Abwege

marcuseludwig

Die Beschäftigung mit dem Schicksal des nahezu vergessenen deutschen Schriftstellers Hans Siemsen hat mein Interesse für jenes malerische Fischerstädtchen an der Côte d’Azur geweckt, das in den Jahren nach 1933 und erst recht nach 1940 so vielen Intellektuellen auf der Flucht vor dem Naziregime eine vorübergehende Bleibe bot.

Die meisten der 36 Personen, die die Gedenktafel in Sanary-sur-Mer verzeichnet und die in jener dunklen Zeit an der „französischen Riviera“ zusammentrafen, waren mir längst vertraut. Auch mit einigen heute weniger Bekannten aus dieser geistigen Elite – wie Franz Hessel und Mechtilde Lichnowsky – hatte ich mich aus anderen Gründen früher einmal intensiv beschäftigt. Andere Namen kannte ich nur vom Hörensagen – wie Franz Theodor Csokor oder Valeriu Marcu. Und wieder andere hatten zwar gelegentlich mein Interesse geweckt, das immerhin so weit ging, ihre verstaubten Bücher zu Spottpreisen von den Flohmarkttischen aufzupicken, aber doch nicht weit genug, um anschließend die Nase hineinzustecken. Zu diesen zählen etwa Arnold Zweig, Alfred Neumann und Bruno Frank.

Wenn meine seltenen Gäste ihre Augen über meine Bücherregale schweifen lassen, mit einem Blick, der zwischen Staunen und Spott kein rechtes Mittelmaß findet, und wenn sie dann die banausische Frage über die Lippen bringen, ob ich das etwa alles gelesen habe, dann vergeht mir jede Lust, sie in den Keller hinabzuführen und ihnen die eigentlichen Schätze meiner Büchersammlung zu zeigen, aufbewahrt in glücklicherweise staubfreien, trockenen Katakomben. Oben ist Repräsentation, unten lockt das ungelüftete Geheimnis.

Die Beschäftigung mit dem Schicksal des nahezu vergessenen deutschen Schriftstellers Hans Siemsen hat mich auf Umwegen, die abzuschreiten an dieser Stelle leider zu weit führen würde, gestern wieder einmal veranlasst, im Chaos dieses bibliomanen Verlieses, mit der Taschenlampe in der zitternden Hand, nach den Büchern eines Autors zu suchen, den ich zunächst aus reinem Trotz ins Visier genommen hatte: Ludwig Marcuse. Nein, er war offenbar weder verwandt noch verschwägert mit jenem in den 68er-Jahren so populären Vordenker der Studentenbewegung, Herbert Marcuse, dessen Repressive Toleranz uns ein durchgeknallter Heidegger-Schüler als Philosophielehrer am Essener Helmholtz-Gymnasium zu lesen zwang, um uns unsere libertäre Gesinnung auszutreiben. Aber dass jener Ludwig Marcuse ein Büchlein mit dem Titel Obszön geschrieben hatte, die „Geschichte einer Entrüstung“, das machte ihn mir sympathisch genug, ihn nicht allein wegen seiner zufälligen Namensgleichheit mit dem unverstandenen dialektischen Materialisten ganz links liegen zu lassen .

Der Jude Ludwig Marcuse lebte von 1933 bis zu seiner zweiten Emigration 1939 in die USA in Sanary-sur-Mer und hat dem Ort im ersten Teil seiner Autobiographie, Mein zwanzigstes Jahrhundert, ein eigenes Kapitel gewidmet, wo er ihn die „Hauptstadt der deutschen Literatur“ jener Jahre nennt. Gerade dieses Buch ist leider (noch) ein Desiderat in meiner Büchersammlung, aber seine Fortsetzung, den zweiten Teil, habe ich gestern in tiefer Nacht zu lesen begonnen und darin den Satz von Johann Gottlieb Fichte zitiert gefunden: „Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm bekleidet sein, ehe einer sich prächtig kleidet.“ (Ludwig Marcuse: Nachruf auf Ludwig Marcuse. Zürich: Diogenes Verlag, 1975, S. 19.) Ich liebe solche Sätze, die mich bis ins Mark treffen und alles, was ich bin und lebe und denke, in Zweifel ziehen.

3 Responses to “Abwege”

  1. Matta Schimanski Says:

    Siehe auch:

    http://tinyurl.com/6ntuqc

  2. Revierflaneur Says:

    Das Buch ist ja längst schon zu mir unterwegs. Aber trotzdem danke!

  3. Günter Landsberger Says:

    Ich hätte das Buch auch gehabt. Müsste es aber suchen. Ebenso Ludwig Marcuses “Pessimismus – ein Stadium der Reife” und Marcuses Heine- wie Börne-Biographie. – Als Lektüre empfehlen kann ich Bruno Franks “Cervantes”-Roman und Arnold Zweigs “De Vriendt kehrt heim”.

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