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Lesebrille

Monday, 14. April 2008

Zwischen zwei Büchern gibt es für den obsessiven Leser einen Augenblick, da nagt der Zweifel bis auf die Knochen. Und noch eins? Und welches? Und wozu überhaupt weiter lesen? Habe ich nicht längst schon mehr als genug gelesen? Gehorche ich vielleicht bloß einem pathologischen Zwang, einer krankhaften Lesesucht, indem ich nun schon wieder nach einem neuen Buch giere, wo ich das letzte doch gerade erst aus der Hand gelegt habe?

Lohnte es denn überhaupt die Liebesmühe, die Anstrengung des Lesens – dieses zuletzt gelesene Buch? War es die Zeit wert, die ich über oder unter oder mit ihm verbrachte?

Und wenn nicht: Verspricht mir das nächste Buch, das ich schon längst ins Auge gefasst habe, tatsächlich mehr Erfüllung? – Oder wenn doch: Laufe ich nicht Gefahr, den starken Eindruck, den ich von meiner letzten Lektüre noch in mir trage, durch eine neuerliche Enttäuschung, denn Leseenttäuschungen sind ja viel häufiger als ihr Gegenteil, zunichte zu machen?

Aber ich habe ja gar keine Wahl. Denn mit dem Lesen endgültig aufzuhören erschiene mir wie der freiwillige Verzicht auf ein Sinnesorgan. Zu Lebzeiten das Lesen zu lassen ohne zu erblinden, das käme mir geradezu vor, als wollte ich mich ohne Not an einer der prachtvollsten Möglichkeiten des Sehens versündigen.

Und so lese ich weiter und weiter und weiter; und sollte ich mir darüber die Augen verderben.

(Für Jorge Luis Borges.)