Balance

desnos

Jeder Tag ist ein Hochseilakt zwischen zwei möglichen Abstürzen. Rechts gähnt die tödliche Langeweile, links will mich die Überfülle der Ereignisse, Reize, Herausforderungen, Aufgaben, Pflichten, Verantwortungen zerfleischen. Immer entweder ein maßloses Zuviel – oder ein quälender Mangel, der den drohenden, endgültigen Stillstand im Schilde zu führen scheint.

Jetzt will ich aber nicht schon wieder jammern. Was wäre denn die Alternative? Die Behäbigkeit gemächlichen Fortschreitens auf einem zwielichtigen, gefahrlosen, breiten Mittelweg. Die graue Durchschnittlichkeit jahreszeitloser Einheitstage, weder schwarz noch weiß, von Farben nicht zu reden. Will ich das? Sehne ich ein solches Einerlei herbei, damit mein Herz endlich in einem gleichmäßigeren Rhythmus schlagen kann?

Nein.

Also sind sie weiter auszuhalten, die ewigen Widersprüche, zwischen Systole und Diastole, Zweifel und Gewissheit, Liebe und Hass, Detailversessenheit und Verallgemeinerung, Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl, dem Blühen und Verwelken, Antwortenkönnen und Ratlossein, Nehmen und Geben, Verteidigen und Angreifen, Dulden und Zufügen, Kämpfen und Scheitern, zwischen Ebbe und Flut, Sonnenauf- und -untergang.

Tagaus, tagein: ein Einerlei bei allem Wechselspiel. Mag ich das? Ich muss wohl noch mögen wollen, für ein Weilchen, über den Tag hinwegschwebend in ungewisse Zukunft. Das Ende steht fest, sein Zeitpunkt ist ungewiss. Daran ist nichts beklagenswert, ebensowenig zu begrüßen. Conditio humana. Keine Anstrengung ist lohnender als die um das tägliche, alltägliche Gleichgewicht, selbst wenn das Ergebnis meist nur lautet: Ich hab’s auch heute gewagt, auf dem Hochseil zu balancieren – und bin nicht, nach links oder rechts, hinabgestürzt in die so verschiedenen, ja gegensätzlichen, komplementären Abgründe. Gefallen wohl, und das scharfe Drahtseil hat mich mitten entzweigeschnitten. Aber morgen ist auch noch ein Tag, und die Nacht zwischen heute und morgen, mit ihren Träumen, lässt mich wieder zusammenwachsen.

(Für Robert Desnos, den Mann im Bild.)

4 Responses to “Balance”

  1. Günter Landsberger Says:

    Wäre Wilhelm Schmids “Die Kunst der Balance / 100 Facetten der Lebenskunst” (it 3120) ein ernstzunehmendes Begleitbuch zum Thema?

  2. Günter Landsberger Says:

    Gibt es den Buchtitel “Balance und Bilanz” bereits? Wenn nicht, nimm ihn ruhig. Du kannst ihn haben.

  3. Günter Landsberger Says:

    Nichts Neues unter der Sonne?
    http://www.swisstx.ch/fileadmin/downloads/2005_WorkLifeBalance_d.pdf

  4. Matta Schimanski Says:

    Nicht zu vergessen die Balance zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.

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