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Dingwelt (I)

Wednesday, 17. September 2008

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„Bundesbürger besitzen laut Statistik im Durchschnitt 10.000 Dinge. Sie helfen ihnen im täglichen Leben, steigern das Wohlbefinden, verschaffen soziales Ansehen und dienen oft auch der Kompensation unerfüllter Wünsche.“ So heißt es im Klappentext des Katalogs zu einer Wanderausstellung, die 1995/96 in fünf deutschen Museen gezeigt wurde und im Titel die interessante Frage stellte: Welche Dinge braucht der Mensch? (hrsg. v. Dagmar Steffen. Gießen: Anabas-Verlag, 1995.)

Ich weiß nicht, ob sich die Zahl der Dinge im Besitz von Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann seither noch erhöht hat. Im Klappentext heißt es weiter: „Und noch immer lautet die Maxime unseres Wirtschaftens: ,Je mehr, desto besser.‘“ Dieser konsumistische Lebensgrundsatz bestimmt wohl nach wie vor das Verbraucherverhalten, auch wenn die Reallöhne und damit die Kaufkraft in Deutschland seither gesunken sind. Fragwürdig ist zudem der Ding-Begriff, der solchen Zählungen zugrunde liegt. Wenn acht gleiche Stühle um meinen Wohnzimmertisch stehen, gehen sie vermutlich jeder für sich in die Summe meiner Dinge ein. Aber wie steht es mit hundert Heftzwecken oder tausend Büroklammern? Hier wird wohl die Packung mit Inhalt als ein Ding bewertet und das Einzelstück steht Pars pro Toto für seine ununterscheidbar gleichen Geschwister.

In lockerer Folge werde ich hier einige bemerkenswerte Dinge aus meinem Besitz vorstellen und sie auf ihre – im weitesten Sinne – Brauchbarkeit hin prüfen: dauerhafte und verderbliche, schöne und hässliche, täglich genutzte und längst vergessene, erworbene und gefundene, gestohlene und ererbte, winzig kleine und sperrig große. Die vielgestaltige Dingwelt, mit der wir uns umgeben, ist ja manches zugleich: Kokon, Werkzeugkasten, Heimat, Luftschloss, Rumpelkammer und Herd.

Im Titelbild will ich das jeweilige Ding im Foto zeigen, bevor ich mich ihm forschend, erklärend und deutend zuwende. Heute, beim Eintritt in meine private Dingwelt, präsentiere ich ein Lineal aus gelbem Plastik, Werbegeschenk eines Telefonbuchverlags, 30 Zentimeter lang, 30 Gramm schwer, wohl aus den 1970er-Jahren.

Auf seiner Rückseite erklärt es kurz und bündig eine Fertigkeit, die ich dank meiner Ausbildung zum Buchhändler vor dreißig Jahren noch perfekt beherrsche, die aber dank der komfortablen Suchfunktionen des Internets im Aussterben begriffen ist: das Auffinden eines Begriffs in einem alphabetisch nach DIN 5007 geordneten Verzeichnis. In dieser praktischen Gebrauchsanweisung steht schwarz auf gelb der berückende Satz: „Für alle Dinge, die nicht nur zur eigenen Orientierung bestimmt sind, muß eine Regel gefunden werden, nach der sich alle Anwender richten müssen.“ Sooft ich diesen Satz schon gelesen habe – noch nie konnte ich seinen gewiss tiefen Sinn ergründen. Und nie könnte ich mich von diesem flexiblen Maßstab trennen. (Das Plastik knistert leise, wenn man es biegt.)