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Vorschnelligkeit

Tuesday, 21. April 2009

„Ich hab jetzt einfach eine andere Schnelligkeit. Ich hab auch gemerkt, wie viel Energie andere aufbringen. Wenn ich in ein Café gehe: Die Zeitung wird geblättert, da wird noch Kaffee … dann hier das Winken, vorne der Stuhl, das muss noch vorne sein, man muss hinten sitzen, vorne rechts … Das ist ein Wahnsinn an Energie, die der Mensch besitzt, ja? Und die Hälfte würde wahrscheinlich schon reichen.”

So Christoph Schlingensief morgen im Interview bei Beckmann in DasErste. Nun habe ich zwar weder eine Glotze noch kann ich in die Zukunft schauen, aber ich bin mittlerweile so langsam geworden, dass die Zukunft schon hinter mir liegt.

Und weil ich so schön langsam bin, kann mir naturgemäß nicht entgehen, dass Christoph hier „Schnelligkeit” sagt, wo er doch eigentlich „Langsamkeit” meint. Auffällig auch, dass er rasend schnell spricht, als müsste er in die ihm gewährte Sendezeit so viel wie eben möglich hineinquetschen. Schlingensief klopft sich auf die Schulter, dass er nur zu dieser einen Talkshow geht mit seiner Leidensgeschichte und seinem Buch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Das soll ein Fortschritt sein?

„Die ersten vier Wochen sind entscheidend.” Damit meint er die ersten vier Wochen nach der Krebsdiagnose.

Ich werde wohl immer die letzten für die wichtigeren halten.

Schnee von gestern

Tuesday, 21. April 2009

Nachdem die Magnolie in der Weißbachstraße sich bereits vor ein paar Tagen ihrer Blüten entledigt hat, „schneit” es nun auch blassrosa von den japanischen Zierkirschen herab. Heute vor genau zwei Monaten war das Pflaster vorm Haus noch mit richtigem Schnee bestäubt.

Ein sechstel Jahr. Mir kommt der Zeitraum zwischen diesen beiden Fotos vor wie eine halbe Ewigkeit. Seither bin ich tatsächlich ein anderer geworden – wie schon so oft, mögen meine besten Freunde sagen und lächeln. Wieder mal eine Metamorphose, ja! Lacht nur! Aber diesmal ist es ernst. Seit langer, langer Zeit geht es endlich wieder an die Substanz.

Schade nur, oder vielleicht im Gegenteil ganz gut, dass man davon vermutlich in diesen brav vor sich hinplätschernden Notizen vom Tage wenig bis gar nichts merkt.

Mich selbst erinnern sie an die Schwimmer beim Angeln, die das Anbeißen der Beute signalisieren sollen. Wenn tief unter der spiegelglatten, friedvollen Wasseroberfläche ein riesiger Raubfisch mit der Nase an den Köder stößt, dann löst er damit bloß ein ganz feines Zucken im treibenden Schwimmer aus, kaum wahrnehmbar. Sehr leicht könnte es auch von der schwachen Brise herrühren, die von Land kommt und einen zarten Hauch von Kaffeeduft mit sich bringt.

Es ist halb fünf und die Tante des Hafenmeisters setzt sich gerade zu ihrem gemütlichen Viertelstündchen auf die Veranda, das sie sich, wie sie nicht müde wird zu betonen, wahrlich verdient hat.

Zuckerpott putt

Monday, 20. April 2009

Es sei, so schrieb ich hier unterm 18. September vorigen Jahres, „ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!”

Die Rede war von unserem Zuckerpott. Nun ist er perdu, oder putt, wie es in der Kindersprache heißt. Nachdem mir Ende März ausgerechnet eine triviale Maggiflasche – wie peinlich! – auf den Zuckerpott gefallen war und er seither einen feinen Riss in seiner dünnen Haut hatte, ging er am Ostersonntag endgültig in die Brüche. Indirekt trug ich auch daran die Schuld, weil ich den Zuckerpott auf eine wacklige Gartenbank gestellt und dann dort vergessen hatte. Milan wackelte daran und – pardauz!

Dreizehn Scherben!

Nun sind wir auf der Suche nach einem angemessenen Ersatz, was sich als gar nicht so einfach zu erweisen scheint. Wir suchen ja wieder ein ähnlich bauchiges Gefäß, mit einem Fassungsvermögen, das ausreichend groß ist und uns bei unseren zahlreichen süßen Gästen nicht zwingt, alle nasenlang Zucker nachzufüllen. Ein Deckel muss nicht sein, der würde nur stören und ohnehin ganz weit hinten im Küchenschrank verschwinden.

Es soll nach Möglichkeit auch kein langweiliges Massenprodukt sein. Neulich entdeckten wir eine Blumenvase aus Porzellan, die von der Form und Größe her wenigstens in etwa mit unserem altgedienten Pott Ähnlichkeit hatte. Aber die Öffnung war etwas arg eng, wie Ulla fand. Und zudem schien die schneeweiße, schmucklose Vase uns beiden dann doch zu langweilig-beliebig. Vermutlich werden wir am ehesten noch auf einem Flohmarkt fündig, die Freiluftsaison hat ja gerade begonnen. Oder sollte ich das Ereignis zum Anlass nehmen, mir den Zucker ganz abzugewöhnen?

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Monday, 20. April 2009

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Korbes et al.

Friday, 17. April 2009

Morgen lese ich vor angemeldetem Publikum in einer Oberhausener Psychotherapie-Praxis.

Die Einladung dorthin verdanke ich Ullas Freundschaft zu Eva, einer der beiden Therapeutinnen, die seit vorigem Jahr mit ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Eva zu Gast bei meinen Literarischen Soireen ist.

Ungewohnt an dieser Situation ist, dass ich vor mehrheitlich Fremden lese. (Selbst bei der Siemsen-Matinee im Grillo-Theater am 26. Oktober vorigen Jahres setzte sich etwa die Hälfte meines Publikums aus meinen langjährigen „Fans” zusammen.)

Deshalb ging ich bei der Komposition des Programms auf Nummer sicher und wählte sieben nicht allzu lange Texte aus, die hoffentlich erheitern werden, ohne mit ihrem teils etwas makabren Hautgout allzu sehr zu brüskieren. Von den dreißig Plätzen in dem hellen, freundlichen Gruppenraum der Praxis sind nach Auskunft der beiden Evas zwei Drittel durch Voranmeldungen besetzt. Ob alle angemeldeten Personen tatsächlich erscheinen werden, bleibt zudem abzuwarten. Immerhin hat sich das frühlingshafte Osterwetter gestern verabschiedet. Ein spontaner Biergartenbesuch dürfte also kaum als Konkurrenz zu meiner Soiree gefährlich werden.

Wie üblich spiegelt sich in meiner Textauswahl einerseits mein aktuelles literarisches Interesse wieder, insofern ich Kostproben von Alfred Polgar und Victor Auburtin aufgenommen habe; andererseits habe ich auf einige meiner erprobten und bewährten „Evergreens” zurückgegriffen, die zum Thema – Klitzekleine Katastrophen – passen, so etwa die schröckliche Geschichte des verschluckten Auges von Hermann Harry Schmitz [siehe Titelbild] und Herr Korbes von den Gebrüdern Grimm. Besondere Mühe habe ich mir mit den Programmzetteln gegeben, die ich als limitierte, nummerierte und signierte Einblattdrucke auslegen werde.

Mittwochenend

Thursday, 16. April 2009

Gestern beantwortete Team2 vom Abo-Service der SZ meine Reklamation mit folgender E-Mail:

„Sehr geehrter Herr Hessling, vielen Dank für Ihre Nachricht bezüglich der fehlenden Wochenendbeilage vom 11. 04. 2009. Wegen technischer Probleme bei der Produktion lag diese Beilage der Samstagsausgabe vom 11. 04. 2009 nicht bei. Leider ist die Beilage vergriffen. Unsere Vertriebsleitung teilte uns jedoch heute mit, dass die Beilage nachgedruckt wird und morgen am 15. 04. 09 der SZ beigelegt werden soll. Sollte die Beilage morgen nicht dabei sein, bitten wir nochmals um eine kurze Mitteilung, wir werden dann versuchen von München aus diese nachzuliefern. Freundliche Grüße i. A. […].”

Und tatsächlich, der heutigen Süddeutschen Zeitung liegt die achtseitige Wochenendbeilage von Nr. 84 bei, wie auf der Titelseite dieser Nr. 86 angekündigt: „Aus technischen Gründen fehlte die Wochenend-Beilage in einer Teilauflage unserer Osterausgabe. Wir bitten, dies zu entschuldigen. Süddeutsche Zeitung Wochenende wird heute nachgeliefert.” Das ist sehr erfreulich.

Schade, dass wir Leser bei dieser Gelegenheit nicht erfahren, was genau denn die genannten „technischen Gründe” waren. Eigentlich erwartet man an dieser Stelle eine Formulierung wie „durch einen technischen Fehler”. So klingt es ja geradezu, als sei das Versäumnis der Beilegung begründet gewesen, und zwar sogar technisch und nicht etwa bloß menschlich. Technische Gründe gelten ja allgemein als von vornherein entschuldigt. Insofern leuchtet es nicht recht ein, wofür sich die SZ-Redaktion dann eigentlich meint entschuldigen zu müssen.

Aber egal. Ich bin jedenfalls froh, nun stolzer Besitzer der so sehnlich erwarteten Zeitungsblätter zu sein, zumal sie erwartungsgemäß einen Artikel enthalten, der in unmittelbarem Zusammenhang zu einem Schwerpunktthema meines Weblogs steht. Nun weiß ich also endlich, warum ich mit geradezu triebhafter Hartnäckigkeit auf Nachlieferung dieser Wochenend-Beilage drängen musste. Doch davon vielleicht später einmal mehr.

Querulanz

Tuesday, 14. April 2009

Manchmal kann ich mich mit etwas partout nicht abfinden. Nachträglich lässt sich meist gar nicht mehr rekonstruieren, was es eigentlich und speziell war, das mir so sehr gegen den Strich ging. Aber wenn es mich wieder einmal erwischt hat, gibt es kein Halten mehr und ich muss so lange auf meinem wirklichen oder vermeintlichen Recht bestehen, bis ich meinen Dickkopf durchgesetzt habe. Das hat mir schon manche Blessuren beschert und zudem viel Zeit und Kraft gekostet. Und dennoch: Wenn es wieder so weit ist, komme ich gegen die Versuchung nicht an. So auch diesmal.

Diesmal hat mich meine Tageszeitung erwischt – oder ich sie, ganz nach Standpunkt. Ich mache es mir hier leicht und zitiere wörtlich die E-Mail, die ich heute an die zuständige Abo-Service-Abteilung geschickt habe:

„Sehr geehrte Damen und Herren, als Abonnent in Essen erhielt ich am Samstag die Süddeutsche Zeitung (Nr. 84) ohne die auf der Titelseite angekündigte Beilage ,Wochenende‘. Ich reklamierte dies bei Ihrem Abonnenten-Service unter Tel. 0180 5455900. Mir wurde die Nachlieferung noch für Samstag fest zugesagt. – Heute, Dienstag, erhielt ich per Bote ein zweites Exemplar, leider wieder ohne den Wochenend-Teil. Nach erneuter Reklamation unter der genannten Nummer erklärte mir ein Herr W., dass leider die komplette Auflage der Oster-SZ in meiner Region ohne den Wochenend-Teil zugestellt worden sei und mir die Beilage auch nicht nachträglich zugestellt werden könne. Er bot mir eine Gutschrift für dieses Exemplar der SZ an.

Das hilft mir nun leider nicht weiter, denn ich benötige den Wochenend-Teil der Nr. 84 unbedingt! Hätte ich bereits am Samstag erfahren, dass er mir über die SZ nicht zur Verfügung gestellt werden kann (wie der übrigens sehr freundliche Herr W. hartnäckig beteuerte), dann hätte ich Freunde in einer anderen Region bitten können, mir ein Exemplar am Kiosk zu besorgen. – Ich vertraue darauf, dass Sie einen Weg finden werden, mir als treuem Abonnenten und Leser Ihrer Zeitung den so dringend benötigten Wochenend-Teil nachträglich doch noch zugänglich zu machen. – Mit freundlichen Grüßen Ihres Manuel Hessling.”

Jetzt bin ich gespannt auf die nächste Episode. Möglich, dass die SZ mir zum Beispiel ersatzweise eine Kompensation anbietet, als Trostpflästerchen für den entgangenen Wochenend-Teil. Vielleicht erhalte ich eins der zahlreichen Präsente aus dem SZ-Shop, etwa „das Notizbuch zum Sammeln eigener Aufzeichnungen und Geistesblüten. Nicht nur für Golfer, sondern für alle – jeden Tag. Hochwertig ausgestattet mit Zeichenband, Einstecktasche und Verschluss.” Will ich aber nicht! Wie ich mich kenne, würde ich es umgehend zurückschicken, versehen mit einer Geistesblüte auf der ersten der 192 Seiten, die sich gewaschen hätte. Aber warten wir’s ab.

Minimixa

Tuesday, 14. April 2009

Papst Benedikt XVI. gibt die Richtung vor und seine Getreuen machen’s nach, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Das festtägliche Ablassen Ärgernis erzeugender Provokationen gehört mittlerweile schon zum postmodernen Ritus der katholischen Kirche. Diesmal war es erneut Bischof Walter Mixa (67), der sich absichtsvoll im Ton vergriff – und prompt sprang die liberale Presse darauf an, und in den Internetforen schäumte der Volkszorn.

Was hat Mixa nun eigentlich gesagt? Die vom Nationalsozialismus und Kommunismus begangenen Massenmorde seien eine unmittelbare Folge des um sich greifenden Atheismus gewesen. Wieder einmal habe ich allen Grund, solch einen offenbar tiefgläubigen Kirchenmann zu beneiden. Wie gemütlich muss er es doch haben, da er sich seine Welt und deren Geschichte mit so schlichten Schwarzweißmalereien zurechtlegen kann.

Leider ist diese neueste Pointierung des klerikalen Standpunkts – nennen wir den Quatsch mal so – kaum zu einer Erwiderung tauglich. Noch wer ihn halbwegs ernst nähme, machte sich so lächerlich wie etwa jene(r) „Tobermory” im Spon-Forum, der/die sich zu dieser Erkenntnis aufschwingt: „Nicht jeder Atheist ist ein potentieller Massenmörder. Umgekehrt ist nicht jeder Katholik ein Widerstandskämpfer.” Wer hätte das gedacht?

In die gleiche unterste Schublade gehört heuer zu Ostern der Protestschrei von Markus Hörwick (52), Sprecher des Fußball-Clubs Bayern München e. V., der etwas gefunden hat. Es war aber kein Osterei, sondern „vielleicht die schlimmste Entgleisung, die es in den deutschen Medien jemals [!] gegeben hat.” Vermutlich kennt Hörwick den Stürmer nicht, sonst müsste ihm die Geschmacklosigkeit seines Superlativs unmittelbar einleuchten.

Mittlerweile sind wir dort angelangt, wo Fußball längst viel mehr als die wichtigste Nebensache und Religion längst viel weniger als die unwichtigste Hauptsache der Welt ist: ganz unten. Schlechte Zeiten für Zeitkritiker.

Hotdog

Monday, 13. April 2009

Bekanntlich spiele ich persönlich ja am liebsten Schach. Dennoch verweigere ich mich nicht, wenn meine Tochter wieder einmal eins jener neuzeitlichen Gesellschaftsspiele zu einem geselligen Beisammensein mitbringt, bei denen die Zeit wie im Flug vergeht, man oft genug ziemlich dumm aus der Wäsche schaut und gelegentlich sogar etwas über sich und seine Mitspieler lernen kann. Einen Spielverderber will ich mich nicht schimpfen lassen.

Heute war Cranium an der Reihe, ein kreatives Denk- und Ratespiel, bei dem man unter anderem seine Teamkollegen durch Pantomimen, Zeichnungen (mit offenen oder geschlossenen Augen), Melodiengesumme und ähnliche Albernheiten dazu bringen muss, vorgegebene Namen oder Begriffe zu erraten.

Als ich an der Reihe war, stellte sich mir die Aufgabe, mittels eines Klumpens grünen Knetgummis einen Hamburger darzustellen, jene Delikatesse aus der Fast-Food-Küche, die sich so großer Beliebtheit erfreut und die, wie ich vom Hörensagen weiß, eine nicht geringe Schuld an der adipösen Verunstaltung unserer Jugend trägt.

Ich hatte 60 Sekunden Zeit, die Hamburger-Skulptur zu kneten. Als sie unter meinen geschickten Händen Gestalt annahm, scholl mir aus dem Kreise meiner Teamkollegen entgegen: „Hotdog! Hotdog!” Verzweifelt bemühte ich mich, die Konturen noch präziser herauszuarbeiten, aber das erlösende Wort „Hamburger” wollte meinen Mitspielern einfach nicht über die Lippen kommen.

Als die Minute abgelaufen war, musste ich mich darüber belehren lassen, dass eine Wurst zwischen zwei Brötchenhälften mitnichten ein Hamburger ist, wie ich immer angenommen hatte, sondern eben ein Hotdog; und dass es sich bei einem Hamburger um eine gegrillte Rinderhackscheibe zwischen zwei Brötchenhälften handelt. „Bist du denn noch nie bei McDonalds gewesen?” Doch, vielleicht drei- bis fünfmal insgesamt, aber dann habe ich mir immer nur eine Portion Pommes frites gekauft. In den folgenden zehn Minuten wurde ich von jenen Spielteilnehmern, die mich noch nicht so gut kennen, verstohlen beäugt wie ein seltenes Insekt. Aber daran bin ich ja gewöhnt.

Stumpf

Monday, 13. April 2009

[Ohne Worte.]

Vier Söhne

Saturday, 11. April 2009

[Ohne Worte.]

Pizzaraten

Saturday, 11. April 2009

Wenn uns wieder mal zu später Stunde die letzte Straßenbahn Linie 6 Richtung Pestalozziplatz vor der Nase weggefahren war, vertrieben wir uns die Zeit bis zum Eintreffen der ersten Bahn am nächsten Morgen mit Ratespielen.

Solange die Straßenbeleuchtung noch ein fahles Licht spendete, spielten wir „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.” Oder blau, grün, gelb. Das war dann die Zipfelmütze des Weihnachtsmannes auf einem Werbeplakat für die Aidshilfe undsoweiter.

Ab drei Uhr brannte nur noch eine Lampe über dem Fahrplan des Wartehäuschens. Ihr Lichtkegel erhellte gewöhnlich einen großen Flatschen Erbrochenes, denn ganz in der Nähe befand sich die Pizzeria Marianna, die für ihre verdorbenen Zutaten bekannt war, weshalb sie von uns und allen regelmäßigen Besuchern dieses Kiezes strikt gemieden wurde, nicht so hingegen von arglosen Durchreisenden, die es nach Verzehr einer Pizza in aller Regel gerade noch bis zur Haltestelle schafften, wo sie dann undsoweiter.

Herbie war beim Pizzaraten unübertroffen. Wenn Wuzz und ich wie aus einem Munde auf Pizza Toscana tippten, weil wir einen öligen Schinkenstreifen und drei halbe Champignons erspäht hatten, korrigierte Herbie hämisch: „Von wegen! Was ist denn das da? Eine Krabbe. Und das? Scheibsken Salami. Capricciosa, Capricciosa!”

Erdreistete man sich, die Zuverlässigkeit seines Auges in Zweifel zu ziehen, war Herbie durchaus imstande, einem die Beweismittel handgreiflich nahezubringen. So gewann Herbie immer. Vielleicht lag es daran, dass Pizzaraten im Jahr drauf von Autoquartett abgelöst wurde.

Umspült

Thursday, 09. April 2009

„Seit Ende 32 u. insbesondere seit Frühling 33 verbrauche ich einen Theil meiner Lebenskraft im Kampfe um die Möglichkeit, im Reiche der reinen transzendentalen Geistigkeit leben u. die mir anvertraute Lebensaufgabe durchführen zu können. Die Sintflut der allzumenschlichen Menschlichkeit, die mich umspült, das gewaltsam Hineingerissenwerden in diese Weltlichkeit (da ich doch nur sein darf in der tranquillitas animi [geistigen Gelassenheit] des ,unbetheiligten transzendentalen Zuschauers‘, als reiner Functionär des Absoluten), erfordert immer neue Selbstüberwindungen, Anspannungen, Kraftverluste. Dazu Zwang zu äußerer Geschäftigkeit, Ratgeben, helfen, mitsorgen, vielfältige – weltgebundene Correspondenzen. Sie wissen wohl, daß ich evangelischer NichtArier bin, also mit den Familien meiner Kinder mitbetroffen. Denken können Sie sich auch, was es für mich bedeutete, daß mir das Recht abgesprochen ist mich noch deutschen Philosophen nennen zu dürfen. […] Es ist freilich nicht leicht hinzunehmen, wie die redlichsten Arbeitserwerbe eines Lebens u. die wahrhaft für die Zukunft eines neuen Menschthums entscheidenden Entdeckungen aus letzter, transzendentaler Selbstbesinnung, in die verderblichsten Modephilosophien karrikiert, entseelt, verdorben, kastriert werden. Aber ich bin solange in splendid Isolation, solange ich in Seelenruhe leben kann, statt meinen Horizonten durch die trüben, übelriechenden Nebel der niedrigen Weltlichkeit entfremdet zu sein.”

