Orwell, well?

Ich erinnere mich noch gut ans Eric-Arthur-Blair-Jahr. So heißt ja sein vielleicht folgenreichster Roman: Nineteen Eighty-Four, von – die letzten beiden Ziffern vertauschend – 1948. Da hat sich Mr. Always, wie er sich auch nannte, einiges zugetraut: den Blick in die Zukunft über drei Dutzend Jahre hinweg. Die meisten Romane, die die Zukunft ausfabulieren, entwickeln ein Bild, das hauptsächlich von den wissenschaftlichen Fortschritten und ihren möglichen Folgen bestimmt ist. Nicht ohne Grund heißt das Genre ja auch Science Fiction.

Das verstellt dem vorurteilsbeschränkten Leser, der seine Lektüre nach solchen oberflächlichen Genre-Kriterien ausfiltert, leider den Blick auf ein Dutzend überaus lesenswerter, dem Verständnis der Gegenwart zuträglicher Romanciers. George Orwell ist unter diesen ein Sonderfall, weil seine Verfolgungswahnideen, ähnlich denen Franz Kafkas, heute offenbar ein zutreffendes Bild der Ängste eines kultivierten Mitteleuropäers ergeben.

Beider Romanwerke taugen dann gemäß Erlass des Kultusministers als Schullektüre in der Oberstufe deutscher Gymnasien. Wäre man böswillig, dann könnte man sagen: Oberstufenbildung im Bereich der Geisteswissenschaften deutscher Gymnasien verfolgt das Ziel, Angst zu verbreiten. Da man aber gutwillig ist, gratuliert man der Bildungsbürokratie zu ihrer Arglosigkeit: Eine bessere Auswahl konntet ihr nicht treffen als diese beiden zum Selbstzweifel ermunternden Visionäre!

Die Welt vor zwei Dutzend Jahren, die nun auch bald wieder zur Geschichte des vorletzten Jahrhundertviertels gehört, hat sich der Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der trotzkistischen POUM als Überwachungsstaat ausgemalt. Seine Inspirationsquelle für diese Paranoia war die britische BBC, wo er von 1941 bis 1943 als Kriegspropagandist arbeitete. So bezwingend die Vorstellung sein mag, dass die Freiheit des Individuums durch einen totalitären Überwachungsstaat gefährdet ist, so harmlos ist sie doch angesichts der ernsteren Bedrohungen unserer Fortdauer auf diesem Planeten mittlerweile geworden.

Ich frage mal ketzerisch: Was ist an dem Satz “Big Brother is watching you!” eigentlich so bedrohlich? Mein großer Bruder passt auf mich auf, achtet auf mich, behält mein Wohlergehen im Auge. Das ist doch nicht beunruhigend, sondern schafft vielmehr ein angenehmes Gefühl von Sicherheit. Die Gesinnungspolizei hat ja schließlich nur einer zu fürchten, der was zu verbergen hat, oder? (Fortsetzung demnächst unter dem Titel „GEZ”.)

5 Responses to “Orwell, well?”

  1. Matta Schimanski Says:

    Genau diese Doppeldeutigkeit war ja wohl gemeint!

    Meine Schüler – allerdings keine Oberstufe – kennen “Big Brother” übrigens nur als Titel dieser unsäglichen RTL-Container-“WG”-Sendung; sie wissen überhaupt nicht, woher der Ausdruck stammt und weshalb die Sendung so heißt. Wundern sich aber auch kein bisschen. Das wiederum wundert mich immer.

  2. Günter Landsberger Says:

    Eins nebenbei: Seit zwei, drei Tagen komme ich wieder nur über Mozilla Firefox in diese Textfolge hier hinein. Über Windows komme ich über die Titel nicht hinaus.

  3. Günter Landsberger Says:

    Macht man “Angst” zu einem philosophischen Thema, wird Philosophie auch in der Oberstufe zu hartem Brot. Es sei denn, man brächte es über sich, eine Einbeziehung der zusammenhängenden Texte von Kierkegaard (“Der Begriff Angst”), Heidegger und Bloch zu vermeiden. Vielleicht käme man über die Literatur, die Kunst und die Musik weiter. Wie sagte doch z. B. Heinrich Heine: E.T.A. Hoffmann, das sei ein Angstschrei in 28 Bänden.

  4. Matta Schimanski Says:

    @ Günter Landsberger, die 1.:
    Geht mir ebenso!

  5. Revierflaneur Says:

    Ich arbeite dran. Vorläufig bin ich erst mal heilfroh, wieder störungsfrei publizieren zu können. Und ein Fortschritt ist doch auch, dass ich jetzt endlich weiß, wie man Unterkategorien (Against the Day, Dingwelt, Siemsen) in der Navigationsleiste anlegen und befüllen kann.

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