Seufzer, die Sprechmuschel des Hörers immerhin leicht vom Munde abgewandt, auf meine preußischblaue Chaiselongue sinken und fragte zaghaft: „Und der wäre?“ – „Einiges deutet darauf hin, dass dem Eskalatismus allmählich die Puste wegbleibt.“ So Q. „Tatsächlich?“ Ich sprang wie elektrisiert von der Sitzliege. „Wäre das nicht ein Widerspruch in sich?“

Ich müsste nun, damit meine Erregung verständlich wird, weit ausholen und diese Privatideologie, die sich Q seit frühester Jugend zusammengezimmert hat, in all ihren Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, aber auch in den methodischen Vorgehensweisen ihrer Selbstvergewisserung vorstellen. (Q spricht, was letztere betrifft – gern von „szenischen Versuchsanordungen“.) Hier muss der Hinweise genügen, dass Q allen Fortschritt in der menschlichen Geschichte als zwangsläufige exponentielle Entwicklung interpretiert, ganz gleich, ob er die Zunahme der Weltbevölkerung, die Abnahme der fossilen Brennstoffe, die Kapitalkonzentration, den Schwund der Tier- und Pflanzenarten, das Aussterben der Sprachen, das Verkümmern der kulturellen Vielfalt, die Abstumpfung der individuellen Sensibilität oder die Erosion der Kreativität durch passiven Konsumismus in den Blick nimmt. Wohlgemerkt, solche Begriffe würde Q niemals verwenden, sie sind ihm vermutlich größtenteils sogar unverständlich. Q sagt sattdessen etwa: „Guck dir doch bloß an, was an Filmen gemacht wird. Immer schärferer Sex und immer härtere Gewalt für die Männer, immer seichterer Gefühlskitsch und immer grellerer Skandalklamauk für die Frauen. Stimmt nicht total, aber zu neunzig Prozent. Der Trend wird vielleicht jetzt erst deutlich. Aber es gab sie schon immer, die alte Sehnsucht des Tieres, das vor ein paar tausend Jahren in uns eingesperrt wurde und endlich wieder freigelassen werden will. Je länger es vom Ausbruch träumt, desto gefährlicher wird es.“

Ich gebe zu, dass mich anfangs Q’s Unkereien ziemlich beunruhigt haben, so grobschlächtig sein Denken auch sein mochte. Das mag auch an dem Tonfall liegen, in dem er seine Gedankengänge mitteilt und in dem immer etwas mitklingt, das ich einmal anderswo sein „Drohvibrato“ genannt habe. (Inzwischen bin ich daran gewöhnt und bleibe selbst dann verhältnismäßig gelassen, wenn Q mir von den grenzwertigeren seiner szenischen Versuchsanordungen Bericht erstattet.) Heute aber war ich wirklich nahezu fassungslos, denn die Ankündigung eines Bruchs in dem erklärten Urprinzip ewiger Eskalation hatte es noch nie gegeben, sie schien mir zudem auch deshalb sensationell, weil Q sie in einem absolut leidenschaftslosen Tonfall vortrug. Q spürte wohl meine Irritation und wiederholte seine Vermutung noch einmal in anderen Worten: „Wenn ich nicht irre, scheint der Eskalatismus neuerdings zu schwächeln.“

[Wird fortgesetzt.]

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Wednesday, 07. January 2009

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Gläserne Glotzer?

Monday, 15. December 2008

Wenn ich die Leute frage, wie sie’s so mit dem Fernsehen halten, dann bekomme ich regelmäßig Antworten wie diese: „Ach, ich stelle die Kiste immer seltener an. Das Programm hat ja in letzter Zeit auch sehr nachgelassen. Und die viele Werbung! Die Tagesschau, das schon. Man muss ja schließlich auf dem Laufenden bleiben. Und den Tatort am Sonntag im Ersten, den lasse ich mir selten entgehen. Hin und wieder mal ein schöner alter Hollywood-Film. Aber sonst? – Na ja, manchmal bin ich nach dem Stress im Büro so geschafft, dann lasse ich mich einfach berieseln und zappe von Sender zu Sender. Muss auch mal sein. Aber im Urlaub, da kann ich problemlos drei Wochen ganz auf die Glotze verzichten.”

Offenbar kenne ich nur Leute, deren Konsumverhalten ausgesprochen untypisch für den Durchschnitt der Bevölkerung ist, denn die regelmäßig von Demoskopen ermittelten Zahlen zum Fernsehverhalten der Deutschen zeichnen ein anderes Bild: „Die durchschnittliche Fernsehdauer der Personen ab 14 Jahren ist im Zeitraum von 1988 bis 2002 um eine Stunde gestiegen. So lag sie 1988 noch bei 2,5 Stunden, bis 2002 stieg der tägliche Fernsehkonsum kontinuierlich auf durchschnittlich 3,5 Stunden. […] Ein Drittel der Fernsehzuschauer gehört mit einer durchschnittlichen täglichen Fernsehdauer von 6,5 Stunden zu der Gruppe der Vielseher, die hauptsächlich aus Personen über 50 besteht.” (Informationsdienst Wissenschaft; zit. nach www.uniprotokolle.de v. 21. November 2005.)

Die Umfrageergebnisse legen auch nahe, dass es ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle bei der täglichen Fernsehnutzungsdauer gibt. Je größer der Wohlstand und die Bildung der Menschen ist, desto weniger Zeit verbringen sie vor ihrem Apparat. „In Sachsen-Anhalt, wo die Arbeitslosenquote 2004 im Schnitt bei 20,3 Prozent lag, saßen die Bürger […] 275 Minuten lang vor flimmernden Bildschirmen. 275 Minuten – das bedeutet 1673 Stunden im Jahr oder 70 Tage oder rund 2,3 Monate Fernsehen nonstop.” (Melanie Mühl: Siebzig Tage im Jahr vor dem Schirm; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 16 v. 20. Januar 2005, S. 38.)

Und die willfährigsten Opfer dieser Zeitvernichtungsmaschine sind neben den Arbeitslosen und Alten die Kinder: In Deutschland sitzen um 22:00 Uhr noch 800.000 Kinder im Vorschulalter vor dem Fernseher, um 23:00 Uhr sind es noch immer 200.000. (Vgl. Christian Thiel: Fernsehkonsum bestimmt den späteren Bildungsgrad; in: Die Welt v. 3. November 2005; zit. nach www.geburtskanal.de.) Was will man auch anderes erwarten, wenn selbst die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt, Kinder von 0 bis 2 Jahren täglich 20 Minuten vor den Fernseher zu setzen – oder wohl richtiger: bäuchlings davorzulegen.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht, und die ist brandaktuell. Dank dem seit Jahren zunehmenden Internetkonsum „sinkt nach Jahren des Anstiegs erstmals die Zeit, die vor dem Fernseher verbracht wird. Schalteten die Deutschen im Jahr 2006 ihre TV-Geräte jeden Tag für durchschnittlich 212 Minuten an, waren es 2007 nur noch 208 Minuten.” (Presseinformation des Bundesverbandes Informationswirtschaft Telekommunikation und neue Medien v. 12. Oktober 2008.) Die Frage bleibt allerdings, was meine Landsleute mit den so gewonnenen vier Minuten anfangen. Meine Vermutung: Rechner runterfahren, Fernseher einschalten!