So schreibt der 74-jährige Philosoph Edmund Husserl unterm Datum vom 17. Mai 1934 aus Freiburg im Breisgau an den ihm befreundeten Schriftsteller Rudolf Pannwitz, der sich schon 1921 auf die kroatische Insel Koločep zurückgezogen hatte. (Hier zitiert nach der zum Einstieg in das schwierige Denken des Philosophen trefflich geeigneten Anthologie Husserl. Ausgewählt u. vorgestellt v. Uwe C. Steiner. München: Diederichs, 1997, S. 87 f.)

(Nebenbei bemerkt haben Pannwitz und Husserl beide ein Werk zur Krise des abendländischen Denkens geschrieben: Die Krisis der Europaeischen Kultur von Rudolf Pannwitz erschien 1917 im Verlag von Hans Carl in Nürnberg; Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie von Edmund Husserl wurde posthum erst 1954 als Band VI seiner Gesammelten Werke, der „Husserliana”, herausgegeben.)

Edmund Husserl wurde nach seiner Emeritierung 1928 Schritt für Schritt aus der offiziösen deutschen Philosophie hinausgedrängt. 1933 wurde er gegen seinen Willen beurlaubt, drei Jahre später entzog man ihm die Lehrerlaubnis. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zwang ihn, aus der von Arthur Liebert in Belgrad gegründeten philosophischen Organisation auszutreten, und lehnte 1937 sein Ersuchen ab, am IX. Internationalen Kongreß für Philosophie in Paris teilzunehmen. Im Sommer 1937 wurde das Ehepaar Husserl aus seiner Freiburger Wohnung in der Lorettostraße 40 vertrieben. Schließlich erteilte ihm sein Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhl in Göttingen in seiner Funktion als Rektor gar für alle Gebäude der Universität Hausverbot. Der hatte in der 5. Auflage seines Hauptwerkes von 1941, drei Jahre nach dem Tod seines Lehrmeisters, die Widmung – „Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet” – pflichtschuldigst entfernt. Sein Name: Martin Heidegger.

Heute vor 150 Jahren wurde Edmund Husserl im mährischen Proßnitz, heute Prostějov, geboren.

Endspiel

Wednesday, 08. April 2009

Wenn ich den Zeitkritikern des neuen Jahrhunderts lausche, habe ich immer ein flaues Gefühl. Meine verhaltene Zustimmung ist jedenfalls Lichtjahre entfernt von der rückhaltlosen Euphorie, die ich für die 68er-Rebellen empfand, für die Yippies und Spontis, Situationisten und Provos, LSD-Propheten und Orgon-Forscher, Antipsychiater und Happening-Artisten meiner wilden Jugendjahre.

Wenn ich mir die Lamentos der saturierten Linken und selbstgefälligen Grünen heute anhöre, und selbst noch bei den radikaleren Statements außerparlamentarischer Initiativen wie Attac oder von NGOs wie Greenpeace, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese braven Weltfürsorger allesamt den Schuss noch nicht gehört haben. Sie glauben offenbar allen Ernstes, dass auf althergebrachte Art und Weise noch was zu retten ist. Und wenn ich höre, wie jemand über steigende Spritpreise klagt und wenig später über die Finanzkrise jammert mit dem ironischen Kommentar, immerhin sei jetzt das Benzin wieder billiger, dann möchte ich gern einwenden, dass die schlechten Nachrichten in diesen Trendmeldungen leider gerade die scheinbar guten sind – und die eigentliche Katastrophe die unbewusst zynische Reaktion solcher Zeitgenossen. Aber das versteht ja kaum einer.

Als 1972 der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums beschrieb und fünf Jahre später mit der Studie Global 2000 im Auftrag von Jimmy Carter diese prophetische Warnung mit einer Fülle von Fakten untermauert wurde, da fanden solche Hiobsbotschaften immerhin noch bei den kritischen und wohlmeinenden Zeitgenossen eine gewisse Resonanz. Wer sich heute erdreistet, die naheliegendsten, offensichtlichsten Tatsachen über unsere unmittelbare Zukunft in den Blick zu nehmen und etwa die Daseinsbedingungen der nach der Jahrtausendwende Geborenen gegen Ende ihres Lebens zu prognostizieren, der findet kein Gehör mehr. Die Gefahren, die uns aus der nachhaltigen und irreversiblen Schädigung und Zerstörung unserer Umwelt drohen, sind zu groß, als dass die meisten von uns sie noch als reale Bedrohung wahrnehmen könnten; sie sind, nach einem Wort von Günther Anders, „überschwellig”.

Jetzt hat ein Buch mein Interesse geweckt, das scheinbar anachronistisch genug ist, genau diesen verstörenden Blick über die Schwelle zu wagen. Es heißt Endgame, sein Autor ist der „Anarcho-Primitivist” – so wird er tatsächlich genannt – Derrick Jensen (* 1960) und es liegt seit Kurzem in einer zweibändigen deutschen Übersetzung vor.

Ein paar editorische Merkwürdigkeiten sind vielleicht ganz interessant. Im amerikanischen Original hat Band 1 den Untertitel The Problem of Civilization, Band 2 heißt schlicht Resistance. Daraus macht der Pendo-Verlag, der die deutsche Ausgabe herausgebracht hat, Zivilisation als Problem und Das Öko-Manifest – Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können. Befremdlich auch, dass Pendo das Erscheinen von Band 2 auf seiner eigenen Internet-Seite bisher noch nicht annonciert hat! Bezeichnend, dass heute in keiner einzigen Buchhandlung meiner Vaterstadt, nicht bei Thalia und nicht bei der Mayerschen, und erst recht natürlich nicht bei den kleineren Läden, auch nur ein einziges Exemplar dieses Buches vorrätig war. Und nach solchen vielversprechenden Hinweisen verwundert es mich nicht, dass keiner meiner sonst stets gut über zeitkritische Novitäten auf dem Buchmarkt informierten Freunde je von Jensens Endgame gehört hat. Selbst einen deutschen Wikipedia-Artikel über diesen Autor sucht man bisher vergeblich. – Na, wenn das mal kein ganz heißer Tipp ist!

[Demnächst mehr zu Endgame unter dieser Adresse.]

Krieg dem Kriege (IV)

Tuesday, 07. April 2009

Heute nun bin ich bei meiner Menschenrauch-Lektüre bis zu jenem Streit zwischen Klaus Mann und Christopher Isherwood vorgedrungen, den Mann in seinem Wendepunkt auf den 15. Juli datiert hat. (Den Konflikt aus der Sicht von Klaus Mann habe ich in meinem ersten Beitrag dieser Reihe ausführlich zitiert.)

Interessanterweise bringt nun Nicholson Baker eine Darstellung aus der Perspektive des pazifistischen Kontrahenten, oder doch immerhin nach dessen Tagebuch: „Christopher Isherwood traf sich zum Mittagessen mit Thomas und Katia Mann und ihrem Sohn Klaus. Isherwood und Klaus Mann gerieten in Streit über den Krieg. Klaus Mann verlangte von Isherwood ein öffentliches Bekenntnis zur Sache der Alliierten – sein Schweigen werde falsch ausgelegt. Klaus Mann bezeichnete sich zwar als Pazifisten – er persönlich könne niemanden töten. Doch jetzt sei Pazifismus nicht angebracht. ,Wenn man zulässt, dass die Nazis alle umbringen, dann lässt man auch den Untergang der Zivilisation zu.‘

Isherwood brachte ein Argument vor, das er von Aldous Huxley gehört hatte: ,Die Zivilisation stirbt ohnehin an Blutvergiftung, sobald sie die Waffen ihrer Feinde einsetzt, also Verbrechen mit Verbrechen vergilt.‘ Mann entgegnete, Bekenntnisse zum Pazifismus könnten nur den Nazis und der fünften Kolonne nützen. ,Genau deshalb halte ich ja den Mund‘, sagte Isherwood. Es war der 8. Juli 1940.” (Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger u. Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009, S. 236; zit. nach Christopher Isherwood: Diaries. Vol. 1. Ed. by Katherine Bucknell. New York: HarperCollins, 1996, S. 99 f.)

Tatsächlich fand das Gespräch zwischen Mann und Isherwood wohl weder am 8. noch am 15. Juli 1940 statt, sondern am 7. Juli, denn Klaus Mann schreibt unterm Datum vom 8. Juli in seinem Tagebuch: „Gestern, Christopher Isherwood hier zum Lunch. Nett. Mit ihm geschwommen. Viel geredet. (Zum Problem des integralen Pazifismus, à la Aldous Huxley. – Auden’s unklare Stellung. Christophers eigene Unklarheiten und mannigfache Bedenken. Mir alles nicht ganz verständlich. Trotzdem Sympathie für seine Integrität und Bemühtheit.)” (Klaus Mann: Tagebücher 1940-1943. Hrsg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995, S. 47.)

Um die Ansichten und die daraus folgenden Verhaltensweisen komplizierter und vielschichtiger Zeitgenossen zu verstehen, muss man sie auseinandernehmen wie Küchenmaschinen und anschließend wieder zusammensetzen [s. Titelbild]. Wenn sie dann noch funktionieren, sind sie ihr Geld wert.

tweet 1

Monday, 06. April 2009

1500 blogger trafen sich jüngst in berlin unterm motto shift happens, um über die zukunft ihres metiers zu fachsimpeln. beobachter meinten,

Dilemma

Monday, 06. April 2009

Wie geht er mit folgender Situation um? Er fühlt sich gegenwärtig, von einigen kleineren, unbeträchtlichen Einschränkungen einmal abgesehen, ausgezeichnet, so gut wie schon lange nicht mehr, besser als seit vielen Jahren. Seine Tage verbringt er in großer Gelassenheit, genießt seinen bescheidenen Wohlstand, verfügt über seine Zeit nach Gutdünken, erledigt den größten Teil von dem, was er sich vornimmt, ohne allzu große Anstrengung, hat Freude an seiner selbstbestimmten Arbeit und kommt gut mit jenen engeren Mitmenschen aus, an denen ihm wirklich gelegen ist.

So weit, so gut – wäre da nicht ein gewisses ungewisses Morgen, an dem all diese erfreulichen Lebensumstände mit einem Male in Frage gestellt sein können. Damit ist, um genau zu sein, in etwa einem Jahr zu rechnen. Soweit nicht ein unwahrscheinlicher Glücksfall dazwischentritt, geht dann sein Dolce Vita, das hier allerdings nicht mit Müßiggang gleichzusetzen ist, unweigerlich dem Ende entgegen. Der Quell seines Wohlbehagens versiegt, die Gnadenfrist vor seiner unausweichlichen Verarmung ist abgelaufen.

Freilich wäre er der Letzte, der sein Heil allein aus materiellen Gütern ableiten wollte. Aber es ist andererseits nicht zu leugnen, dass ohne einen gewissen Mindestkomfort seine Arbeit bald zum Erliegen kommen muss. Dass diese Voraussetzungen üblicherweise als Allüren eines verschrobenen Exzentrikers bewertet werden, macht es nicht gerade leicht, Verständnis für sie zu finden. Aber was das betrifft, war er noch nie verwöhnt. In der Rolle des unvernünftigen Kauzes hat er sich vielmehr längst gemütlich eingerichtet.

Worin besteht dann aber sein Problem? Da er nun doch so präzis weiß, woran er ist, nahezu auf den Tag genau weiß, wieviel Zeit ihm noch bleibt, auf Heller und Cent weiß, welche Mittel ihm zur Verfügung stehen, könnte er ja eigentlich mit großer Gelassenheit sein Ziel, sein seit vielen Jahren um vordringlicherer Forderungen willen aufgeschobenes Lebensziel endlich erstreben und erreichen, sein geplantes Werk verwirklichen, tun, was er nicht lassen kann.

Stattdessen ist er gehemmt durch die Sorge um die Zukunft. Er wird von Vorstellungen gepeinigt, die eine ferne Zeit betreffen, und kann darum die Gegenwart nicht so nutzen, wie es im günstigsten Falle möglich und für die Verwirklichung seines Ideals auch nötig wäre. Er zerbricht sich den Kopf über Schwierigkeiten, die erst in einem Jahr konkret werden. Und das ist doch eine sehr ferne Zeit, oder? Jedenfalls wäre es so, wenn er die Gegenwart, jeden einzelnen heutigen Tag, vollkommen ausschöpfte. Genau dies gelingt ihm aber nicht, wenn er in Kummer und Sorge an den fernen Tag denkt, an dem sich unabweisliche Fragen stellen, was dann werden soll, wovon er bitteschön denn leben, wie er wohnen soll. – Das ist das ewige Dilemma, der eigentliche Grund für unsere eingebildete Sterblichkeit.

irgendeine

Sunday, 05. April 2009

die gute frau mit
harter hand
mund

aufgebracht an einem tag wie
heute gestern übermorgen
verwandt geküsst mein

herzverbrannt gedankenasche tand und gold
das böse hirn am seidenband
mein rostger nagel
heiß und hold
und rund

du dirn
bleib bei mir
steh mir bei dein atem

geh
mit mir
hinüber ins grau

Protected: Titelromane

Sunday, 05. April 2009

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Duftnote

Friday, 03. April 2009

Eine Zeit ohne Wörter heißt ein frühes Buch des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker (*1932), eins der ersten Bücher überhaupt, die ich mir als fünfzehnjähriger Schüler von meinem Taschengeld gekauft habe. Wer will das wissen? Ich wüsste gern, wie ich damals dazu gekommen bin, mir von meinen paar Groschen ausgerechnet dieses Bilderbuch zu kaufen. (Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1971.)

Auf ungefähr 200 unpaginierten Seiten enthält Beckers Buch Schwarzweißfotos des Autors von Straßen und Häusern, Wiesen und Wäldern, Schienen und Mauern, Spiegelungen und Schatten. Menschen kommen vor, aber sozusagen nur am Rande. Ganz auf Wörter verzichtet das Buch nicht, auf einigen verstreuten durchnummerierten fotolosen Seiten erscheinen wenige Wörter, die wie Ankündigungen oder Titel der nachfolgenden Bilder gelesen werden können und vielleicht wollen: „Der letzte Satz in den Umgebungen.” „Dreißig Minuten in der alten Umgebung.” „Die näherkommende Katastrophe des Autobahnzubringerbaus” usw. bis „Gegenstand in der Dellbrücker Landschaft. Für meinen Vater und seine Familien.

Beckers Fotos sind nicht brillant, nicht professionell, keine Kunst. Vielleicht könnte man sie dokumentarisch nennen. Beim oberflächlichen Durchblättern baut sich vorübergehend diese oder jene Erwartung auf, wie das Ganze zu verstehen sein könnte, die aber an anderer Stelle und durch andere Fotos bald schon wieder enttäuscht wird. Das macht das Bilderbuch, ganz wie man es nimmt, zu einem frustrierenden oder gerade interessanten Coffee Table Book.

Die Tristesse, die von der überwiegenden Mehrzahl der Aufnahmen ausgeht, erschien mir seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, wie beißender Spott; eine Anklage gegen unsere bundesrepublikanische, eben beginnende Siebzigerjahrewelt, die ihre Zukunft schon damals hinter sich zu haben schien. Erst jetzt, in der vielbeschworenen „Krise”, wird diese vorzeitige Überlebtheit offenkundig, die feine Nasen frühzeitig erschnupperten. Insofern könnte man Beckers stilles Buch prophetisch nennen, wenn es denn eine Botschaft hätte.

Ich frage mich, ob man heute noch oder wieder solch ein Fotobuch machen könnte. Ob ich es könnte. Mit meinen Snapshots hatte ich ganz ursprünglich vielleicht so etwas vor. Ich bin vermutlich davon abgekommen, weil es mich zu sehr deprimierte, als meine Stimmung ohnehin nicht die beste war. Jetzt, da ich gelegentlich wieder lächle, kann ich in sparsamer Dosierung ein Trauerbild dieser Art einstellen. Wer’s nicht mag und nicht erträgt, möge die Augen niederschlagen.

Zufallsfund

Friday, 03. April 2009

Bei antiquarischen Buchbestellungen via Internet kauft man manchmal die Katze im Sack, falls nämlich die Beschreibung des ersehnten Buches lückenhaft ist. Dann gibt es lange Gesichter, wenn mehr oder weniger versteckte Mängel – vom Eselsohr bis zur Kugelschreiberwidmung auf der Titelseite: „Ewig bleipst Du unvergesslich Deine Elly aus Kirchhellen zum Weihnachts-Feste 1956″ – die Freude an einer Erstausgabe von Jürgen Thorwalds Das Jahrhundert der Chirurgen dämpfen.

Gelegentlich, leider nur sehr selten, werden solche Enttäuschungen aber kompensiert durch unerwartete Vorzüge eines alten Buches, die gewiss auch dem anbietenden Antiquar entgangen sind, denn sonst hätte er ein Vielfaches des Preises verlangen dürfen und zweifellos auch erhalten.

Soeben traf – ich kann aus verständlichen Gründen leider nicht präziser werden – die illustrierte Ausgabe eines weniger bekannten expressionistischen Lyrikers bei mir ein, die mich unmittelbar nach dem Auspacken nicht gerade zu Ausrufen der Begeisterung hinriss. Der dunkelblaue Pappeinband war im oberen Drittel durch Sonnenlicht ausgeblichen. Zudem haftete dem Bändchen ein intensiver Kellergeruch an. Beides hatte die Beschreibung des Anbieters im Katalog unterschlagen.

Lustlos blätterte ich das Büchlein durch, um zu prüfen, ob wenigstens die zwölf Stahlstiche vollständig und unversehrt enthalten seien, als plötzlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier herausfiel und vor mir auf dem Boden landete.

Um es kurz zu machen: Es handelt sich um einen handschriftlichen Brief des Philosophen und Zivilisationskritikers Günther Anders vom 10. Dezember 1982 (Ausschnitt s. Titelbild). Wenn man weiß, wie sehr ich diesen Autor schätze, wird man begreifen, dass mich dieser Zufall geradezu in einen Freudentaumel versetzte. Damit ist mancher Ramsch, den in den letzten Monaten weniger freundliche Stimmungen des Schicksals in meine Bibliothek gespült haben, gnädig verziehen. Und nun scheint sich endlich auch der Frühling durchzusetzen. Vielleicht wird 2009 ja doch ein ertragreiches Jahr?

Protected: Iwan

Thursday, 02. April 2009

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Worfeln

Wednesday, 01. April 2009

Ein denkwürdiger, bemerkenswerter, wertvoller Tag ist für mich immer schon einer gewesen, an dem ich ein neues Wort lernte. Heute kam ich dazu auf Umwegen, als mir zu einem jüngst getanen Ausspruch von Joachim Kardinal Meisner die schöne Bibelstelle einfiel, wo es – nach der Verdeutschung von Martin Luther – heißt: „Verstehestu die Sache / so vnterrichte deinen Nehest / Wo nicht / so halt dein maul zu.” (Jesus Sirach 5, 12.)

Um die Stelle hier korrekt zitieren zu können, nahm ich meine abgenutzte Jerusalemer Bibel zur Hand – und stolperte unmittelbar vor dem gesuchten Satz über einen anderen, der meine Neugier weckte: „Worfle nicht bei jedem Wind, / und geh nicht auf jedem Pfad!” (Jesus Sirach 5, 9.) Worfeln? Hatte ich nie gehört. Was sollte das denn sein? Jetzt weiß ich’s. Schon vor Urzeiten trennte man so die Spreu vom Weizen, und zwar nicht im übertragenen Sinne. Das gedroschene Stroh wurde aus einem flachen Korb, der Worfel, bei Wind in die Höhe geworfen (s. Titelbild). Dann wurde die leichte Spreu fortgeweht, während das schwerere Korn in den Korb zurückfiel. Entscheidend war für das Gelingen dieser Arbeit, dass der Wind genau die richtige Stärke hatte. War er zu schwach, fiel die Spreu mit dem Korn zurück in den Korb; war er zu stark, wurde auch das Korn davongeweht. So erklärt sich der Ratschlag: „Worfle nicht bei jedem Wind.” Im übertragenen Sinne könnte man vielleicht sagen: Urteile nicht, wenn du zu unbeteiligt bist; aber auch nicht, wenn du zu parteiisch bist.

