Archive for April 11th, 2008

Fünf Fragen

Friday, 11. April 2008

Jetzt haben mich Frischs Fragebögen in seinem Tagebuch aus den späten 1960er-Jahren gepackt. Manche Fragen kann ich ohne langes Bedenken beantworten. „Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?“ Ja, wen wohl? Natürlich meinen Vater, der ohne Abschiedsgruß ins Jenseits verschwand, als ich gerade 13 Jahre alt geworden war. Ein dummes Alter, um unversehens den geliebten Vater zu verlieren. Ich würde ihn gern fragen, ob er mit mir zufrieden ist, so wie ich jetzt bin. Und ich würde ihm gern meine fünf Kinder vorstellen. Und ich würde ihm gern danken für das, was er mir in den ersten 13 Jahren meines Lebens Gutes hat widerfahren lassen.

„Wie alt möchten Sie werden?“ Das ist schon verzwickter. Ein Alter, in Jahren ausgedrückt, kann ich jedenfalls nicht sagen. Wenn mich heute der Schlag träfe und ich hätte noch die Gelegenheit mich zu fragen, ob ich diesen verhältnismäßig frühen Tod als ungerecht empfände, so wäre meine Antwort ein klares Nein. Ein besseres, volleres, lebenssatteres Leben, als ich es bisher hatte, ist wohl nur den wenigsten vergönnt. Jeder Tag mehr ist ein unverdientes Geschenk.

„Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?“ Keineswegs. Der Blick in den Spiegel ist immer ein Spiel mit Täuschungen. Ich setze das Licht so, dass meine Schattenseiten verborgen bleiben, auch und zuallererst vor mir selbst. Und wenn ich einen offensichtlichen Makel bewusst mit einem grellen Strahl ausleuchte, dann ist auch diese vermeintliche Selbstentblößung nichts als ein eitles Schauspiel. Nein, wann immer ich Selbstkritik übe, in Gedanken oder Worten, ist dies ehrlich gesagt nur eine erbärmliche Maskerade. Ich mime in solchen skeptischen Selbstbetrachtungen den offenherzigen Wahrheitssucher und bin doch auch dabei nur ein selbstverliebter Narziss.

„Was fehlt Ihnen zum Glück?“ Nichts, insofern als das Glück hinter mir liegt. Ich habe mehr Glücksmomente erleben dürfen, als auf eine Kuhhaut gehen. „Genug ist Reife“, wie Theodore Sturgeon in einer unvergesslichen Erzählung einmal gesagt hat. Was mein persönliches Glück angeht, so habe ich davon genug genossen.

„Wofür sind Sie dankbar?“ Diese Frage kann ich nicht beantworten ohne die Gegenfrage zu stellen, die bedauerlicherweise unbeantwortet bleiben muss: „Wem sollte ich dankbar sein?“

Listen

Friday, 11. April 2008

Beim Feilen an meinem morgigen Beitrag für Westropolis, in dem es um Sinn und Unsinn von Rankings in den Weblogs dieser Welt geht, kommt mir in den Sinn, dass ich ihn Max Frisch widmen sollte. In meinem persönlichen Ranking der für mich wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit steht Frisch zwar nicht sehr weit oben. Aber das zweite seiner beiden Tagebücher ist allein schon wegen der darin enthaltenen „Fragebögen“ auch heute noch lesens- und bedenkenswert.

Rankings gehören – wie Fragebögen, Bibliographien, Register, Inventarverzeichnisse usw. – zur großen, aus literaturwissenschaftlicher Sicht noch immer nicht hinreichend gewürdigten Textsorte der Listen. Das Ordnungsbedürfnis, das zur säuberlichen Auflistung von Büchern, Gegenständen, Fragen, Personen- oder Ortsnamen führt, wächst mit der Unüberschaubarkeit und grenzenlosen Ausdehnung unserer Erfahrungswelt. Die Liste ist der moderne Abwehrzauber gegen das Chaos, mit dem uns unsere sinnlichen Erlebnisse Tag für Tag überfordern.

Max Frischs elf Fragebögen (mit jeweils 25, insgesamt also 275 Fragen, in seinem Tagebuch 1966-1971) widmen sich Grundbestimmungen unserer menschlichen Existenz: der Ehe, dem Verhältnis von Mann und Frau, der Hoffnung, dem Humor, dem Verhältnis zum Geld und zu unserer Heimat, der Freundschaft, zu unseren Kindern. Frisch stellt Fragen wie „Befremdet Sie eine kluge Lesbierin?“ oder „Können Sie sich eine Ehe ohne Humor vorstellen?“ Heute fällt es leicht, beide Fragen mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Vor vierzig Jahren war es aber noch nicht selbstverständlich, diese Fragen überhaupt zu stellen.

In einem Ranking der klügsten und produktivsten Fragen unserer Zeit würden vermutlich etliche der von Max Frisch gestellten noch immer sehr weit vorn liegen. Für einen ambitionierten Interviewer, der es als Verhörspezialist der gerade angesagten Promischickeria weiter bringen will als der klägliche Durchschnitt seiner Mitbewerber, ist die Liste der 275 Fragen von Frisch jedenfalls eine unschätzbar wertvolle Inspirationsquelle.

Vorläufig auf Platz zwei meiner ewigen Ranking-Liste der lesenswertesten Interviews aller Zeiten steht schon seit einem guten Weilchen jenes Gespräch, das der geniale Interviewer Andre Müller 1996 mit Alice Schwarzer führte. Müllers Eingangsfrage lautete damals: „Sie kämpfen seit dreißig Jahren für die Freiheit der Frau. Ich frage, möchte der Mensch überhaupt frei sein?“ Und was dann folgte, war ein vierstündiges, überaus aufschlussreiches Desaster. Wenn man im Dialog nach Erkenntnis sucht, nicht unbedingt für sich, aber doch mindestens für den Rest der Welt, dann muss man vor allem verstehen, die richtigen Fragen zu stellen.