Meisner sprang jüngst dem Papst bei, nach dessen umstrittener Einlassung zur Haltung der katholischen Kirche über die Art und Weise, wie die Verbreitung von Aids in Afrika bekämpft werden sollte. Benedikt XVI. meinte im Gespräch mit dem französischen TV-Journalisten Philippe Visseyrias, das Problem Aids könne man nicht bloß mit Werbeslogans überwinden. „Wenn die Seele fehlt, wenn die Afrikaner sich nicht selbst helfen, kann diese Geißel nicht mit der Verteilung von Kondomen beseitigt werden. Im Gegenteil, es besteht das Risiko, das Problem zu vergrößern.” Die wie üblich unbesonnenen, ja geradezu hysterischen Reaktionen aus dem Lager der Papstgegner zwischen Merkel und Cohn-Bendit reduzierten Benedikts Statement auf den Satz: „Kondome erhöhen Aids-Gefahr!” Wieder einmal hatte der Papst erreicht, dass man über ihn sprach, dass sich ein großer Teil seiner Gegner dabei blamierte und dass seine Anhänger ihm applaudieren konnten.

Einer der routiniertesten Trittbrettfahrer päpstlicher Verkündungen ist seit Beginn des Ratzinger-Pontifikats sein Landsmann Meisner. Auch in der Kondom-Frage konnte der Kardinal zu Köln wie üblich sein Maul nicht halten: „Dem Papst wurde unterstellt,” so ereiferte sich Meisner in BILD, „er habe alle Welt aufgefordert, keine Kondome zu benutzen. Das hat er aber gar nicht getan. Der Papst hat keinen Mann, der wahllos mit Frauen schläft, aufgefordert, jetzt auch noch auf Kondome zu verzichten. Vielmehr hat er darauf hingewiesen, dass man dafür sorgen muss, dass solche Männer auf ihren unverantwortlichen Umgang mit Sexualität verzichten. Er verlangt eine ,Humanisierung der Sexualität‘, wie der Papst das genannt hat. Dazu muss man, wie das die Kirche tut, die Armut bekämpfen und vor allem die Frauen stark machen.”

Dass sich immer noch zahllose Zeitgenossen wahlweise über die Meinungsäußerungen von Leuten wie Ratzinger oder Meisner empören oder ihnen begeistert zustimmen, hat zwei plumpe Gründe. Erstens: Diese Männer antworten nicht klar und deutlich auf die Fragen, die man ihnen stellt. Zweitens: Sie beherzigen nicht den guten Rat aus Jesus Sirach 5, 12. Insofern sind sie ihren Pendants vom anderen Lager zum Verwechseln ähnlich. Die hören nicht genau hin und lassen sich dazu verführen, missverständliche Statements in ihrem Sinne auszulegen, woraufhin man ihnen berechtigterweise vorwerfen kann, mit haltlosen Unterstellungen zu agitieren. Und was Jesus Sirach betrifft, sind sie auch keinen Deut besser als die geistlichen Würdenträger.

[Wird fortgesetzt.]

Protected: Crisis?

Sunday, 29. March 2009

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Krieg dem Kriege (III)

Saturday, 28. March 2009

Zu Beginn des Monats war ich auf die eben erschienene deutsche Übersetzung von Nicholson Bakers Human Smoke aufmerksam geworden, eine Montage aus Zitaten zur Vorgeschichte und zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs, von August 1892 bis zum 31. Dezember 1941, mit der der amerikanische Romancier aus der vorgeblichen Neutralität des Archivars seinen bitteren Beitrag zum Pazifismus leisten will in einer Zeit, in der wir vom ewigen Frieden vielleicht weiter entfernt sind als je zuvor.

Mittlerweile habe ich die ersten 150 der insgesamt 500 Textseiten gelesen und kann mir vielleicht ein vorläufiges, vorsichtiges Urteil erlauben. (100 weitere Seiten entfallen auf die Quellennachweise und das Personen- und Sachregister.) Wohl noch nach jedem Krieg hat man die allgemeine Frage, wie er hat entstehen können, auf die speziellere verengt, welcher der kriegführenden Parteien die Schuld an seinem Ausbruch anzulasten sei. In aller Regel ziehen die Besiegten hierbei den Kürzeren, denn die Sieger haben mit dem Krieg auch die Vorherrschaft über die Geschichtsschreibung gewonnen.

Wenn ich Baker richtig verstehe, will er das ewige bipolare Einerlei von Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger, Sieger und Besiegtem überwinden, indem er eine dritte Stimme wieder ins Spiel bringt, die in dieser Deutlichkeit erstmals im 20. Jahrhundert vernehmbar war: die des Pazifismus, jenes radikalen Humanismus über alle Staatengrenzen und ideologischen Gegensätze hinweg, dessen vielleicht bekannteste Parteigänger Bertha von Suttner, Mahatma Gandhi und Aldous Huxley waren.

Das Buch ist bei seinem Erscheinen in Großbritannien und den USA im vergangenen Jahr von der Kritik mehrheitlich verrissen worden. Dem Autor wurde unterstellt, dass er mit seinem blauäugigen Pazifismus jene Appeasement-Politik zu rehabilitieren suche, die doch gerade 1938 gegenüber Adolf Hitler de facto gescheitert und damit für alle Zukunft diskreditiert sei. Dabei ist Nicholson Bakers Hinweis doch zunächst einmal sehr ernst zu nehmen, dass die demokratischen Staaten der westlichen Welt ihre Kriegsbeteiligungen nach 1945 allesamt mit dem Verweis auf das Verhängnis einer Nachgiebigkeit à la Appeasement gerechtfertigt haben und dass dieses reflexartig vorgebrachte Argument mittlerweile auch zum Führen von Offensivkriegen taugt, wie zuletzt gegen Saddam Hussein. Selbst wenn die Schlüsse, die die Zitate in Menschenrauch nahelegen, falsch sein sollten, weil sie durch eine selektive und manipulative Zusammenstellung suggeriert werden, so ist doch gegen die gute Absicht nichts einzuwenden, dieses große Thema „Appeasement vs. Präventivkrieg” noch einmal etwas gründlicher und voraussetzungsloser in den Blick zu nehmen, als dies zuletzt üblicherweise geschah.

Einerlei, ob ich Bakers Thesen, so sich solche denn überhaupt eindeutig ausmachen lassen, zuletzt folgen werde oder nicht – ein Lob muss ich dem Buch schon jetzt spenden: Es verdeutlicht, dass wir es uns zu leicht machen, wenn wir glauben, 1 + 1 = Krieg sei eine zuverlässige Gleichung zur Erklärung und Begründung des Massengemetzels.

Stubenbrand

Friday, 27. March 2009

Neulich traf ich eine alte Bekannte, die mir von einem schweren Schicksalsschlag berichtete. Sie hatte bei einem Brand ihrer Wohnung buchstäblich alles verloren. Oder, wie sie es ausdrückte: „Alles bis auf mein Leben, die paar Sachen, die ich auf dem Leib trug – und mein Auto, mit dem ich gerade unterwegs war, als sich der Kurzschluss ereignete.” Ich wollte gerade weit ausholen und sie in phantasievoller Detailfreude bedauern, denn ich erinnerte mich sofort an eine Vielzahl beneidenswert schöner Dinge in ihrem Haushalt, an eine Standuhr etwa, ein Erbstück vom Urgroßvater mütterlicherseits, oder an eine Erstausgabe von Koeppens Tauben im Gras, mit einer sehr ungewöhnlichen Widmung des Autors. „Du wirst lachen”, fiel sie mir ins Wort, „aber ich bin schon längst darüber hinweg. Und ich habe mich lange nicht mehr so frei und unbeschwert, so voller Tatendrang und Lebenslust gefühlt wie in den letzten Wochen. Es ist wie ein radikaler Neubeginn, die ganz große Chance, meinen Alltag von Grund auf neu zu ordnen.”

Ein paar Tage später besuchte ich sie in ihrem neuen Heim, einer kleinen Wohnung unterm Dach eines Altbaus, sehr hell, sehr still – und sehr leer. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein schmaler Spind; in der winzigen Küche ein Gasherd, ein Waschbecken, eine Art Anrichte und der unentbehrliche Kühlschrank, der allerdings etwas aus dem Rahmen fiel. „Den hatte ich kurz vor der Katastrophe neu bestellt und er war glücklicherweise noch nicht geliefert worden. Der Rest ist, wie du siehst, gebrauchter Kram, von Freunden, vom Flohmarkt und vom Sperrmüll.” Erstaunlicherweise schien mir das Dachstübchen geräumiger als die frühere, vergleichsweise geradezu weitläufige Wohnung meiner Bekannten, in der man ständig auf der Hut sein musste, nicht über eins ihrer ausgesucht dekorativen und gewiss wertvollen Möbelstücke zu stolpern.

Ich wurde zwar im weiteren Verlauf unserer Unterhaltung den Verdacht nicht ganz los, dass sie sich mit ihrem Bekenntnis zu diesem geradezu mönchischen neuen Dasein über den Schmerz des Verlustes hinwegtrösten wollte. Andererseits war nicht zu leugnen, dass ich sie lange nicht mehr so aufgeräumt und ausgeglichen erlebt hatte wie an diesem Abend. Und unser Gespräch war erstaunlich „konzis”, wenn das das richtige Wort ist; man könnte vielleicht auch sagen: „unabgelenkt”. Ich trank dazu ein Glas Wasser aus dem Kran, was mir als sehr passend erschien.

Ein paar Tage nach diesem eindrucksvollen Antrittsbesuch in der neuen Wohnung meiner Bekannten stürzte mein Rechner ab. Auch dies war in gewisser Weise ein „Stubenbrand”, bei dem allerlei überflüssige „Einrichtungsgegenstände” unwiederbringlich verloren gingen: Textdateien, E-Mails, Adressen und manches mehr. Nach dem ersten Schreck nahm auch ich diese unfreiwillige Entrümpelung meines virtuellen Arbeitszimmers als eine willkommene Gelegenheit an, mein Tagwerk völlig neu einzurichten. Das hat mich knapp zwei Wochen gekostet, in denen ich nahezu mit nichts anderem beschäftigt war.

Die neue Übersichtlichkeit auf Festplatte und Monitor bewirkt durchaus eine erfreuliche Klarheit der Gedanken. Mit dem alten Archiv sind auch seine Ordnungssysteme auf Nimmerwiedersehen versunken und ich kann mir jetzt ganz neue ausdenken, die die zu spät erkannten Schwächen der alten vermeiden. Heute, um nur ein Beispiel zu nennen, lege ich mir gerade neue „Lesezeichen” in meinem Internet-Browser an. Im Ordner „Medien” etwa hatte ich vor dem Absturz die Links zu mindestens 50 Online-Auftritten nationaler und internationaler Zeitungen abgelegt, von der WAZ bis zur New York Post. Völlig überflüssig! Jetzt habe ich mich auf ein knappes Dutzend beschränkt. Ich ahne allerdings, dass in ein paar Jahren der schleichende Wildwuchs diese wohltuende Übersichtlichkeit wieder zunichte gemacht haben wird. Aber dann wird vermutlich, hoffentlich wieder ein Kurzschluss im System für Tabula rasa sorgen.

8° 22′ N 62° 39′ W

Thursday, 26. March 2009

A: »Erschrick bitte nicht. Ich bin es! Erkennst du meine Stimme noch?« – B: »A? Nein! Ich glaube es nicht!« – A: »Doch, ganz richtig, ich bin es. Ich bin ganz zufällig in der Stadt, hab geschäftlich hier zu tun, du weißt, was ich meine. Vermutlich ist es eine sehr schlechte Idee gewesen, dich anzurufen. Verzeih mir, ich …« – B: »Nein, bitte! Leg nicht auf. Ich denke gerade in letzter Zeit wieder ständig an dich. Du musst wissen, dass ich sehr krank bin.« – A: »Das tut mir leid.« – B: »Du musst mich nicht bedauern, jeder bekommt, was er verdient. Aber ich würde dich so gern sehn. Wo bist du jetzt?« – A: »Daraus kann nichts werden. Ich hocke in einem schäbigen kleinen Hotel am anderen Ende der Stadt und warte auf meinen Geschäftsfreund, der mich spätestens in einer halben Stunde abholen wird. Anschließend muss ich Venezuela so schnell wie möglich verlassen, wie du dir denken kannst.« – B: »Dann ist es wirklich grausam, dass du mich angerufen hast.« –  A: »Ich konnte nicht widerstehen.« – B: »Was soll ich nun davon halten?« – A: »Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, weil ich dir eine Frage stellen muss.« – B: »Bin nicht eher ich diejenige, die das Recht hat, Fragen zu stellen? Nicht nur eine, sondern viele Fragen.« – A: »Ich kann dir deinen Zorn nachfühlen. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Es ist lange her und wir sollten es ruhen lassen. Meine Frage betrifft übrigens auch gar nicht die Vergangenheit.« – B: »Es ist lange her, ja, vielleicht nach dem Kalender und bestimmt für dich. Für mich ist es aber, als wäre es gestern gewesen. Für mich sind die Uhren in jener Nacht stehengeblieben, als du …« A: »Still! Sei still, sonst muss ich auflegen.« – B: »Schon gut.« – A: »Was ist das übrigens für ein kleiner Dicker, der dich an den Wochenenden regelmäßig besucht?« – B: »Du bist doch ein verfluchter… Du hast mich bespitzeln lassen.« – A: »Ich muss eben gewisse Vorkehrungen treffen, wie du weißt. Meine Neugier ist rein professionell.« – B: »Der ,kleine Dicke‘, wie du Y nennst, ist ein entfernter Verwandter, der lange in Europa gelebt hat. Ein Seelenarzt. Er besucht mich als guter Freund und Therapeut. Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich längst in den Guri gesprungen. War das deine Frage?« – A: »Nein. « – B: »Was dann?« – A: »Entschuldige mich einen Moment, bitte.« – B: »Was ist denn jetzt?« – A: »Ich bin sofort wieder da.«

A: »Da bin ich wieder.« – B: »Ist dein ,Geschäftsfreund’ eingetroffen?« – A: »Nein, ich habe nur die Vorhänge zugezogen, damit ich Licht machen kann. Es dämmert bereits.« – B: »Ja, das weiß ich. Aber ich liebe die Dunkelheit, seit ich das Leben hassen gelernt habe.« – A: »Ganz die alte B: Neigung zur Übertreibung. Melodramatische Zustände. Suizidale Phantasien. Oder wie nennt dein Freund, der Seelenarzt, dergleichen?« – B: »Jetzt hör mir mal gut zu, mein Lieber: Ich verspüre nicht die geringste Neigung, mir deine ebenso taktlosen wie unverschämten Spötteleien über meinen gesundheitlichen Zustand anzuhören. Wenn ich noch nicht aufgelegt habe, dann allein deshalb, weil …« – A: »Weil was?« – B: »Ach, ich weiß es auch nicht. Vielleicht, weil ich neugierig bin und gerade nichts Besseres zu tun habe.« – A: »Apropos: Was tust du denn eigentlich so? Ich meine: Wovon lebst du?« – B: »Das ist wieder ein Thema, über das ich nicht mit dir zu sprechen gedenke.« – A: »Schade. Ich habe mich jedenfalls etwas gewundert, dass du nicht mehr untervermietest. Ganz mutterseelenallein in diesem riesigen Haus, das ist doch etwas verwunderlich, findest du nicht? Und wenn ich es richtig in Erinnerung habe, waren zu meiner Zeit die Untermieter deine einzige Erwerbsquelle, wenn man mal davon absieht, dass du nebenher noch …« – B: »Schweig!« – A: »Schon gut. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.« – B: »Eben. Willst du mir nicht endlich deine Frage stellen? Deine die Gegenwart betreffende Frage?« – A: »Was glaubst du?« – B: »Was weiß denn ich, was du mich fragen willst. Wir haben uns seit … lass mich rechnen … bestimmt seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen, nichts voneinander gehört. Woher soll ich also wissen, was du mich fragen willst? Ich war gerade auf dem besten Weg, dich endlich zu vergessen. Und jetzt stell sie endlich, deine gottverdammte Frage!«

A: »Ich habe sie doch schon gestellt: Was glaubst du?« – B: »Ach, nein! Du willst mit mir über Glaubensfragen diskutieren? Ausgerechnet du? Vermutlich hast du noch gestern bei einem deiner Flittchen gelegen; und heute schneidest du einem wildfremden Menschen für ein paar lausige Bolívares die Kehle durch. Zwischendurch aber kommt dir in den Sinn, die gute alte A anzurufen und mit ihr ein gepflegtes Telefongespräch über religiöse Themen zu führen. Sag mal: Hast du sie noch alle?« – A: »Die Frage ist mir ganz ernst.« – B: »Na, schön. Aber warum stellst du sie ausgerechnet mir? Auch wenn es lange her ist, müsstest du dich doch noch gut daran erinnern, dass ich mit dem lieben Gott und der unsterblichen Seele und der Wahl zwischen Himmel und Hölle rein gar nichts anfangen kann.« – A: »Das war vor zwanzig Jahren so, ich weiß. Aber es könnte sich ja mittlerweile geändert haben.« – B: »Wie kommst du darauf? Hast du auch meine geheimsten Gedanken ausspionieren lassen? Hast du mir Hellseher vor die Haustür gestellt?« – A: »Mach dich nicht lustig.« – B: »Ich habe vielmehr den Eindruck, dass du dich über mich lustig machen willst.« – A: »Weit gefehlt.« – B: »Ach A, hättest du doch nicht angerufen!«

A: »Willst du meine Frage nun beantworten? Die Zeit läuft uns davon.« – B: »Ja!« – A: »Was, ,ja‘?« – B: »Meine Einstellung hat sich geändert.«

A: »Ich dachte es mir.« – B: »Du dachtest es dir. Warum?« – A: »Es hat nie zu dir gepasst.« – B: »Was?« – A: »Na, der Unglaube. Nenne es, wie du willst.« – B: »Ich glaube nicht, dass du auch nur von ferne einen Begriff davon hast, was ich meine, wenn ich zugebe, dass sich meine Haltung in diesen Dingen geändert hat. Weil du nämlich damals meine ganz andere Auffassung ebenfalls völlig missverstanden hast.« – A: »Mag sein.« – B: »Glaub mir, es ist so. – Eines kann ich aber nicht begreifen.« – A: »Nämlich?« – B: »Warum ausgerechnet dieses Thema dich so sehr beschäftigt, dass …« – A: »Ich habe eben ein paar Erfahrungen gemacht.« – B: »Willst du mir davon erzählen?« – A: »Vielleicht später einmal. Jetzt muss ich Schluss machen. Leb wohl, einstweilen.« – B: »Warte noch! Ich muss dich … hallo?«

Ein Jahr …

Wednesday, 25. March 2009

… ist es nun schon wieder her, dass ich diesen Schreibversuch mit einem Text über meine ersten Online-Schach-Erfahrungen gestartet habe. Nahezu täglich ist seither ein fünf Absätze langer Beitrag von mir unter dieser Adresse erschienen. In den seltenen Fällen, da dies nicht geschah, am 16. Dezember, 8. und 9. März, waren es ausschließlich technische Schwierigkeiten, die die Publikation verhinderten.

„Täglich erscheint ein Beitrag mit jeweils fünf Absätzen, in seltenen Fällen erfolgt die Publikation eines Beitrags mit einem Tag Verzögerung.” So lautet die Verpflichtung, die ich mir freiwillig auferlegt und im Impressum definiert habe. Diese möglicherweise etwas zwanghaft anmutende Regel hat natürlich ihren guten Grund. Verfolgt man die Entwicklungsgeschichte von Weblogs jeglicher Couleur, ist nämlich folgendes Muster überaus verbreitet. Die Neulinge starten mit den besten Absichten, es sprudelt geradezu aus ihnen heraus, sie publizieren anfangs mehrere Artikel pro Tag, kommen dann aber aus der Puste, die Abstände zwischen den Beiträgen werden immer größer und schließlich versiegt die Quelle ihrer Eingebungen ganz, ihre Kräfte erlahmen und sie bleiben auf der Strecke. Das Netz ist so in wenigen Jahren zu einem gigantischen Weblog-Friedhof geworden. Allerdings fristen die unzähligen Gräber dieses virtuellen Gottesackers ein Schattendasein abseits der öffentlichen Wahrnehmung, denn es gibt keine Wegweiser, die auf sie verweisen, keine Wege, die zu ihnen hinführen würden.

Mit meiner Selbstverpflichtung wollte ich mir immerhin die Peinlichkeit ersparen, mit stolzgeschwellter Brust als Marathonläufer an den Start zu gehen, um hundert Meter später mit hängender Zunge zugeben zu müssen, dass ich besser gleich als Sprinter angetreten wäre. Das dürfte mir wohl gelungen sein. Eine andere Frage ist freilich, ob die Texte ein einigermaßen gleichbleibendes Niveau halten konnten. Das eher nicht. Wie sollte ich jederzeit vermeiden können, dass sich der eine oder andere Tiefausläufer meines Stimmungsklimas in meinem Geschreibsel niederschlägt? Bin ja schließlich auch nur ‘n Mensch!

Die Versuchung war daher zuletzt keine kleine, bei einer Art „Frühjahrsputz” eine Anzahl schwächerer Elaborate aus dem Vorratsspeicher zu eliminieren, was ja in dieser schönen neuen Datenwelt herrlich einfach ist, rückstands- und geräuschlos per Mausklick. Nun bin ich aber leider ein ausgesprochener Sammler und werfe so schnell nichts weg, ganz gleich, ob es sich um fremde Briefe, schlechte Bücher oder eigene Texte handelt. Erst wenn die Schubladen, Regale, Schränke, Kisten und Keller aus allen Nähten platzen, kann ich mich dazu durchringen, Ballast abzuwerfen. Auch der Speicherplatz, den ich bei meinem Webhoster gemietet habe, ist natürlich begrenzt. Aber ich habe von den 2.500 MB, die mir dort zur Verfügung stehen und für die ich monatlich 8,90 € bezahle, gerade einmal acht Prozent genutzt. Warum also entrümpeln, wenn der weitaus größte Teil der Lagerhalle leer steht?

Ich mache also weiter wie bisher. Erklärungsbedürftig bliebe insofern nur noch mein langes Schweigen in den letzten zwölf Tagen. Was soll ich sagen? Dass ich Urlaub gemacht habe? Dass ich mich einer gesundheitlichen Generalinspektion unterziehen musste? Dass ich ein hartnäckiges RSI-Syndrom auskurieren musste? Schön wär’s ja, wenn diese zwölf Tage so leicht zu erklären wären, doch ist der Grund [s. Titelbild], am Rande der Legalität, ein überaus komplexer, für gewöhnliche Sterbliche völlig unverständlicher, für ungewöhnliche Sterbliche unter Umständen sogar gefährlicher – und muss darum hier mit vornehmem Schweigen übergangen werden. Da sich dergleichen aber rein theoretisch jederzeit wiederholen kann, habe ich im diesbezüglichen Absatz des Impressums eine kleine Ergänzung vorgenommen.

Glücklos (II)

Thursday, 12. March 2009

So was kommt dabei heraus, wenn man einen ehemaligen Kulturstaatssekretär damit beauftragt, den Interviewer zu spielen. Dabei sollte doch eigentlich eine renommierte Wochenzeitung wie die ZEIT wissen, dass die Kunst des Interviewens kein hemdsärmelig zu bewerkstelligendes Nebengeschäft für jeden hergelaufenen Politiker und Schreiberling ist, mag er es zu noch so großer Prominenz und Macht gebracht haben.

Da stellt dieser Michael Naumann tatsächlich und ungelogen die dümmste und hohlste aller Interviewer-Fragen – und zwar keinem Geringeren als Philip Roth, dem von ihm hoch favorisierten Nobelpreis-Kandidaten: „Sind Sie glücklich, Mr. Roth?” (Wer es nicht glauben mag, kann es hier nachlesen: Die Zeit der neuen Ernsthaftigkeit. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth über das Alter, den Antiamerikanismus und sein Leben in den Büchern; in: Die Zeit Nr. 6 v. 29. Januar 2009, S. 48.)

Und was antwortet Mr. Roth? „Ich frage mich nicht, wer oder was ich bin. Ich bin derjenige, der an diesen und mit diesen Büchern arbeitet. Schreiben ist nicht identisch mit Selbstfindung. Es gleicht mehr der Arbeit an einem Objekt, das aus Charakteren, Handlungen und Wörtern gemacht ist. Ich arbeite die ganze Zeit.” Das antwortet Mr. Roth nicht etwa auf Fragen danach, was er sich selbst fragt oder wer er ist oder was das Schreiben für ihn bedeutet oder was er die ganze Zeit über tut, wenngleich jede einzelne dieser Fragen längst nicht so bescheuert gewesen wäre wie die von Herrn Naumann gestellte. Entweder hat Mr. Roth gar nicht gehört bzw. verstanden, was Herr Naumann von ihm wissen wollte; oder dessen Frage hat ihn dermaßen perplex gemacht, dass er daraufhin nur noch völligen Unsinn zum Besten geben konnte.

Doch Herr Naumann lässt nicht locker. „ZEIT: Aber sind Sie glücklich? ROTH: Das frage ich mich niemals. ZEIT: Warum nicht? ROTH: Weil es mich nicht interessiert. Ich frage mich nur: Geht es voran mit der Arbeit? Und wenn ich an einem Buch sitze, bin ich lebendig. Ich wache morgens auf und will sofort an die Arbeit. Die schlimmste Zeit ist diejenige zwischen zwei Büchern. Dann weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich gehe in drei Museen, und dann ist das erledigt. Aber was soll ich mit meiner Zeit anfangen? Ich bin einfach zum Schreiben da, und wenn ich nicht schreibe, komme ich mir vor wie ein Wagen, dessen Räder im Schnee durchdrehen.”

Jetzt wissen wir’s. Es wäre keine gute Idee, den Nobelpreis für Literatur an Mr. Philip Roth zu vergeben, denn damit würde man ihn kaum glücklich machen. Und selbst wenn man ihn glücklich machte, würde er dies vermutlich gar nicht merken, denn er fragt sich nach eigenem Bekenntnis ja niemals, ob er glücklich ist. Es interessiert ihn nicht. Und die Reise nach Stockholm würde ihn nur von der einzigen Beschäftigung abhalten, die ihn wirklich interessiert. Insofern ist es natürlich kompletter Humbug, wenn man in einem nicht namentlich gezeichneten Intro zu dem ZEIT-Interview (S. 47) liest: „Wahrscheinlich ist kein Schriftsteller so oft als Kandidat für den Nobelpreis genannt worden – eine jährliche Folter, die er wahrlich nicht verdient hat. Die Schwedische Akademie sollte sie durch eine rasche Vergabe beenden.” Da steht tatsächlich „Folter”. Ich fasse es nicht.

Der kleine Stowasser

Thursday, 12. March 2009

Manche Autoren und Herausgeber waren mit ihren Nachschlagewerken so erfolgreich, dass ihr Familienname mit den Jahren zum Markenzeichen geworden ist und in seltenen Fällen gar für eine ganze Gattung steht. So steht Baedeker geradezu als Synonym für Reiseführer, Brockhaus für Lexika, Duden für deutsche Wörterbücher, Diercke für den Schulatlas – oder eben der Stowasser fürs Schulwörterbuch im Fach Latein. Erstmals im Jahre 1894 von dem Wiener Gymnasiallehrer Joseph Maria Stowasser in den Verlagen von Georg Freytag (Leipzig) und Friedrich Tempsky (Prag und Wien) herausgegeben, erschien es seither in regelmäßigen Neubearbeitungen als das Standardwerk seiner Art. So ist der Kleine Stowasser bis heute jedem „alten Lateiner” und jedem jungen Pennäler ein Begriff und nach wie vor auf dem Weg zum Großen Latinum ein stets zuverlässiger Begleiter.

Habe ich da nicht einen schönen Werbetext zusammenfabuliert? Dabei bedürfen Bücher wie die zuletzt genannten ja gar keiner Reklame. Ihre Anschaffung wird den Schülern traditionell zwangsweise auferlegt, und Bücher, die man erwerben muss, sind in aller Regel selbst dann unbeliebt, wenn die Kosten dank Lernmittelfreiheit der Staat übernimmt. Zudem war das Erlernen einer „toten” Sprache wie Latein noch nie sonderlich populär. Und wenn ich mir mein Exemplar des Kleinen Stowasser aus dem Jahr 1968 ansehe, so war dieses Buch schon rein äußerlich kaum dazu angetan, die Abneigung gegen dieses schrecklich verstaubte Schulfach zu mildern. Die deutschen Wörter waren damals noch in Fraktur gesetzt, um sie von den lateinischen deutlich abzuheben. Was für die Schüler vor dem Zweiten Weltkrieg eine Erleichterung bei der Handhabung des Wörterverzeichnisses gewesen sein mag, war für uns eine zusätzliche Schikane, denn diese sonderbare Druckschrift, bei der man zum Beispiel z und g leicht verwechseln konnte und es zwei verschiedene s gab, von denen das eine wie f aussah, las man sonst nirgendwo mehr.

Seit Ende der 1970er-Jahre setzte sich dann sogar in diesem altehrwürdigen Schulbuchverlag allmählich ein fortschrittlicher Geist durch. Unter der Gesamtredaktion von Hubert Reitterer und Wilfried Winkler erschien 1979 ein völlig neu bearbeiteter Kleiner Stowasser, erstmals ohne Frakturschrift. (Seither sind lateinische Wörter im Stowasser in Antiqua und deutsche in Grotesk gesetzt.) Und weitere 15 Jahre später hatte sogar ein kreativer Kopf in der Werbeabteilung des Verlags den originellen Einfall, den österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser (1928-2000), einen entfernten Verwandten des Altphilologen Stowasser, mit der Gestaltung des Einbandes [s. Titelbild] zu beauftragen, nachdem das kauzige Multitalent schon 1989 durch eine Sonderausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie als Buchkünstler hervorgetreten war. (Seinen Künstlernamen leitete Hundertwasser vom russischen Wort sto ab, das „hundert” bedeutet.)

Ich beneide die heutigen Schüler um dieses wunderschöne Wörterbuch, in dem ich stundenlang blättern und schmökern könnte, allein schon, weil es mir Spaß macht, versteckte Wurzeln nur scheinbar ursprünglich deutscher Wörter im Lateinischen zu entdecken. Ich bin mit einem mittelprächtigen Kleinen Latinum vom Gymnasium abgegangen und daher heute leider nicht in der Lage, die Oden des Horaz im Original zu lesen. Aber obwohl ich das deutsche Sprichwort vom Hans kenne, der nimmermehr lernt, was er als Hänschen nicht gelernt hat, will ich mich mit meinen zahlreichen Bildungsbeschränkungen nicht abfinden. Mein jüngster Sohn hat Nachhilfe in Latein nötig. Mal sehen, wie weit ich ihm helfen kann.

Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von J. M. Stowasser, M. Petschenig u. F. Skutsch. Gesamtredaktion: Fritz Lošek. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 2006. – XXXIV & 574 S., 17,0 x 24,0 cm, Leinwand, Fadenheftung. – Originalpreis: 24,95 €.

Gitta Sereny: Am Abgrund

Tuesday, 10. March 2009

Seit langer Zeit schon hat mich kein Buch mehr so aus der Bahn geworfen wie dieses. Ich mag es eigentlich niemandem zur Lektüre empfehlen; die Verantwortung für die Spuren, die sie hinterlässt, möchte ich nicht tragen. Aber noch mehr belastet mich die Vorstellung, dass dieses Buch auf Leser treffen könnte, die ihm mit Gleichgültigkeit begegnen. Schließlich weiß ich, welche Formen seelischer Verarmung möglich sind, welche Fälle von Abstumpfung unbehandelt vor sich hin vegetieren. Übrigens ist schon die Editionsgeschichte dieses Buches geeignet zu verstören. Nach seinem Erscheinen im englischen Original vergingen mehr als sechs Jahre, bis es auch in einer deutschsprachigen Fassung vorlag – nachdem es, wie die Autorin in ihrer Danksagung eingangs lakonisch bemerkt, „bereits in allen anderen westlichen Sprachen veröffentlicht” worden war. Gitta Sereny, Tochter eines Ungarn und einer Deutschen, hatte zwar ihre Kindheit und frühe Jugend in Wien verbracht, lebte aber seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr im deutschen Sprachraum. Der Ullstein-Verlag hätte gut daran getan, Into That Darkness von einem professionellen Übersetzer ins Deutsche übertragen zu lassen, statt diese Aufgabe der Autorin zu überlassen. So gibt es manche Holprigkeiten in der deutschen Erstausgabe von 1979. Für die überarbeitete Neuausgabe beim Piper-Verlag, aus dem Jahr 1995, wurde Helmut Röhrling als Übersetzer gewonnen. Beide Ausgaben sind seit vielen Jahren vergriffen und auch antiquarisch nicht immer leicht zu beschaffen.

Ausgangspunkt von Serenys „Gewissensforschung”, wie sie das Buch im Untertitel nennt, ist die Lebensgeschichte des Kommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl (1908-1971). Sie hatte im April und Juli 1971 Gelegenheit, mit Stangl in Düsseldorf zahlreiche Gespräche zu führen, wo dieser in Untersuchungshaft saß und auf das Ergebnis seiner Revision gegen das Urteil wartete, das über ihn verhängt worden war: lebenslange Haft wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an mindestens 400.000 Juden. Zudem hat sie viele weitere Gespräche mit Zeitzeugen, Opfern und Tätern und deren Angehörigen geführt. Sie hat die Orte des grauenvollen Geschehens in Polen aufgesucht und umfangreiches Quellenstudium betrieben. Es ist, bei allem Unglück, das wie Pech an diesem Thema klebt, doch ein seltener Glücksfall, fast so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass dieser infernalische Stoff in Gitta Sereny seine gleichermaßen akribische wie sensible Meisterin gefunden hat.

Der Sommer 1943 hätte so schön sein können, auch in dem kleinen Dorf Treblinka im Osten Polens. „Aber Sie müssen sich einmal vorstellen, was es für uns bedeutete, hier zu leben.” Der darum bittet, ist Francizek Zabecki, zur Zeit des Gesprächs 65 Jahre alt, früher Mitglied der polnischen Untergrundarmee und Vorsteher des Ortsbahnhofs von Treblinka. „Jeden Tag, ganz früh am Morgen diese Stunden des Entsetzens, wenn die Züge ankamen, und die ganze Zeit – schon nach den ersten Tagen – dieser Geruch – diese dunkle neblige Wolke, die über uns hing, die den Himmel in diesem heißen und schönen Sommer bedeckte, sogar an den herrlichsten Tagen – nicht eine Regenwolke, die Erlösung von der Hitze versprach, sondern eine schweflige Dunkelheit, die diesen pestartigen Gestank in sich trug. – Ganz zu Anfang gab es eine Periode, während der meine Frau überhaupt nichts mehr tun konnte. Sie konnte den Haushalt nicht mehr versorgen, sie konnte nicht kochen, sie konnte nicht mit den Jungen spielen, sie konnte nicht essen und kaum schlafen. Sie hatte eine Art völligen Nervenzusammenbruch. Als ich Kriegsgefangener gewesen war, war sie zurechtgekommen, aber jetzt war sie völlig zusammengebrochen. Dieser extreme Zustand, in dem sie sich befand, dauerte etwa drei Wochen. Dann wurde sie fast pathologisch teilnahmslos: Sie tat ihre Arbeit, bewegte sich, aß, schlief, sprach … aber alles wie ein Automat …” (S. 162 f.)

Ganz willkürlich habe ich diese kleine Textprobe herausgegriffen, weil ich sie eben erst gelesen habe und nun das Bild von Pan Zabeckis leidender Frau in mir herumgespenstert, wie in den vergangenen Tagen viele ähnlich starke Bilder mit mir ihr Unwesen trieben, mich vor sich herscheuchten, mir an die Gurgel gingen und meine Träume verseuchten. (Ich habe zum ersten Mal, soweit ich mich erinnere, im Traum etwas gerochen.) Warum tue ich es mir an, in diesen Abgrund hinabzusteigen? Weil es ja unvermeidlich ist, wenn ich die Wahrheit unseres gegenwärtigen Zustands nicht umgehen will, eines Zustands, der immer einer nach diesen Ereignissen sein wird, auch als eine Folge davon. Machen wir uns nichts vor, es kann sich immer wiederholen, wenn wir es nicht in Schach halten. Dieses Buch sollte stets lieferbar sein.

Gitta Sereny: Am Abgrund. Eine Gewissenserforschung. Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, und anderen. Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein Verlag, 1979. – 416 S., 2 Lagepläne u. 15 Fotografien, 11,8 x 17,8 cm, kartoniert. – ‚Ullstein Sachbuch‘, Nr. 34024. – Originalpreis 12,80 DM.

Glücklos (I)

Sunday, 08. March 2009

Im Januar dieses Jahres gab der US-amerikanische Romancier Philip Roth (74) dem deutschen Verleger und ehemaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann (66) ein Interview. Äußerer Anlass des Gesprächs war das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Roths dreiundzwanzigstem Roman, Indignation, unter dem Titel Empörung. Philip Roth ist somit ein für heutige Verhältnisse emsiger Autor. Zum Lesen kommt er nebenher offenbar kaum. „Sie schreiben sehr schnell,” meint Naumann. „Thomas Pynchon schreibt so langsam, weil er sich von seinen erdichteten Charakteren nicht trennen mag.” Mal abgesehen davon, dass Pynchon vermutlich zwanzig- oder fünfzigmal so schnell schreibt wie Roth, wenn man nämlich unterm Akt des Schreibens mehr versteht als das bloße Zu-Papier-Bringen einer Geschichte, ist die Erklärung, die Naumann für diese angebliche Langsamkeit von Pynchons Arbeit findet, vollkommener Humbug. Roth kann ihm nicht widersprechen, denn er kennt Pynchon offenkundig nicht. So fragt er Naumann über Pynchon aus, der ihn aber auch nicht kennt, sondern nur so tut als ob.

Naumann erzählt Roth noch etwas, das der nicht weiß: Im Oktober vorigen Jahres habe Horace Engdahl (60), Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, die die Nobelpreise verleiht, sich abfällig über die amerikanischen Schriftsteller geäußert. Sie seien zu empfänglich für die Trends ihrer eigenen Massenkultur, worunter die Qualität ihrer Werke leide. Daraus zieht Michael Naumann den Schluss, weder Thomas Pynchon (70) noch Don DeLillo (71), weder Paul Auster (60) noch Richard Ford (63), weder John Updike (75, inzwischen verstorben) noch sein Gegenüber habe damit wohl noch eine Chance, den Nobelpreis für Literatur zugesprochen zu bekommen. Solche Spekulationen finde ich immer ausgesprochen langweilig, wie ja dieser bestdotierte Literaturpreis der Welt ohnehin an Ödnis kaum mehr zu überbieten ist. Statt Naumanns kleine Stichelei im Gewande einer peinlichen Anbiederung mit einem Achselzucken zu quittieren, oder noch besser mit einem unendlich langgezogenen Gähnen, geht Philip Roth hier tatsächlich an die Decke wie das HB-Männchen seligen Angedenkens:

„ROTH: Also, das hat er [Horace Engdahl] nicht gesagt. ZEIT: Doch, doch. ROTH: Aber warum? ZEIT: Vielleicht hat er einen antiamerikanischen Vogel? ROTH: Jeder, der irgendetwas von Literatur versteht, weiß, dass die amerikanische Literatur seit 1945 von dauerhafter, ja größter Stärke ist. Ich könnte mindestens 12, nein 15 amerikanische Autoren nennen … Also, nein, das kann er nicht gesagt haben. ZEIT: Hat er. Aber was weiß er?” (Michael Naumann: Die Zeit der neuen Ernsthaftigkeit. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth über das Alter, den Antiamerikanismus und sein Leben in den Büchern; in: Die Zeit Nr. 6 v. 29. Januar 2009, S. 47 f.) Es scheint ihm also tatsächlich etwas zu bedeuten, diesen Preis noch entgegenzunehmen. Nun könnte man zu Roths Gunsten vermuten, dass er bloß auf das Preisgeld in Höhe von 10 Millionen schwedischen Kronen scharf ist, das sind umgerechnet immerhin 1.086.650 US-$. Aber das ist es nicht.

Lieber Philip Roth! Jeder, der irgendetwas von Literatur versteht, weiß, dass die Vergabe des Nobelpreises noch niemals etwas über die Schönheit, Stärke, Sinnlichkeit, Originalität und formale Gediegenheit eines literarischen Werkes ausgesagt hat. Von Paul Heyse bis Harold Pinter ist die Liste der Preisträger ein Verzeichnis von Sternen zweiter bis dritter Ordnung. Marcel Proust, James Joyce, Franz Kafka, Robert Musil, Fernando Pessoa, Vladimir Nabokov, Jorge Luis Borges – sie alle sucht man vergeblich auf dieser Liste.

Das erste Buch von Philip Roth, das ich gelesen gelesen habe, war Portnoys Beschwerden. Das fischte ich als rororo-Bändchen aus einer Trödelkiste in Werden, Mitte der 1980er-Jahre. Ich habe mich streckenweise köstlich amüsiert über die Unbefangenheit, mit der er hier pubertäre Wettbewerbe – „Wer spritzt am weitesten?” – und familiäre Bräuche karikiert. In weiteren zehn Romanen von Roth war ich vermutlich auf der Suche nach etwas, das sich diesem unschuldigen ersten Leseerlebnis vergleichen ließe. Leider ohne Erfolg. Je älter Philip Roth wurde, desto „bedeutungsvoller” wurden seine Romane. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Man kann diese vielen Bücher gut lesen, sie sind unterhaltsam, abwechslungsreich, amüsant, zynisch und manches mehr. Aber zu den ganz Großen gesellt sich Philip Roth damit sicher nicht. Und insofern sollte es mich nicht wundern, wenn er in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielte, zumal der alte Schwede mit dem antiamerikanischen Vogel sein Amt zum 1. Juni 2009 an den Historiker Peter Englund (50) weitergeben wird.

[Es wird noch schlimmer: Fortsetzung folgt!]

Glück im Unglück

Saturday, 07. March 2009

Als ich vor dreißig Jahren begann, meine Brötchen im Buchhandel zu verdienen, schwappte gerade die erste ganz große Ratgeberwelle über den Verkaufstresen. Der Gentleman-Spekulant André Kostolany entführte uns ins Wunderland von Geld und Börse und enthüllte die Kunst, ein Vermögen zu machen. Die Kräuterhexe Maria Treben ermunterte uns, unsere kleinen und großen Wehwehchen mit den himmlischen Gaben aus der Apotheke Gottes zu kurieren. Und gleich ein halbes Dutzend strahlender Mutmacher, von Josef Kirschner über Paul Murphy und Thorwald Dethlefsen bis hin zu Norman Vincent Peale, predigten die Glück und Erfolg versprechende Kraft des positiven Denkens.

Wenn auch nur die Hälfte der abertausend Käufer dieser Gebrauchsanweisungen für ein erfülltes Erdendasein zwischen den Buchdeckeln gefunden haben, was sie sich erhofften, dann dürfte ich, als Händler solcher papierenen Heil- und Hilfsmittel, mir meinen Stammplatz im paradiesischen Jenseits zweifellos verdient haben.

So dachte ich wenigstens bis zum 15. September vorigen Jahres, als Lehman Brothers Insolvenz anmeldete, die globalisierte Finanz- und Wirtschaftsordnung ins Rutschen geriet und vor meinem inneren Auge jene Kostolany-Kunden der frühen 1980er-Jahre vorbeidefilierten, jammernd und klagend, mit erhöhtem Blutdruck und schweren Depressionen. Ich weiß nicht, welches Kräutlein Maria Treben für diesen Fall im Körbchen hatte. Ich meine mich aber zu erinnern, dass Kostolany-Kunden als Zweitbuch vielleicht noch den dicken Konz, Tausend ganz legale Steuertricks, zur Kasse trugen, kaum jedoch das Kräuterbuch der schlichten Naturheilkundlerin aus dem oberösterreichischen Grieskirchen.

Allenfalls könnte sich der eine oder andere dieser in dunkle Nadelstreifenanzüge gewandeten Spekulanten einen Stimmungsaufheller aus den Think-Positive-Tanks von Dr. Murphy & Co. geschnappt haben, für alle Fälle. Dort liest er dann jetzt, dass noch der schlimmste Schicksalsschlag sein Gutes hat – wenn man nur den rechten Blickwinkel findet.

Den findet man zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung vom 20. Februar 2009. Darin liest der gebeutelte und geplünderte Investor auf Seite 16: „Krise als Klimaretter – Flaute lässt CO2-Ausstoß sinken. Der Ausstoß von Treibhausgasen könnte aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise in diesem Jahr um bis zu acht Prozent zurückgehen. Das berichteten Meteorologen am Donnerstag auf dem Extremwetter-Kongress in Bremerhaven. Vor allem der erhebliche Rückgang des Wachstums in China führe dazu, dass die Treibhaus-Emissionen zwischenzeitlich nicht ansteigen.” Wir müssen uns bloß daran gewöhnen, dass schlechte Nachrichten für die Menschheit in aller Regel gute Nachrichten für den Rest der Erde sind – und uns dann noch unseren humanen Egoismus abgewöhnen. Ein Ratgeber von Josef Kirschner zielte allerdings in die entgegengesetzte Richtung, hieß er doch Die Kunst, ein Egoist zu sein. – Ach, ich fürchte, ich habe meinen Stammplatz im Paradies verwirkt!

Struwwelpläte

Friday, 06. March 2009

Ganz am Rande: Meine Haare haben mich nie glücklich gemacht. Vielleicht am ehesten ansehnlich waren sie in meinen allerersten Lebensjahren. Eine blonde Lockenpracht ist auf den Farbfotos der frühen 1960er-Jahre zu sehen, am Strand von Noordwijk aan Zee.

Dann wurde mir ein Kurzhaarschnitt verordnet, schließlich sollte man mich doch nicht mit einem Mädchen verwechseln. Die regelmäßigen Friseurbesuche an der Seite meines Vaters fand ich quälend wie alles, was mir eine künstliche Steifheit abnötigte und mich zu Tode langweilte.

Bald kam der Pilzkopf als neuer Standard, die Diktatur der Popkultur. Wer ihn bei den Eltern nicht durchsetzen konnte, wurde in der Schule gehänselt und hatte bei den Mädchen schlechte Karten. Mein Pech war, dass mir lange Haare nicht standen – oder, wörtlich genommen, eben gerade: völlig chaotische Wirbel. „Huch, die sind ja wie Draht!” So der Coiffeur im Salon Frank. „Da bricht mir glatt die Schere ab, har-har!”

Jetzt, in den besten Jahren, sind meine Haare fein wie Spinnfäden geworden. Ob das mit meinen veränderten Ernährungsgewohnheiten zusammenhängt? Oder mit meinen immer filigraner werdenden Denkgewohnheiten? Am Hinterkopf wird eine kahle Stelle Jahr für Jahr größer und größer, der sie umschließende Haarkranz schmaler und schmaler, wie ein Rauchring, den man gegen die Decke bläst.

Indes habe ich noch immer kein einziges graues Haar. Das Enzym Katalase ist in meinen Zellen offenbar noch ausreichend vorhanden und neutralisiert das Wasserstoffperoxid, das somit auch weiterhin keine Chance hat, das Enzym Tyrosinase anzugreifen und so die Aminosäure Methionin zu oxidieren. Diese Molekulardynamik, die zum Ergrauen führt, wurde erst jüngst wissenschaftlich ergründet. Mich würde mehr interessieren, warum man als Mann offenbar eher zur Glatze neigt, wenn man nicht ergraut; und warum Frauen weniger zur Glatze neigen als Männer. Aber auch das nur ganz am Rande. Da meine Haare – ich sagte es schon – mich noch nie glücklich gemacht haben, kann ihr Verlust mich auch nicht sonderlich unglücklich machen.

Rätsel

Thursday, 05. March 2009

Neulich wurde mir aus Pädagogenkreisen folgendes Rätsel zugetragen, dem offenbar eine wahre Begebenheit zu Grunde liegt.

Ein Schüler der achten Klasse hat zum wiederholten Male beim Aufsatz vollkommen versagt. Der Deutschlehrer bittet ihn, seiner Mutter zu bestellen, dass sie doch einmal in seine Sprechstunde kommen möge, damit man gemeinsam auf Abhilfe sinnen könne.

Die Mutter erscheint nicht. – Nach einer Weile spricht der Lehrer den Schüler wieder an, ob er vergessen habe, seiner Mutter die Einladung auszurichten.

Keineswegs, so beteuert der Schüler. Die Mutter habe ihm, jetzt falle es ihm wieder ein, sogar eine Entschuldigung mit auf den Weg gegeben. Und er kramt aus seiner Schultasche den oben abgebildeten Zettel hervor.

Frage: Wodurch war die Mutter verhindert, in die Schule zu kommen?

Ike a? Na!

Wednesday, 04. March 2009

Im vergangenen Monat erschien mal wieder eins jener „humorvollen und zugleich informativen” Taschenbücher, die sich so wunderbar als Mitbringsel zur Geburtstagsparty einer nicht ganz so nahen Bekannten eignen, über deren speziellere Neigungen, literarische Vorlieben oder Freizeitinteressen man noch nicht viel herausgefunden hat und der man dennoch kein völlig nichtssagendes Allerweltsgeschenkbuch à la Wortstoffhof von Axel Hacke überreichen will. Vielleicht hat sie ja gar keinen Humor, wer weiß?

Immerhin kann man sich auf eins verlassen: Einerlei, ob sie nun sportlich ist oder Figurprobleme hat oder beides, ob sie ihre Brötchen als Kassiererin bei Hennes & Mauritz oder als Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch verdient, ob sie sechzehn oder sechsundsechzig Jahre alt ist, in Essen lebt oder in Funabashi, ob sie jeden sauer verdienten Cent dreimal umdreht, bevor sie ihn ausgibt, oder vielmehr gerade die Erbschaft dreier fleißiger Generationen zum Fester rauswirft – ganz sicher war sie irgendwann schon mal bei Ikea und hat in dem „unmöglichen Möbelhaus aus Schweden” den einen oder anderen nützlichen oder unnützen oder zunächst nützlich scheinenden und sich später als unnütz erweisenden Gegenstand gekauft. „Weltweit schleppen Menschen Möbel in flachen Kartons zu ihren Autos, drehen zu Hause mit einem Inbusschlüssel [s. Titelbild] Schrauben in Pressspan und richten sich mit Möbeln ein, die auch in französischen, amerikanischen, britischen, deutschen, italienischen, finnischen, japanischen oder russischen Wohnungen und in den Häusern Dutzender anderer Nationalitäten stehen.” (Sebastian Herrmann: Wir Ikeaner. Unsere verhängnisvolle Affäre mit einem kleinen schwedischen Möbelhaus. München: Knaur Taschenbuch Verlag, 2009, S. 16.)

Man muss kein samstäglicher Ikea-Dauerkunde sein wie der SZ-Redakteur Sebastian Herrmann (*1974), der gewiss schon längst nicht mehr wohnt, sondern lebt, um die meisten seiner Witzchen über das globale Einrichtungsimperium zu verstehen und seine zahllosen Ikea-Anekdoten, allesamt von hohem Wiedererkennungswert, mit Schmunzeln quittieren zu können. (Die Einbandoberfläche des Taschenbuchs fühlt sich übrigens an wie eine jener blauen Einkaufstüten, die man beim Verlassen des Ikea-Markts kaufen kann, wenn man sich auf dem Weg durch das Einkaufslabyrinth – gegen den Uhrzeigersinn! – in die gelbe Einkaufstüte verliebt hat, die einem nur leihweise überlassen wurde. Haptische Effekte sind als originelle Dreingaben zu Taschenbüchern gerade der letze Schrei.)

Der Inhalt dieser Buchtüte aus der Droemerschen Verlagsanstalt ist leider weniger profiliert als der Umschlag. Hätte sich der Autor damit begnügt, aus seinem Thema einen gepfefferten Artikel für seinen Arbeitgeber zu machen, etwa für den Wochenend-Teil der Süddeutschen, es wäre zweifellos ein journalistisches Bravourstück daraus geworden. Bestimmt hätte das Material zum Thema Ikea auch zu einer etwas ausführlicheren Darstellung gereicht, etwa in NZZ Folio, da gab es ja tatsächlich mal ein Themen-Heft Shopping. Aber die 238 Seiten, die gefüllt werden mussten, um mir ruhigen Gewissens 8,95 Euro abknöpfen zu können, hat erkennbar schon Sebastian Herrmann als Zumutung empfunden. Wie sollte es da einem vielbeschäftigten Leser anders gehen?

Hinzu kommt, dass das Buch nicht weiß, wohin mit sich. Will es mit bitterböser Miene unseren kompensatorischen Konsumismus als Zwangsneurose entlarven? Will es die Produkte des Handelsunternehmens als ökologisch verwerflich anprangern? Oder die subtilen Manipulationstechniken des Konzerns brandmarken? Vielleicht will es ja auch bloß den typischen Ikea-Kunden charakterisieren, der mit etwas Glück zugleich der typische Ikea-Buch-Leser sein könnte und mit noch etwas Glück Gefallen daran findet, sich selbst in seiner albernen Konformität bloßgestellt zu sehen, womit das Buch es allein in Deutschland auf eine Millionenauflage bringen könnte. Eins sollten sich aber leidende Ikeaner ebenso wie meidende Non-Ikeaner von vornherein abschminken: dass dieses Büchlein etwa Ingvar Kamprads Einrichtungsimperium auch nur im Mindesten schaden könnte. Ikea ist nämlich – auch Herrmann hat dies erkannt – gegen Kritik jeder Art perfekt imprägniert, ganz gleich von wo sie kommt und wohin sie zielt. Ja, mehr noch: Ikea verwandelt jeden Vorwurf, den man Ikea machen kann, postwendend in ein Argument für Ikea. Nur Stehen ist billiger!

Fristlos

Tuesday, 03. March 2009

Die Wahrheit blüht besonders üppig im Verborgenen, wenngleich sich diese Blüten meist nicht zu Dekorationszwecken auf bürgerlichen Fensterbänken eignen. Im vorletzten Sommer erschnüffelte unsere Hündin den provisorischen Unterschlupf eines Obdachlosen, neben einem Trafohäuschen ganz in der Nähe unserer Wohnung, den Blicken vorbeieilender Passanten durch wild wucherndes Gebüsch gnädig entzogen.

Im Winter 2007 auf 2008, da das Schlafen unter freiem Himmel noch ungemütlicher wurde, als es selbst in der wärmeren Jahreszeit sein mag, inspizierte ich den wilden Ort erneut und traf zwar den ohne Dach dort Hausenden nicht an, gewahrte aber eine neue Möblierung, die den Minustemperaturen das Wenige entgegensetzte, was ohne Geld zu haben ist, was von den Sperrmüllbergen einer modernen Großstadt fortgetragen werden kann. Ich berichtete kurz vor Weihnachten 2007, noch unter anderer Adresse, über meine Entdeckung.

Der Anwohner des Trafohäuschens kreuzte seither gelegentlich meinen Weg. Es war ein Mann schwer bestimmbaren Alters, zwischen 40 und 60, von ungesundem, aber nicht ganz ungepflegtem Äußeren, schlank und groß gewachsen, langhaarig und bärtig. Auffallend war, dass er beim Schreiten mit den Armen schlenkerte. Er wechselte offenbar häufig die Kleidung, nie sah ich ihn zweimal in den gleichen Sachen. Ekel vor angebrochenen, halb verzehrten, dann weggeworfenen Lebensmitteln, die er wohl aus Mülltonnen oder -containern klaubte, schien er nicht zu haben: Ich beobachtete ihn mehrfach, wie er dergleichen lustvoll verzehrte. Ob er Alkoholiker war, vermag ich nicht zu sagen. Er torkelte nicht, trug nie eine Bier- oder Schnapsflasche mit sich.

Als er mir zuletzt Anfang 2009 begegnete, sprach ich ihn an, zückte mein Portemonnaie und schenkte ihm, mit einem Glückwunsch zum neuen Jahr, einen mittelgroßen Geldschein, wofür er sich bedankte. Danach sah ich ihn nicht mehr und werde ihn vermutlich auch niemals wiedersehen.

Vor wenigen Tagen hat nämlich das Grünflächenamt meiner Vaterstadt den kleinen Park, an dessen Rand das Trafohäuschen steht, radikal von wildwachsendem Gebüsch gereinigt. Das „Mobiliar” des Obdachlosen wurde bei dieser Gelegenheit offensichtlich entsorgt [s. Titelbild]. Und die Wahrheit? Sie lautet: Obdachlosigkeit erspart dem Staat die Räumungsklage, Fristen sind nicht zu beachten.

Krieg dem Kriege (II)

Monday, 02. March 2009

„In jeder Diskussion darüber, warum die USA in einen Krieg eintreten sollten oder nicht, das heißt: In allen gefährlichen politischen Situationen seit 1945, wird der Zweite Weltkrieg als Beispiel vor allen anderen angerufen. In diesem Fall scheint es völlig klar zu sein, wie gut und böse verteilt sind. Hitler war ein dämonischer Wahnsinniger, der Urheber eines gigantischen Massenmords, von Hässlichkeit, Zerstörung und Untergang. Ebenso klar scheint zu sein, dass man in einem solchen Krieg nicht Pazifist sein konnte – in diesem Land zählen die Pazifisten jener Zeit noch immer zu den verkappten Faschisten. Dieser Krieg war der gute Krieg, der alle anderen Kriege rechtfertigte, bis hin zum gegenwärtigen Krieg im Irak.” (Thomas Steinfeld: „Man kann die Menschen nicht zum Guten bombardieren.” Nicholson Baker im Interview; in: sueddeutsche.de v. 13. März 2008.) So erklärte Nicholson Baker vor einem Jahr beim Erscheinen seines letzten Buches Human Smoke, warum er sich darin ausgerechnet mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte – und nicht mit irgendeinem anderen Krieg der an Kriegen doch so reichen Menschheitsgeschichte.

In diesen Tagen liefert der Rowohlt-Verlag die deutsche Übersetzung aus. Mein Buchhändler hatte sie am heutigen Montag noch nicht, obwohl sie gestern von Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen wurde. – Neulich gab es ja ein arges Lamento um Daniel Kehlmanns ebenfalls bei Rowohlt erschienenen Roman Ruhm, den Volker Hage unter Missachtung der Sperrfrist („Keine Rezensionen vor dem 16. Januar!)” im Spiegel vom 5. Januar rezensiert hatte. Bakers Buch – nicht Roman, nicht Sachbuch – ist für den 6. März angekündigt. Bis dahin werden die FAS-Leser Weidermanns nette Worte wohl hoffentlich noch nicht ganz vergessen haben.

(Doch warum schweife ich von der Kriegsschuldfrage im Allgemeinen und den Schuldigen am Zweiten Weltkrieg im Besondern zu einem dermaßen trivialen Thema wie den Sperrfristen im Buchhandel ab? Vielleicht damit ich diesen Artikel nicht nur in die „Zentrifuge” stopfen kann, sondern er auch noch leidlich in die Kategorie „Langsamkeit” passt. Denn es ist doch schließlich ein weiteres, Besorgnis erregendes Indiz für die fortschreitende Zersetzung unserer Urteilskraft, wenn der Beschluss, nach der Lektüre einer Buchempfehlung im Feuilleton unserer Tageszeitung in den nächsten Tagen eine Buchhandlung aufzusuchen und dieses Buch zu erwerben, allein deshalb oft genug verworfen wird, weil dieses Buch noch nicht erschienen ist. Das Sperrfeuer der auf uns einprasselnden Novitäten macht es uns offenbar unmöglich, eine Kaufentscheidung länger als ein, zwei Tage aufrechtzuerhalten.)

Nicholson Baker hat ein Buch geschrieben, das bei seinem Erscheinen am 11. März vorigen Jahres in den USA und in Großbritannien heftige Kontroversen auslöste. Wenn es in den nächsten Tagen auch die deutschen Leser erreicht, besteht womöglich die Gefahr, dass es Applaus von der falschen Seite bekommt. Formal wurde es schon mehrfach mit Walter Kempowskis Echolot verglichen, denn auch Menschenrauch ist eine groß angelegte Textmontage aus Originalzitaten, beginnend mit einer Bemerkung von Alfred Nobel aus dem Jahr 1892, zitiert nach den Memoiren Bertha von Suttners, und endend mit einem Tagebucheintrag des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian vom 31. Dezember 1941. Im Unterschied zu Kempowski erlaubt sich Baker aber, gelegentlich sardonische Kommentare aus eigener Feder einzustreuen. Auch seine Auswahl ist nicht um ein möglichst weites Panorama bemüht, sondern auf einen Brennpunkt der Erkenntnis hin fokussiert. So meinte der Rezensent der Welt nach dem Erscheinen des Originals, Baker wolle „nicht die Bandbreite dessen vorführen, was damals geschah, sondern eine These beweisen.” (Hannes Stein: Churchill soll Hitler zum Krieg angestachelt haben; in: Welt online v. 13. März 2008.)

Von den immerhin 634 Seiten dieser Beweisführung sollte man sich übrigens nicht allzu sehr einschüchtern lassen, denn der Autor hat zwischen den einzelnen Zitaten viel Platz zum Nachdenken gelassen. Baker erklärte dies im Interview so: „Zwischen den Fragmenten gibt es viel leeren Raum auf den Buchseiten. Mit diesem Raum können Sie als Leser anstellen, was Sie wollen. Sie können Ideen hinzufügen, Sie können widersprechen, weinen oder auch Partei ergreifen. Auf jeden Fall aber werden Sie zum aktiven Teilnehmer, denn ich gebe Ihnen nicht einmal eine Einführung vor. Ich schicke Sie nur los, und dann müssen Sie sich selbst im Wust der widersprüchlichen, komplizierten Ereignisse zurechtfinden.” (Susanne Weingarten: „Dieses Gefühl der inneren Qual”; Interview mit Nicholson Baker in Boston; in: Spiegel online v. 5. Mai 2008.) – Die teils vernichtenden Kritiken aus dem englischsprachigen Raum bestreiten eben diese vorgebliche Neutralität von Bakers Textauswahl in Human Smoke. Vielleicht könnte man die weißen Flächen ja dazu nutzen, gezielt solche Zitate einzufügen, die seiner These zuwiderlaufen? Aber jetzt warte ich zunächst einmal aufs Eintreffen des Buches. – Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. A. d. Am. v. Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2009.

Krieg dem Kriege (I)

Sunday, 01. March 2009

Es ist immer der gleiche Streit. „Nie wieder Krieg!” So fordern die absoluten Pazifisten und erklären jede Art von Bewaffnung, auch für die Selbstverteidigung, zu Teufelswerk. Ihnen treten die pragmatischen Pazifisten entgegen, die dergleichen Rigorismus für passiven Selbstmord halten und die Inkonsequenz für unvermeidlich, einen inhumanen Aggressor mit Waffengewalt entwaffnen zu müssen – natürlich so human wie eben möglich.

Der Musterfall einer vermeintlich legitimen Befriedung der Welt mit kriegerischen Mitteln ist der zweite Weltkrieg. Nach dem Sieg der lauteren Westmächte über die hitlersche Barbarei suchten alle hinfort Krieg führenden Parteien, die etwas auf sich hielten, zu ihren jeweiligen Kontrahenten ein ähnlich überzeugendes moralisches Gefälle zu behaupten. Bis in die allerjüngste Gegenwart werden bewaffnete Konflikte zugleich als ideologische Medienfeldzüge ausgetragen, so wenn Palästinenser von israelischen Geschossen zerfetzte Kinder durch die Straßen von Gaza tragen und Israelis Beweise vorlegen, dass diese Kinder von der Hamas bewusst als menschliche Schutzschilde ihrer Waffenlager missbraucht und somit kaltblütig geopfert wurden.

Der Krieg der Alliierten gegen die Achsenstaaten ist dabei das unerreichte Vorbild eines über jeden Zweifel erhabenen, gerechten Krieges. Der Holocaust in all seiner nachträglich offenbar gewordenen, unvergleichlichen Infamie bringt jeden Einwand gegen die Berechtigung dieser Schlächterei zum Verstummen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Leiden der Zivilbevölkerung im Deutschen Reich unter den Flächenbombardements der Briten und Amerikaner überhaupt nur angemessen dargestellt werden durften. Dass der glorreiche Sieg der Alliierten über Hitler nur durch die Teilnahme eines Verbündeten möglich war, der diesem an Menschenverachtung und rücksichtslosem Vernichtungswillen kaum nachstand, musste zudem als leider unvermeidbarer Schönheitsfehler hingenommen werden. Man kann eben nicht alles haben, zumindest nicht auf einmal.

Als all dies noch nicht entschieden war, schrieb Klaus Mann am 15. Juli 1940 in Los Angeles: „Heute nachmittag lange Unterhaltung mit Christopher Isherwood. Er ist mir so lieb, so brüderlich vertraut, und doch bringe ich für seine neue Entwicklung kein rechtes Verständnis auf. Zusammen mit Aldous Huxley und dem Philosophen Gerald Heard – oder unter ihrem Einfluß? – gerät er immer tiefer in den Bann einer indischen Mystik, zu deren ethischen Prinzipien die unbedingte Ablehnung der Gewalt gehört: eben jener absolute Pazifismus also, gegen den Masaryk sich in seiner Debatte mit Tolstoi wendet. Nicht, als ob ich die Anwendung von Gewalt weniger verwerflich fände als irgendein Isherwood, Huxley oder Heard! Und nun gar der moderne Krieg! Wem graute nicht vor seinem mörderischen Stumpfsinn, seiner apokalyptischen Idiotie? Man muß ein hysterischer Romantiker wie Ernst Jünger sein, um an den öden Schrecken der ,Materialschlacht‘ Gefallen zu finden. Als gesitteter Mensch ist man natürlich Pazifist, was denn sonst? – Fragt sich nur, ob wir im vorigen Herbst noch die Wahl zwischen Krieg und Frieden hatten oder ob nicht damals die Entscheidung längst gefallen war. Ein Krieg, der unvermeidlich geworden ist, läßt sich nicht mehr ,ablehnen‘, sondern nur noch gewinnen. Warum wurde der Krieg unvermeidlich? Als ob wir es nicht wüßten! Weil die Demokratien dem Fascismus Vorschub leisteten, sei es aus mißverstandenem ,Pazifismus‘, sei es aus weniger vornehmen Motiven … Indem man Hitler tolerierte, finanzierte und protegierte, verscherzte man sich den Frieden. Nun fehlte nur noch, daß man ihn siegen ließe! Dann wäre der Krieg permanent. – Willst du das, Christopher Isherwood? Nein, natürlich nicht! – Und bestehst doch darauf, daß der Krieg ,das schlimmste aller Übel‘ sei? Es gibt ein schlimmeres, my dear friend. Stelle dir die ,Neue Ordnung‘ vor, die ein siegreicher Hitler etablieren würde, und du weißt, was ich meine. – Der Sieg der Demokratie aber könnte den Frieden bringen. (Ich wage nicht zu sagen: wird …)” (Klaus Mann: Der Wendepunkt. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1953, S. 431.)

Es war höchste Zeit, die Glorifizierung der alliierten Motive zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einer kritischen Revision zu unterziehen – und sei es nur, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass auch nach gründlicher Prüfung aller Quellen kein anderer Schluss als der bisherige möglich ist, der da lautet: Großbritannien und Frankreich haben am 3. September 1939 richtig gehandelt, als sie Deutschland den Krieg erklärten. Nun hat sich ein US-amerikanischer Romancier genau an diese überfällige Aufgabe gemacht und ist zu einem überraschend anderen Ergebnis gelangt.

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Saturday, 28. February 2009

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Henne oder Ei

Friday, 27. February 2009

Als eine westliche Literaturwissenschaftlerin den chinesischen Romancier Qian Zhongshu (1919-1998) besuchen wollte, riet dieser ihr am Telefon dringend davon ab, mit der Begründung, „wenn einem ein Ei geschmeckt habe, müsse man nicht unbedingt die Henne besuchen.” (Monika Motsch im Nachwort zu Qian Zhongshu: Die umzingelte Festung. A. d. Chin. v. Monika Motsch u. Jerome Shih. Insel: Frankfurt am Main, 1988; hier zit. nach Christoph Bartmann: Die Freude des begnadigten Verbrechers; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 47 v. 26. Februar 2009, S. 14.)

Dieses schlitzäugige Understatement! Diese asiatische Bescheidenheit! Bewundernswert. Und dabei sehr geschäftstüchtig, denn kein Werbetext für das Buch und keine Rezension kommt ohne die Anekdote mit dem Henne-Ei-Autor-Buch-Vergleich aus.

Aber was will uns Qian Zhongshu hier weismachen? Dass die „Geschmacksvielfalt” von Romanen ähnlich begrenzt ist wie die von Eiern, nämlich auf die zwei Geschmacksrichtungen „wohlschmeckend” und „nicht wohlschmeckend”? Nun gut, es gibt verschiedene Arten, Eier zuzubereiten. Aber wenn mir ein mit ungewöhnlichem Geschick besonders appetitlich zubereitetes Ei gut schmecken würde, dann käme ich nicht auf die Idee, die Henne kennenlernen zu wollen, sondern wenn schon dann den Koch.

Ein Ei gleicht dem anderen, die Ähnlichkeit von Eiern ist nicht umsonst sprichwörtlich. Aber niemandem fiele wohl ein, von zwei Romanen, egal welchen, zu sagen, dass sie sich glichen wie ein Ei dem anderen.

Der Autor wollte keine Auskunft über sich geben. Das kann viele Gründe gehabt haben und ist wahrlich kein Einzelfall. Autoren, die zu wenig von sich preisgeben, sind mir aber allemal lieber als solche, die es damit übertreiben. Auch wenn das Gleichnis vom Ei und der Henne etwas schief hängt, ist mir solche Zurückhaltung unbedingt sympathischer als der abgestandene Bericht vom Unterwegssein eines eitlen und selbstgerechten Deutschen von Deutschland nach Deutschland. Insofern wäre Qian Zhongshu der Literaturnobelpreis des Jahres 1999 zu gönnen gewesen. Den hat wohl nur deshalb ein anderer erhalten, weil der Chinese im Jahr zuvor verstarb.

Verlernt

Thursday, 26. February 2009

Unsere Vorfahren im Jungpaläolithikum, also etwa um 35.000 bis 10.000 v. Chr., fertigten säuberlich gemeißelte Messer [s. Titelbild], die bis zu 26 Zentimeter lang, aber nur einen Zentimeter dick sind und sich mit den modernsten industriellen Verfahren nicht nachbilden lassen. (Marvin Harris: Kannibalen und Könige. Aufstieg und Niedergang der Menschheitskulturen. A. d. Am. v. Volker Bradke u. a. Frankfurt am Main: Umschau Verlag, 1978, S. 19 f.)

Unsere Fortschrittsvergötzung täuscht uns darüber hinweg, dass jede unserer Errungenschaften mit einem Verlust erkauft wird. Was wir verlernt und vergessen haben, wissen wir naturgemäß nicht mehr, spüren wir nicht, entbehren wir nicht. Darum wähnen wir uns jederzeit „auf der Höhe” unseres Könnens. Wie naiv!

Und dabei sind die verlorenen Künste, die durch solche steinernen Zeugen ahnbar gemacht werden, ja nur ein Kinkerlitzchen vom verschollenen Großen und Ganzen. Welche Gesten mögen spurlos verschwunden sein in den vergangenen dreißig Jahrtausenden, welche Gefühle, welche Fertigkeiten des Verstehens und Genießens?

Auch eine Stradivari oder Guarneri können wir nicht mehr bauen. Die Handwerkskunst ihrer Herstellung ist gerade einmal 300 Jahre alt und dennoch längst schon ausgestorben. Nie wieder erreicht ein Jongleur die Geschicklichkeit des legendären Enrico Rastelli (1896-1931), der ein Dutzend Bälle gleichzeitig auf verschiedenen Stellen seines Körpers balancierte, sie die Plätze tauschen ließ, dabei Pirouetten und Überschläge vollführte, vom Kopfstand in den einarmigen Handstand wechselte – und all dies ohne jede Verkrampfung, mit unendlicher Leichtigkeit und Grazilität.

Auch die Kunst des Gedankenlesens ist vom Aussterben bedroht, wie das Heilen durch Handauflegen und das Übermitteln von Nachrichten mittels Morseapparat.

Windschief

Monday, 23. February 2009

Neulich sah ich wieder mal Buster Keatons Kurzfilm One Week von 1920. Mir fällt zu dem Häuschen, das der handwerklich unbegabte Bräutigam seiner Braut errichtet, stets das Oxymoron vom “genialen Dilettanten” ein.

Komischer Zufall, dass 1981 beim Festival Genialer Dilletanten im Berliner Tempodrom auch Blixa Bargeld und seine Einstürzenden Neubauten auftraten, die sich seit dem Einsturz der Kongresshalle so nannten.

Dieses Gebäude hieß bekanntlich im Volksmund “Schwangere Auster”. Am Tag, als ich zum ersten Mal Vater geworden war, verließ ich den Kreißsaal und kaufte eine Zeitung. Auf der Titelseite wurde der Einsturz der “Schwangeren Auster” gemeldet.

Franz Schuh stellt die unfreiwillige Komik des Ungeschickten in den schiefen Rahmen eines Lobs der Nutzlosigkeit: “In einem Film baut Buster Keaton ein Haus für sich und die frisch Angetraute. Die Komik beim Hausbauen mag daran erinnern, daß es nicht immer leicht ist, ein Heim zu errichten, in dem man – auf der Grundlage des einander gegebenen Ja-Wortes – bis auf weiteres geborgen west. Man macht einen Plan, und für den Zuschauer ist es lustig, wenn er auf spektakuläre Art nicht funktioniert – auch weil in Keatons Film ein Feind dazwischengefunkt hat. Der Feind trägt den schönen Namen: Rivale. Der Rivale hat die Bestandteile des Hauses umnumeriert – Keaton wird zum freien Architekten jenseits seiner eigenen Pläne. Er baut ein in alle Richtungen hin windschiefes Haus.” (Franz Schuh: Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006, S. 85.)

Mein Weblog ist auch ohne dazwischenfunkende, umnummerierende Rivalen durcheinander, windschief, schwanger. Ob’s dilettantisch ist? Ob’s genial ist? Ich selbst wohne ganz gemütlich drin, bald schon ein Jahr. Wenn Gäste kommen, zeige ich auf das Schild neben der Haustür: “Betreten auf eigene Gefahr!”

Zahnhimmel

Monday, 16. February 2009

Das war der Teufel. Morgen geht’s weiter in alter Frische.

Zahnhölle

Sunday, 15. February 2009

Heute keine Christ-Birne wegen teuflischer Zahnschmerzen.

[Titelbild von Wilhelm Busch aus: Der hohle Zahn.]

Wohnsinn (IX)

Wednesday, 11. February 2009

[Wahnsitz von September 1991 bis Dezember 2004.]

Wohnsinn (VIII)

Tuesday, 10. February 2009

[Wahnsitz von April 1988 bis September 1991.]

Wohnsinn (VII)

Monday, 09. February 2009

[Wahnsitz von Mai 1984 bis März 1988.]

Wohnsinn (VI)

Sunday, 08. February 2009

[Wahnsitz von Januar 1980 bis April 1984.]

Wohnsinn (V)

Thursday, 05. February 2009

[Wahnsitz von September 1978 bis Dezember 1979.]

Wohnsinn (IV)

Thursday, 05. February 2009

[Wahnsitz von Juli 1977 bis August 1978.]

Wohnsinn (III)

Wednesday, 04. February 2009

[Wahnsitz von Oktober 1975 bis Juli 1977.]

Wohnsinn (II)

Wednesday, 04. February 2009

[Wahnsitz von Dezember 1956 bis Mitte Oktober 1975.]

Wohnsinn (I)

Wednesday, 04. February 2009

[Wahnsitz von Juli bis Dezember 1956.]

Schmutz

Monday, 02. February 2009

Was bleibt, nachdem nun diese 77 Jahre und 35 Tage gezählt sind? Ein Rechteck von 54 Quadratzentimetern, den einen Millimeter breiten schwarzen Rand mitgerechnet. Darin, rechtsbündig über dem Namen des Verstorbenen, seinen Lebensdaten und den Namen seiner engsten Angehörigen sowie dem Termin und Ort der Beerdigung, ein vieldeutiger Satz nach Michel de Montaigne: „Die Natur versteht ihre Sache besser als wir.”

Was noch? Bei einem seiner – nicht allzu zahlreichen – Leser wie mir: das Bedauern, dass hier wieder einmal jemand aus dem mächtigen Schatten eines Verwandten nie hat heraustreten können. Diesmal war’s der große Bruder, der wie zum Hohn seine Größe gleich mit im Namen führte. Und immer muss da ja im Hinterkopf der schmachvolle Verdacht schwelen, dass der geringere Erfolg sich teilweise auch noch von der strahlenden Prominenz des Namens herleitet, die der Bruder ihm verschafft hat. Gar Fälle von Verwechslung sind einzukalkulieren!

Aber dann bleiben vorzüglich seine Übersetzungen aus dem Englischen, insbesondere der Carroll’schen Alice-Romane, und hier wiederum an erster Stelle seine geniale deutsche Übertragung des Jabberwocky, den er Zipferlake nannte. Darauf muss man erst mal kommen!

Und schließlich bleibt sein letztes Buch, Was ist Was, das ich mir bei seinem ersten Erscheinen 1987 in der „Anderen Bibliothek” von Franz Greno in Nördlingen ausnahmsweise in der schon fast dekadent auf bibliophil getrimmten Vorzugsausgabe gegönnt habe: „Das Handbütten à Fleur mit eingeschöpften Blüten und Blättern der Auvergne lieferte Richard de Bas in Ambert d’Auvergne.” [s. Titelbild]

Und darin klingen jetzt die letzten Zeilen (S. 602) wie ein Epitaph (auf das Buch? oder die Menschennatur? oder auf sich selbst als Autor?): „Und noch nicht genug: denn jeder von uns hat ein solches kleines Buch in dem großen, ob geschrieben oder nicht, und jeder ein anderes – aber ein Buch jedesmal, und immer sagt es dasselbe: die Welt kann zu allem werden, was von ihr gewollt wird, wir müssen uns nur weitererfinden, erst so endlich bekommt das Schöne sein Recht übers Wahre, amen, das ist der Schluß, jetzt bin ich fertig.” (Und dann folgen doch noch zwei Wörter, die ich aber verschweige.)

Komma

Sunday, 01. February 2009

< [Ohne Kommentar.]

Turm

Saturday, 31. January 2009

Heute, am Monatsletzten, beende ich die Bettlektüre eines Buches, die ich am Neujahrstag begonnen habe: Uwe Tellkamps Der Turm (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008). Der Roman bringt es auf knapp tausend Seiten und ist insofern eigentlich als literarisches Betthupferl aufgrund rein orthopädischer Bedenken eher ungeeignet. Dass ich dennoch vorm Einschlafen im Tagesdurchschnitt rund dreißig Seiten „geschafft” habe, obwohl mir gelegentlich ein bleiernes Gefühl in die Arme schlich, spricht immerhin für den Unterhaltungswert dieses, um die Verlagswerbung zu zitieren, „monumentalen Panoramas der untergehenden DDR”.

Die Kritik war sich einig, dass der Bachmann-Preisträger des Jahres 2004 damit wenn nicht sein Meisterwerk, so doch sein respektables Gesellenstück abgeliefert hat. Sie hat aber nach meinem Urteil nicht deutlich genug gemacht, dass Tellkamp mit diesem opulenten Buch den Versuch gewagt hat, die ehrwürdige Tradition des bürgerlichen Familienromans à la Buddenbrooks und die seit James Joyce florierende Erzähltechnik der Montage gänzlich disparater Stilmittel zum stimmigen Bild eines untergegangenen realsozialistischen Deutschen Reichs zu legieren. (Sabine Franke zählt in ihrer Rezension für die Frankfurter Rundschau „Briefe, Träume, Rückblenden, Fakten und konventionelle Erzählpassagen” auf; dabei sind es doch noch weitaus mehr.) Und diese vom vergleichsweise hohen Rang des Romans faszinierte Kritik vergisst leider zu erwähnen, dass der ebenso fleißige wie belesene Autor sich bei diesem Spagat letztlich die Beine ausreißt.

Dass Der Turm zudem noch als ein Schlüsselroman daherkommt, nimmt mich eher gegen ihn ein – denn neben meiner täglichen Pynchon-Lektüre möchte ich zu nachtschlafender Zeit eigentlich nicht mehr den Rechner anschmeißen, um dahinterzukommen, dass sich hinter Baron Arbogast kein Geringerer als Manfred von Ardenne verbirgt, Jochen und Philipp Londoner Vater und Sohn Kuczynski zum Vorbild haben und mit dem RA Sperber des Romans nur der mittlerweile verstorbene Manfred Vogel gemeint sein kann, der im Agentenschacher des Kalten Krieges eine unvergesslich-zwielichtige Rolle spielte.

Tellkamps mit langem Atem geschriebenes magnum opus ist, bei allen Einwänden gegen seine möglicherweise anbiedernde, effekthascherische Schreibe, nur selten langatmig. Ich bin immerhin gespannt, ob dieses bemerkenswerte Talent sich noch zu einem opus summum aufschwingen wird; hoffentlich ganz anders als Thomas Mann mit seiner Joseph-Tetralogie, die im bitteren Geschehen der fernen Völkerschlacht – meine Heimatstadt Essen wurde dem Erdboden gleichgemacht – keine andere Heimstatt finden konnte als in den Geborgenheiten schimmelnder Traditionen. Während dies geschah, löffelte der geistheilige Thomas Mann zitronensaftgewürzte Austern in seiner Villa in Pacific Palisades.

Auch wir intellektuellen Überflieger – wie Goebbels sagte: die „Intelligenzbestien” – müssen uns doch nicht bis zum Jüngsten Gericht gedulden, an dem wir das Scherbengericht zusammentragen. Da warten wir stattdessen lieber auf eine Erleuchtung, die sich von Traditionen gleich welcher Art freigemacht hat – noch im Diesseits.

Einschwörer (II)

Friday, 30. January 2009

Meinem ersten „Einschwörer” begegnete ich, heute auf den Tag genau, vor 45 Jahren. Er hieß Henning H. und war mein Klassenkamerad und Sitznachbar auf der Albert-Schweitzer-Volksschule – so hießen die Grundschulen damals noch – in Essen-Rüttenscheid. Henning war in Sorge, dass ich eine seiner Missetaten unserem Lehrer, Herrn Brandstetter, petzen könnte. Ich beteuerte meine Loyalität und Verschwiegenheit, denn Henning war stärker als ich. „Schwör!” – so lautete sein erbarmungsloses Kommando. Ich hob Daumen, Zeige- und Mittelfinger: „Ich schwör!” – „Du musst dran lecken, sonst gilt es nicht.” So verlief meine Einweisung in den Ritus der Schwörerei, der mir ahnungslosem Tropf, von Haus aus ein atheistisches Kind, zuvor nahezu völlig fremd gewesen war. (Den Trick, beim Schwur Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand hinterm Rücken zu kreuzen, was den Schwur ungültig macht – den kannte ich damals auch noch nicht.)

Seither bin ich nicht mehr in die Verlegenheit gekommen, meine Schwurfinger mit Speichel zu benetzen. Ich entging dem Fahneneid der Bundeswehr als fußkranker, zum Dienst an der Waffe untauglicher Schwerbehinderter und dem Beamteneid durch Tätigkeiten in der freien Wirtschaft. Lediglich vorm Standesamt hatte ich ein Treuegelöbnis zu leisten, „in guten und in schlechten Tagen”, aber dazu war nicht erforderlich, die rechte Hand zu heben. Mir scheint diese Schwörerei noch immer ein sehr zweifelhaftes Brauchtum zu sein, als stünde jedes üblicherweise ohne diese Geste gegebene Wort unterm Anfangsverdacht der Lüge – und würde erst durch den Eid in den Adelsstand heiliger Wahrheit erhoben. Leckt mich!

Und jetzt, da seit ein paar Monaten die globale Hütte brennt, sehe ich mich umstellt von Einschwörern verschiedenster Provenienz, die mich – ganz ähnlich wie Henning H. auf dem Schulhof vor 45 Jahren – dazu auffordern, die Finger zum heiligen Eid zu erheben, beleckt oder unbeleckt. Unsere Kanzlerin Angela Merkel will mich auf eine harte Konjunktur-Kur einschwören, nachdem sie eine Woche zuvor ihre hessischen Parteigenossen bereits auf den Wahlkampf eingeschworen hat. Na, ich bin ja glücklicherweise kein Hesse – und auch kein Franzose, sonst hätte mich Sarkozys Einschwörerei schon im Sommer 2007 in Rage gebracht. Fairness? Dafür bin ich immer zu haben. Aber wenn ein Mann wie der britische Premierminister Gordon Brown sie von seinen Untertanen per Eid fordert, balle ich dennoch aus Solidarität die Faust in der Tasche. Und auch sein Widersacher David Cameron kann mich nicht zum kontinentalen Mit-Schwur verleiten, wenn er seine Landsleute auf harte Zeiten einschwört.

Gibt’s die Schwörerei eigentlich auch bei den Juden? Offenbar schon, wenn man den doch so schwurerprobten Schweizern glauben darf. Und neuerdings haben wir noch einen weiteren Einschwörer zu ertragen, den Hoffnungsträger unserer hoffnungslos verrotteten Spezies, der man nicht viel mehr noch zu wünschen vermag, als dass sie ihren Abgang vom Globus mit möglichst geringen Folgeschäden für dessen restliche Biosphäre bewerkstelligt: Barack Obama. Seinen Eid hat der neue Präsident der USA zwar im ersten Anlauf nicht hingekriegt, und beim zweiten Versuch war die gelbe Lincoln-Bibel leider schon auf Reisen – aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Insofern ist die Finanzkrise, die zu Produktionsrückgang, zum Beispiel in der Autoindustrie, und damit zu gedrosseltem CO2-Ausstoß führt, eigentlich doch ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Und die Billionen-Verschuldung der Staaten zur Rettung der Not leidenden Banken, die künftige Generationen zurückzahlen sollen, muss uns auch kein Kopfzerbrechen bereiten, wenn es solche Generationen gar nicht mehr gibt. Angesichts solcher Zukunftsperspektiven sind mir der Zusammenbruch des Kapitalismus und die Sorgen der Anleger jedenfalls herzlich egal – ich schwör!

Todsünde

Thursday, 29. January 2009

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die katholischen Messen in lateinischer Sprache zelebriert. Die Gemeinde plapperte ein unverständliches Kauderwelsch nach, ritualisierte Formeln einer längst ausgestorbenen Sprache, die ihr wie die Zaubersprüche animistischer Religionen vorgekommen sein mögen – und sie vielleicht gerade deshalb beeindruckten. Dann sprang Martin Luthers für seine Zeit revolutionärer Gedanke, dass das gemeine Volk verstehen solle, was es zu glauben genötigt werde, wenngleich mit mehr als vierhundert Jahren Verspätung, von Wittenberg nach Rom über. Das von Papst Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil leitete eine Liturgiereform ein, die unter seinem Nachfolger Paul VI. zum Abschluss kam und die Einführung der Volkssprachen in den katholischen Gottesdienst ausdrücklich billigte.

Gegen diesen Bruch mit altehrwürdigen Traditionen begehrte der französische Erzbischof Marcel Lefebvre (1905-1991) auf, der die Ansicht vertrat, Paul VI. habe mit seinen „katastrophalen Neuerungen” der katholischen Kirche mehr Schaden zugefügt als die Französische Revolution. Er verweigerte dem Stellvertreter Christi auf Erden im Vatikan seinen Gehorsam, wurde von Paul VI. suspendiert und schließlich gar von Johannes Paul II. exkommuniziert, nachdem er gegen die ausdrückliche Weisung des polnischen Papstes am 30. Juni 1988 an vier seiner treuen Jünger – Bernard Tissier de Mallerais, Alfonso de Galarreta, Bernard Fellay und Richard Williamson – die Bischofsweihe vollzogen hatte.

Gut zwanzig Jahre später hat nun die Verständlichmachung der katholischen Glaubensinhalte Früchte getragen, die dem aktuellen Nachfolger auf dem Stuhl Petri, dem jetzt amtierenden Papst Benedikt XVI., vulgo Joseph Alois Ratzinger, nicht gefallen wollen. Ihm laufen in seinem Heimatland Deutschland und auch anderswo die Schäfchen von der Weide, weshalb er vor zwei Jahren zunächst die nach altem Römischen Ritus übliche „Tridentinische Messe” wieder erlaubte – und zudem vor ein paar Tagen die Exkommunikation der vier von Lefebvre geweihten Bischöfe aufhob. Dabei ist ihm allerdings ein kleiner Schönheitsfehler unterlaufen, denn einer dieser Herren, Richard Williamson, erwies sich bei näherer Betrachtung als „persona non grata”, gar als Obergangster vor jedem christlichen und weltlichen Richterstuhl: als Holocaust-Leugner und verbohrter Antisemit. (Was dieser offenbar völlig durchgeknallte Bischof sonst noch von sich gegeben hat, harrt noch der Entdeckung durch die hoffentlich um Aufklärung bemühten laizistischen Medien einer freien Welt. So vertrat Williamson etwa 2001 die Ansicht, dass Mädchen und Frauen nicht an Universitäten studieren sollten, und reihte sich in die paranoide Gemeinschaft jener Verschwörungstheoretiker ein, die ernsthaft glauben, 9/11 sei von der amerikanischen Regierung unter George W. Bush initiiert worden.)

Die Flurschäden, die der jetzt amtierende Papst alle paar Monate anrichtet, sind beträchtlich. Die Aussöhnung der Christen mit dem Judentum, so heißt es allenthalben, sei um hundert Jahre zurückgeworfen, die fleißigen Bemühungen seiner Vorgänger um eine Verständigung zwischen diesen beiden Weltreligionen habe Benedikt XVI. mit seiner unbedachten Rehabilitation eines offenkundig Verrückten zunichte gemacht.

Als hätte die Menschheit nicht andere Sorgen! Noch immer klebt ihr der Dreck am Schuh, in den sie vor Jahrtausenden getreten ist, da sie es noch nicht besser wissen konnte: dass nämlich kein jenseitiger Gott ist und keine ebenso finstere wie heiße Hölle droht als allein die auf Erden, in unserem zeitlich begrenzten Diesseits. – „Der Atheismus beruht auf der Erklärung der Menschenrechte. Die Staaten, die sich seither zu diesem offiziellen [?] Atheismus bekennen, befinden sich in einem Zustand dauernder Todsünde.” Diese Sätze stammen wohlgemerkt nicht von dem aktuell zum Stein des Anstoßes gewordenen Bischof Williamson, wohnhaft im argentinischen La Reja, sondern aus einer der letzten Predigten seines Lehrmeisters, des Erzbischofs Lefebvre, gehalten am 1. November 1990 in Ecône im Schweizer Kanton Wallis. (Ist es bloß ein dummer Zufall, dass Lefebvre die argentinische Militärjunta, wie übrigens auch das faschistische Regime in Chile unter Augusto Pinochet, als vorbildliche Regierung gepriesen hat?) – Ich bekenne mich zu den Menschenrechten – und nehme dafür den „Zustand dauernder Todsünde” gern in Kauf.

[Titelbild: Por una navaja von Francisco de Goya, aus seinen Desastres de la Guerra (1810-1814).]

Schrittwechsel

Wednesday, 28. January 2009

Hans Siemsen, der in seinem Reisebericht aus dem Sowjetstaat mit mildem Spott anmerkt, dass der Taylorismus und die Ford’sche Fließbandproduktion, nach dem allbeherrschenden Prinzip „Tempotempo!”, im Kommunismus keineswegs abgeschafft sind, sondern durch die gnadenlosen Vorgaben des ersten Fünf-Jahres-Planes eher noch eine Verschärfung erfahren haben, relativiert diese Diagnose an anderer Stelle durch seine Beobachtung, dass jeder russische Industriearbeiter in einer deutschen Fabrik unweigerlich auffallen würde: „Vor allem durch Langsamkeit.” (Rußland – ja und nein. Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931, S. 164.) Gegen das Phlegma der russischen Volksseele kehrt offenbar selbst Stalins „harter Besen” vergebens.

Und in den klimatisch milderen Regionen, am Asowschen und Schwarzen Meer, registriert er gar mit erkennbarem Wohlbehagen eine „Kultur der Langsamkeit”, die ihn fast an mediterrane Lässigkeit erinnert: „Vom Balkon des Hotels [in Rostow am Don] sehen wir hinunter auf die Straße. Es ist Ende September [1930]. Ein schöner, warmer Abend, wie in Berlin ein Sommerabend. In Moskau hatten wir schon gefroren. In Moskau habe ich nie einen Menschen ,spazieren gehen‘ sehen, alle waren immer so ernsthaft eilig. In Rostow ,flaniert‘ man. Liebespaare flirten langsam die Schaufenster entlang. Es gibt Läden mit Wein und Obst und schrecklichen Nippsachen. Die ganze Straße ist voll von Menschen, die, da es Abend ist, spazieren gehen. – Die ausländischen Journalisten auf dem Balkon sind ganz erstaunt. Sie kommen aus Moskau. Sie haben sowas noch gar nicht gesehen in Rußland. ,Das ist ja wie in Paris!‘, sagt einer zum andern. Der weiß es besser. ,Wie in Marseille!‘ sagt er. Und ein Dritter weiß es am besten: ,Ein Arbeiterviertel in Paris oder Marseille.‘ Aber alle sind sich darin einig, daß Rostow ganz was anderes ist als Moskau, hübscher, leichter, nicht so ernsthaft und streng. Verwegene sprechen von ,Eleganz‘. ,Sehen sie bloß! Da geht einer mit einem weißen Leinenanzug und einer knallbunten Krawatte.‘” (Ebd., S. 190.)

Müsste uns nicht längst schon die traurige Erkenntnis dämmern, dass die drei großen Ideale der Französischen Revolution – „Liberté, égalité, fraternité” – von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, weil sie die naturgegebenen klimatischen Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht in Rechnung stellten? Sind nicht alle hehren Versöhnungswünsche, von Christus bis zum jüngsten Shootingstar eines trotzigen Optimismus, Barack Obama, allein schon deshalb ins Leere gesprochen, weil es etwa in Sibirien unerträglich kalt und in weiten Teilen Afrikas unerträglich heiß ist? Die Staatsgrenzen, machen wir uns nichts vor, sind doch bei aller vorgeblichen Globalisierung vor allem Abwehrzäune der klimatisch bessergestellten Bevölkerungen, die ihr natürliches Privileg nicht mit den hungernden, frierenden und dürstenden Artgenossen teilen wollen.

Als komplizierende Faktoren kommen noch hinzu die ungleiche, gänzlich „ungerechte” Verteilung der Bodenschätze, die unabsehbaren Folgen des Klimawandels und das nach wie vor exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung. Schlechte Aussichten für Homo sapiens.

Flanieren wir Happy Few doch ganz gelassen dem Untergang entgegen! Eile ist nicht geboten. Wir kommen schon noch früh genug ans Ziel.

Wintergarten

Tuesday, 27. January 2009

Die große Zeit des Varietés wird Ende dieses Monats wohl endgültig zu Grabe getragen, wenn im „neuen” Wintergarten in der Potsdamer Straße in Berlin der letzte Vorhang fällt. Schaut man zurück, so war die Renaissance der Varieté-Theater seit den 1980er-Jahren wohl nicht viel mehr als das letzte Aufflackern eines in der ersten Jahrhunderthälfte so überaus erfolgreichen Unterhaltungsangebots in den Großstädten der westlichen Welt. Nostalgie und das atemberaubende Erlebnis unmittelbarer Erfahrung artistischer Glanzleistungen allein erweisen sich spätestens angesichts der aktuellen Weltfinanzkrise für das zahlende Publikum der bürgerlichen Mittelschicht als zu schwache Motive, sich für einen Abend im Varieté aus dem Fernsehsessel hochzuschwingen.

Um 1900 gab es in der Reichshauptstadt Berlin nahezu 80 Varieté-Theater, unter denen der Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße seit 1889, neben dem benachbarten Apollo-Theater, als „erste Adresse” galt. Solche Vergnügungsstätten eröffneten zunächst den Zirkuskünstlern – Clowns, Jongleuren, Zauberern, Pantomimen, Dresseuren und Trapezartisten – die willkommene Gelegenheit, in der kalten Jahreszeit zu überwintern. Bald bot sich diesen Reisenden in Sachen Amüsement hier aber zudem die Chance, sich vor einem anspruchsvolleren Publikum als die jeweils Besten ihres Genres bekannt zu machen und damit den Sprung aus dem Sägemehl der Zeltarena aufs noblere, blitzblank polierte Parkett einer weltstädtischen Bühne zu schaffen. So gelten die Clowns Charlie Rivel und Grock, der Wunderjongleur Enrico Rastelli [s. Titelbild] und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, die alle auch im Wintergarten auftraten, selbst heute noch als bekannte Meister ihres Fachs, während ungezählte weniger virtuose Zirkuskünstler jener Zeit längst vergessen sind.

Es ist wohl eine tragische Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet im Berliner Wintergarten am 1. November 1895 eine brandneue Volksbelustigung ihre Premiere feierte, die diesem und allen ähnlichen Etablissements, rückblickend betrachtet,  den Todesstoß versetzen sollte. An jenem denkwürdigen Tag führten die Brüder Max und Emil Skladanowsky dort als „Schlussnummer” zum konventionellen Varieté-Programm mit ihrem „Bioscop”, erstmals in Deutschland und mit großem Erfolg, acht Kurzfilme vor. Die Berliner Filmpioniere blieben in der Konkurrenz zu den Pariser Gebrüdern Lumière und deren „Cinématographe” schon bald auf der Strecke, wohl auch deshalb, weil sich im Deutschen Reich kein gut betuchter Förderer für ihre zukunftsweisende Erfindung fand.

Und jetzt haben wir den Salat. Nachdem im „alten” Wintergarten am 21. Juni 1944 – Stauffenberg, der neue Kinoheld unserer Tage, bereitete gerade sein gescheitertes Attentat vor – das letzte Varieté-Programm über die Bühne gegangen war und bald darauf „Bomber Harris” diesen Kulturtempel in Schutt und Asche gelegt hatte, war es eine Großtat ambitionierter Freunde der Kleinkunst wie André Heller und Bernhard Paul, dass der Wintergarten 1992 an neuer Stelle seine Wiederauferstehung erleben durfte.

Damit ist nun in wenigen Tagen auch wieder Schluss. Achtundsechzig feste Arbeitsplätze bleiben auf der Strecke, von der Platzanweiserin bis zum Impresario. Ein großer Name, der Wintergarten, geht damit wohl endgültig unter. Und Baggesen, der in diesem Etablissement seine größten Triumphe feierte, ein langsamer Leisetreter unter den blitzschnellen Jongleuren seiner Zunft? Der ist ohnehin schon längst vergessen.

Eschenwelt

Monday, 26. January 2009

Die besagte Esche hinterm Haus ist längst nicht mehr schneebestäubt, der Himmel wieder blau – und die Sonne lässt das winterfeste Gewächs im Vordergrund und das Nadelgehölz ringsum grün aufleuchten.

Die Esche, „meine” Esche, steht aber nackt da und wird noch für viele Wochen so sein. Wie überstehen die entlaubten Bäume dieser Art bloß die kalte Jahreszeit? Wenn sie es mir verraten könnten, hätte ich wohl einiges von ihnen zu lernen.

Aber auch als stummes Monument der Winterschläfrigkeit ist Yggdrasils täglicher Anblick für mich mehr als ein unlösbares Rätsel. Umso mehr, als es, das Bäumchen, nun seine Hoffnung auf einen neuen Blattaustrieb richten kann.

Sind Bäume männlich oder weiblich? Ich bin überzeugt, dass „der Baum” ein grammatischer Missgriff der deutschen Sprache ist. Selbstredend müsste es „die Bäumin” heißen, oder gar „die Baum”. Der Kaktus, ja, das mag hingehen.

Bei den spezielleren Namen der einzelnen Baumarten ist die Sprache klüger: die Pappel, die Birke, die Tanne, die Buche, die Fichte, die Zeder, die Eiche, die Kastanie, die Linde, die Ulme, die Eibe, die Erle, die Kiefer – und eben auch die Esche. (Lediglich der Ahorn tanzt aus der Reihe, als bemerkenswerter Sonderfall.)

Kannitverstan

Sunday, 25. January 2009

Den getreuen, zuverlässig bruchsicheren Hebel anzusetzen hieße heute, / unzeitgemäße Verachtung zu zeigen: welch animalische Gebärde, / ein wildes Zucken um die unvermessenen Mundwinkel spielen zu lassen, / kaum bedenkenswert. Unverstanden.

Drum hülle ich mich lieber in sonntägliches Schweigen. / Einstweilen, vom blaugebläuten Himmel geleckt. / Bin ich denn noch ganz bei Trost? / Grins du nur in den fettfleckigen Spiegel, du Ausgeburt / fremdstämmiger Selbstkritik. Gehe in dich und verkümmre.

Kein Weg, so holzig er auch sei, / führt aus diesem Gestrüpp in die Ewigkeit. / Schade.

Wohin immer du zurückblickst, nirgends und überall / leuchtet eine verheißungsvolle Finsternis. / Stattdessen: Mickymäuse, die Purzelbäume schlagen. Tarzans Lianen. / Die speziellen Ausformungen mehr oder weniger geglückter / Wirbeltiere.

Ist doch wirklich ein Elend: dass / gerade wir, die Krone der Schöpfung / deren traurigen, ausrottbaren Rest aus verständnislosen Augen anglotzen, / auf den ölschluckenden Schnellstraßen / im Steakhaus / hinter den sprachlosen Fibeln der Verdammnis.

Dingwelt (VIII)

Saturday, 24. January 2009

„Unkaputtbar” – mit diesem Neologismus bewarb Coca-Cola in Deutschland 1990 die Einführung der PET-Pfandflaschen. Zwar hat es das neue Adjektiv noch nicht in den Duden geschafft, aber im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich‘s längst durchgesetzt, was über hunderttausend Belegstellen bei Google bezeugen. Ein Konsum- bzw. Gebrauchsartikel, der angeblich nicht kaputtgehen kann, scheint also damit in neuerer Zeit wieder einen hohen Kaufanreiz zu bieten. Das ist nur zu verständlich, denn bis dahin hatten sich in der kapitalistischen Warenproduktion dem ganz entgegengesetzte „Werte” durchgesetzt, die nun zunehmend in Verruf gerieten. Es herrschte zuvor eine Ex-und-hopp-Mentalität. Wenngleich möglichst billige, jedoch entsprechend kurzlebige Erzeugnisse fanden reißenden Absatz. Die Ergebnisse soliden Handwerks fristeten neben den Wegwerfprodukten der Massenproduktion nur noch ein Nischendasein für Besserverdienende.

Als wir vor vier Jahren wieder mal umzogen, leisteten wir uns einen neuen Staubsauger. In unserer aktuellen Mietwohnung liegt, noch vom Vormieter, eine dunkelblaue „Auslegeware”, Loriot lässt grüßen. Unsere Hündin Lola ist blond. Mindestens zweimal pro Jahr kommt sie in die Mauser, das sieht man auf dem blauen Teppich dann sehr. Folglich entschieden wir uns für einen Sauger, dem wir zutrauen, diesem wiederkehrenden Problem mit speziellen Düsen begegnen zu können. Unsere Wahl fiel auf den AEG Electrolux Twinclean, einen Bodenstaubsauger, der ohne die unsäglichen Tüten auskommt, also auf ein Stiefkind der genialen Erfindung von Sir James Dyson. Diesen Staub- und Haarfresser ließen wir uns damals rund 350 Euro kosten. Was tut man nicht alles für seinen Hund!

Bis vor ein paar Tagen leistete uns der Sauger gute Dienste, wenngleich er immer mal wieder kurzfristig streikte. Eine rote Warnleuchte blinkte dann auf, Twinclean war außer Atem gekommen und bat um eine Verschnaufpause. Auch die rotierenden Bürsten blockierten gelegentlich, wenn sich allzu viele blonde Hundehaare in ihnen verfangen hatten. Aber mit solchen Arbeitsunterbrechungen lernt man als geprüfter Hausmann zu leben. Zwischenzeitlich las ich dann in Peter Moslers Die vielen Dinge machen arm.

Als wirklich praktisch erwies sich auch, dass wir unser staubsaugendes „Haustier” an der langen Leine führen konnten. Dafür sorgte ein Kabelaufroller. Nach dem Druck auf eine besondere Taste schnurrte die viele Meter lange Schnur zurück in seinen dicken Bauch. Bis vor ein paar Tagen. Dann versagte dieser devote Service plötzlich und ohne erkennbaren Grund seine satt schnackende Gefälligkeit. – Ulla schraubte das dienstbare Gerät auf und kämpfte sich tapfer bis zum Auslöser seiner hoffentlich nur vorübergehenden Betriebsstörung vor. Der zauberhafte Rückwickelmechanismus wurde von einer gespannten Metallfeder [s. Titelbild] bewirkt, die sich – warum auch immer – verheddert hatte. Der tief im Plastikbauch unseres Saugers versteckte Aufroller erwies sich beim besten Willen als absolut irreparabel. Reklamationsfristen sind nach vier Jahren selbstverständlich längst abgelaufen. Wenn ich nun an dieser Stelle von einer böswillig beabsichtigten „Sollbruchstelle” des Herstellers sprechen würde, zöge er mich vielleicht vor den Kadi, wegen geschäftsschädigender übler Nachrede.

Nun tröste ich mich erstens mit dem kreativen Einfall, dass vielleicht der defekte Kabelrückspul-Mechanismus des Saugers durch einen externen Kabelaufwickler ersetzt werden kann. Zweitens rede ich mir ein, dass dieser ganz außergewöhnliche Unglücksfall keinerlei Rückschlüsse auf die Fertigungsqualität moderner Industrieprodukte zulässt: Honi soit qui mal y pense! Drittens unterstelle ich meiner Frau, dass sie durch unsachgemäße Handhabung unseres sonst doch bisher so treuen Staubsaugers dessen Versagen selbst ausgelöst hat. Und viertens frage ich mich, warum denn bloß der brave Staub, Niederschlag einer unbekümmerten Endzeitlichkeit, sub specie aeternitatis in dermaßen schlechtem Ansehen steht.

Non-believers

Friday, 23. January 2009

Da hat nun also der Mann aus Honolulu zu seinem Amtsantritt eine tatsächlich jeden denkenden und zugleich empfindsamen Menschen bewegende Rede gehalten, die man im vollständigen Wortlaut überall auf der Welt nachlesen kann – und die mir vorgestern in deutscher Übersetzung von meiner Tageszeitung zum Frühstück serviert wurde. (Süddeutsche Zeitung Nr. 16 v. 21. Januar 2009, S. 2.)

“We Have Chosen Hope Over Fear”. – „Wir haben die Hoffnung über die Furcht gestellt”. Unter diesem Titel kündigt der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika einen Systemwandel, einen politischen Wetterwechsel, eine Rückkehr zu alten Tugenden, eine moralische Erneuerung der Weltmacht Nr. 1 an, die man nach den schier endlos scheinenden, bitter missglückten acht Amtsjahren seines Vorgängers kaum mehr für möglich gehalten hätte.

Ich bin meiner Tageszeitung noch heute dafür dankbar, dass sie mich früher als alle anderen Medien hierzulande darüber unterrichtete, welch vielversprechenden Kandidaten die Democratic Party da ins Rennen um die Präsidentschafts-Kandidatur geschickt hatte. Das dürfte wohl nun schon fast zwei Jahre her sein. Meinem Arbeitskollegen am gegenüberliegenden Schreibtisch – ich war da noch „in Arbeit” – rief ich damals zu: „Merken Sie sich mal den Namen Barack Obama. Das ist der nächste Präsident der USA.” Und später hoffte und bangte ich monatelang im kräftezehrenden Vorwahlkampf „meines” Kandidaten gegen seine Parteigenossin Hillary Clinton, gegen jene Frau, die ihrem Ehegatten, dem 42. Präsidenten der Weltmacht, den Blowjob mit seiner Praktikantin verziehen hatte, dass Barack Obama trotzdem und obwohl sein Name so fatal an den des Staatsfeinds Nr. 1, Osama bin Laden, erinnerte, schließlich den Sieg davontragen würde. Das ist nun alles Vergangenheit.

Was ich meiner Tageszeitung, der Süddeutschen, allerdings nie verzeihen werde, das ist ein Fauxpas, der außer mir vermutlich keinem ihrer Leser aufgefallen sein dürfte. Im Text der Obama-Rede hebt die SZ einige Passagen rot hervor, um ihre besondere Bedeutung in Marginalien zu kommentieren. Dass Barack Obama sein Land als „eine Nation von Christen und Muslimen, Juden und Hindus – und von Atheisten” bezeichnet, wertet die SZ-Redaktion, wohl zu Recht, als „Novum in einer Inaugurationsrede. Obama zählt auch die Muslime, Juden, Hindus und Atheisten zu den Bürgern, welche die Grundlage der amerikanischen Nation bilden.”

Mal abgesehen davon, dass Obama die fünfte Weltreligion, den Buddhismus, in seine Aufzählung nicht aufnahm und somit auch den Dalai Lama brüskiert haben dürfte, befremdet mich, dass meine Frühstückszeitung die believer in fettem Rot hervorhebt, die non-believer hingegen in tristem Schwarz belässt [s. Titelbild]. Da war offenbar in der Schlussredaktion der SZ ein Praktikant zugange, der sonntäglich den Klingelbeutel durch St. Peter trägt.

Not leidend

Wednesday, 21. January 2009

Schon von Weitem sehe ich, dass mit meiner Bank etwas nicht stimmen kann. Vor dem monumentalen Gebäude im Palazzo-Stil erhebt sich ein Baugerüst. Arbeiter in blauen Overalls sind damit beschäftigt, die Fassadenverkleidung aus weißem Carrara-Marmor abzuschälen und auf einen Lastwagen zu verladen. Auf meine Frage, was das denn zu bedeuten habe, erwidert ein breit grinsender Türke mit einem $$-Tattoo auf dem rechten Handrücken: „Das wird jetzt zu Geld gemacht.”

Beim Betreten der Schalterhalle trifft mich fast der Schlag. Dort, wo noch gestern imposante Kristalllüster hingen und diese Kathedrale des Geldverkehrs in gleißendem Licht erstrahlen ließen, baumeln nun nur noch ein paar vereinzelte Energiesparleuchten von der Decke herab, in deren zwielichtigem Schein sich mir ein Bild des Jammers darbietet. Unwillkürlich muss ich an die Kirche in Soylent Green denken, wo Lincoln Kilpatrick als farbiger Priester den Mühseligen und Beladenen im New York des Jahres 2022 eine dürftige Bleibe geschaffen hat [s. Titelbild]. Überall verstellen Notbetten den Weg zu den Kassenschaltern, bedecken Luftmatratzen und Schlafsäcke das bis vorgestern noch stets spiegelblank polierte Parkett, auf dem jetzt stöhnende, sabbernde, wimmernde Elendsgestalten sich zur letzten Ruhe gebettet haben. Etliche dieser traurigen Kreaturen strecken ihre flehenden Hände nach mir aus, betteln mich um ein paar Cent an, während ich mir mühsam einen Weg zu jenem „Infopoint” erkämpfe, an dem ich in den letzten dreißig Jahren Terminabsprachen mit den Sachbearbeitern der oberen Etagen vereinbarte.

„Was ist denn hier los?” Meine Frage, die ich an „Miss Moneypenny” gerichtet habe – ich nenne die dienstälteste Beschäftigte des Kreditinstituts meiner Wahl insgeheim schon seit Urzeiten so, weil sie tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit Lois Maxwell in den frühen James-Bond-Filmen hat -, meine entsetzte Frage trifft auf völliges Unverständnis. „Aber haben Sie es denn noch nicht mitbekommen, Herr H.? Wir sind durch die Finanzkrise völlig verarmt. Die komplette Belegschaft musste entlassen werden. Ich bin die Letzte, die hier noch die Stellung hält, um unsere treuen Kunden zu ver-, äh, zu trösten. Wir mussten auf Anordnung der Stadtverwaltung unsere Räumlichkeiten zum Notasyl für Obdachlose umrüsten.” Flüsternd fügt sie hinzu: „Einige meiner ehemaligen Kollegen liegen auch auf den Pritschen.” Und mit nahezu ersterbender Stimme: „Dort hinten, der alte Mann mit dem hässlichen Hungerödem neben der Nase, das ist der ehemalige Vorstandschef der Bank. Und dabei hatte er doch immer so einen guten Riecher!” Verschämt stecke ich Moneypenny einen Zehn-Euro-Schein zu, den sie augenblicklich im Ärmel ihrer nicht mehr ganz sauberen Bluse verschwinden lässt: „Ich schäme mich so! Das ist alles soo furchtbar – sooo erbärmlich!” – Dicke Tränen perlen auf dunkle Augenringe …

Nachdem ich eben aus diesem Albtraum an meinen bescheidenen Schreibtisch zurückgekehrt bin, lese ich mit Verwunderung, dass die Jury der Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres das Wort von den „Not leidenden Banken” zum „Unwort des Jahres 2008″ gekürt hat. Unworte, so hatte ich bisher angenommen, seien solche sprachlichen Neubildungen, die in einem krassen, geradezu zynischen Widerspruch zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Tatsachen in Deutschland stehen. Der durch diese verfehlte Jury-Entscheidung inkriminierte Begriff beschreibt aber doch die aktuelle Situation sehr zutreffend, wovon ich mich durch persönliche Inaugenscheinnahme soeben überzeugen musste.

Geld ist ja eigentlich nicht meine Welt. Und so war mein Hauptmotiv, warum ich mich hier zu diesem für mich nahezu bedeutungslosen Thema zu Wort gemeldet habe, ein ganz anderes. Ist es denn etwa nicht erschreckend, dass mittlerweile selbst die publicityträchtige Bekanntgabe eines solchen „Unworts”, auf der breiten Front der offenbar Ahnungslosen, in der zwar nicht falschen, aber doch veralteten Schreibweise „notleidende Banken” erfolgt? Wo doch der aktuelle Duden (24. Auflage, S. 735) seit 2006 ausdrücklich „Not leidend”, in getrennter Schreibung, als bevorzugte Variante empfiehlt? – Meine Sorgen möchte ich haben.

Protected: Raymond Martin (II)

Tuesday, 20. January 2009

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Was nun?

Monday, 19. January 2009

Die Arbeitswoche lässt sich nicht gut an. Nachdem ich gegen Mitternacht noch in Raymond Martins Ich bin gut gelesen habe und dabei feststellen musste, dass mein Eccentrics-Beitrag nicht nur vor sachlichen Fehlern strotzt, sondern vermutlich auch in seinem Fazit ungerecht ist, schlief ich mit dem unerträglichen Gefühl ein, mich als Verräter geriert zu haben.

In einem Albtraum, aus dem ich gegen drei Uhr nachts schweißgebadet erwachte, hatte ich an Händen und Füßen gefesselt und nackt auf einem Thron gesessen, an dem die lange Reihe meiner Feinde vorbeidefilierte, um mir durch einen Metalltrichter allerlei eklige, giftige und unverdauliche Scheußlichkeiten einzuflößen. (Vermutlich verdankte ich diese unerträgliche Reminiszenz dem Auburtin-Feuilleton Gold, das ich gestern zum zweiten Mal las und in dem es heißt: „Der zweite Grad war jener berühmte Schwedentrunk. Zwei Soldaten gossen dem Liegenden durch einen Schlauch die Mistjauche in den Mund und drückten dann auf den Magen, daß die ekle Brühe hoch herausspritzte. Dreimal taten sie es, und nach jedem Mal fragten sie nach seinem Gold […].”) Diese Foltermethode erinnerte mich selbst im Traum noch vermutlich an den Film Cartouche, der Bandit, mit Jean-Paul Belmondo und Claudia Cardinale in den Hauptrollen, den ich im Vormittagsprogramm des ZDF sah, zerlegt in einen Zwei- oder Dreiteiler, Anfang der 1970er Jahre bei einem Freund aus dem Süthers Garten, dessen Mutter sich erfreulicherweise alltäglich zum Mittagsschlaf zurückzog und uns die Herrschaft über die Traumfabrik aus der Flimmerkiste überließ. Auch in diesem Film von Philippe de Broca (1962) wurde einem gefesselten Kampfgefährten des französischen Schinderhannes-Pendants ein solcher Trunk eingeflößt, was meine masochistischen Pubertätsphantasien heftig stimulierte.

Kein ganz unpassender Eintritt in einen Tag, an dem man Edgar Allan Poe zu seinem runden Geburtstag gratulieren möchte. In „irgendeiner kleinen Pension in der Haskins[-] oder Hollis Street im südlichen Teil von Boston” (Frank T. Zumbach: E. A. Poe. Eine Biographie. München: Winkler Verlag, 1986, S. 22) erblickte, heute auf den Tag genau vor zweihundert Jahren, der Sohn eines nicht gerade überaus erfolgreichen Schauspieler-Ehepaares das Licht dieser immerzu untergehenden Menschenwelt – Grund genug, diesem Großmeister des schwarzen Humors erneut meine Reverenz zu erweisen, nachdem ich seiner unbezweifelbaren Genialität ja schon mit meiner XXVII. Literarischen Soiree am 1. August 1991 den nötigen Respekt gezollt habe.

Allein, ich konnte in meinem Bücherdurcheinander weder die Poe’sche Werkausgabe aus dem Walter-Verlag in Olten und Freiburg im Breisgau finden, übersetzt von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, noch die Sammlung seiner Meistererzählungen im Manesse-Verlag. Ich konnte noch nicht einmal den Schlüssel zu meinen Bücherkatakomben finden, wo sich vielleicht diese beiden Preziosen versteckt halten. Erfolgloses Suchen – das hätte vielleicht auch noch ein traumatisches Thema für eine weitere „Short Story” des vermutlich im Delirium tremens verendeten Dichters abgeben können. Oder starb er, wie andere meinen, an einem tollwütigen Katzenbiss? Gar an der Cholera?

Ursprünglich wollte ich heute über Raymond Roussels geniales Patentrezept für das Matt mit Läufer und Springer berichten. Auch das ist ja eine Art Albtraum: wenn es im Endspiel nicht gelingt, innerhalb der vorgeschriebenen Höchstzahl von 50 Zügen mit zwei Leichtfiguren und dem König den Sieg zu erzwingen! Roussel wird warten müssen. Alles geht nun mal nicht, an einem solchen trüben Tag – und nach solch finsterer Nacht.

[Titelbild: Alfred Kubins Schlussvignette zu Poes Novelle Lebendig begraben, zuerst erschienen in der Sammlung König Pest und andere Novellen. A. d. Am. v. Gisela Etzel. München u. Leipzig: Verlag Georg Müller, 1911, S. 97.]

Schachkultur

Sunday, 18. January 2009

Das Angebot von Schach-Periodika in deutscher Sprache hat sich im Zuge der Pressekonzentration deutlich reduziert. Heute gibt es vor allem noch Schach – Deutsche Schachzeitung aus dem Berliner ExzeLsior-Verlag, deren Anfänge bis 1947 zurückreichen; das Schach-Magazin 64 vom Schünemann-Verlag in Bremen; und Rochade Europa aus dem thüringischen Sömmerda. Während einstmals renommierte Blätter (wie Schach-Echo, Deutsche Schachblätter, Deutsche Schachzeitung, Der Schachspiegel und die Wiener Schachzeitung) auf der Strecke geblieben sind bzw. von den vorgenannten Schachorganen „geschluckt” wurden, gab es aber seither auch einige wenige Neugründungen, die abseits der üblichen Themen – Turnierberichterstattung, Meldungen aus dem Vereinsleben, Abdruck kommentierter Partien und von Schachkompositionen – inhaltlich nach neuen Wegen suchten.

Das Prunkstück unter diesen Newcomern ist zweifellos KARL – Das kulturelle Schachmagazin, das seit 2001 viermal jährlich in Frankfurt am Main erscheint. Jedes Heft, reich bebildert und auf Hochglanzpapier gedruckt, widmet sich einem Schwerpunktthema, das in mehreren ausführlichen Beiträgen von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Mal werden reizvolle historische Gegenstände beleuchtet, wie das berühmte Café de la Régence als Mittelpunkt der Schachszene im Paris des 18. und 19. Jahrhunderts, oder die Geschichte des Blindschachs. Andere Hefte stellen einen der großen Meister der Vergangenheit in den Fokus, so Emanuel Lasker oder Aaron Nimzowitsch. Aber auch zentrale Themen der Schachtheorie, wie das Tempo, das Spiel aus der Defensive oder die Rolle des Zufalls im Schachspiel wurden schon eingehend gewürdigt.

Ich kann ein Abonnement dieses ebenso vielseitigen, anregenden wie kompetenten Schachmagazins nahezu ohne Einschränkung jedem Schachbegeisterten, ob Laie oder Vereinsspieler, nur wärmstens ans Herz legen, so er sich denn nicht bloß für die neuesten Erkenntnisse der Eröffnungstheorie interessiert und über den Rand des Brettes mit den 64 Feldern hinausblicken möchte. Eine kleine Mäkelei kann ich mir leider dennoch nicht verkneifen: KARL bedarf dringend eines gründlichen Korrektors. Die sprachlichen Schludrigkeiten unterbrechen den Lesegenuss auf nahezu jeder Seite. Ein Beispiel nur! In einer Bildunterschrift lese ich den Titel zu einer doch so schönen Tuschezeichnung von Helmut Toischer: „Schwarzer König kann Umwandlung des Bauers [!] nicht verhindern” (Heft 4/2006, S. 5). Es darf doch nicht sein, dass ein Schachmagazin, das sich sonst mit vollem Recht „kulturell” nennt, nicht weiß, wie man den Bauern dekliniert. Dieser Bauer war vergiftet – und „des Bauers” falscher Genitiv macht mich giftig.

Bevor ich durch den Wikipedia-Artikel über KARL eines Besseren belehrt wurde, fragte ich mich, woher dieses Magazin denn eigentlich seinen Namen hat. War er gedacht als Analogon zu Fritz, dem prominentesten Schach-Computerprogramm unserer Zeit? Diese Erklärung schien mir etwas dürftig, und so kam mir ein Gedankenblitz. Vielleicht ist KARL ein Akronym für die Instruktion: „König am rechten Läufer!”. Bekanntlich haben Anfänger ja beim Aufstellen der Figuren oft das Problem, auf welche Felder sie König und Dame stellen sollen. Dem Weißen könnte diese Eselsbrücke bei der Positionierung seiner beiden zentralen Figuren hilfreich sein – und der Schwarze müsste dann nur noch wissen, dass er seinen König und seine Dame vis-à-vis aufzustellen hat. Stattdessen teilt Herausgeber und Chefredakteur Harry Schaack mit, dass KARL vielmehr ein Akronym für „Kommunikation, Ansichten, Realitäten und Lorbeerkränze” sei – und zudem der Vorname eines Klubmitglieds der Schachfreunde Schöneck, aus deren Vereinszeitschrift dieses Magazin ursprünglich hervorging.

Ein Jahresabonnement von KARL, das es neuerdings auch in einer englischsprachigen Parallelausgabe gibt, kostet inkl. Porto 20,00 €, das Einzelheft am Kiosk 5,50 €. – Alle alten Hefte (bis auf drei) sind beim Verlag noch lieferbar.

[© Titelbild: Alltagsszene im Régence; aus: KARL 4/2006, S. 19.]

Zeichen schreiben

Friday, 16. January 2009

Die Zeitschrift SIGNA – Beiträge zur Signographie, deren erstes Heft im Herbst 2000 in der Edition Wæchterpappel im Verlag der Denkmalschmiede Höfgen im sächsischen Grimma erschienen ist, hat kaum ihresgleichen unter den Periodika zum Thema „graphische Zeichen”, soweit ich das internationale Angebot überblicke, und schon erst recht nicht in Deutschland. Die mittlerweile zehn schmalen Hefte (plus ein Sonderheft „anläßlich der Kodierung des großen ß”), im schlichten ziegelroten Umschlag und im Format 16,5 x 24,0 cm erschienen, bestechen durch ihre ebenso zurückhaltende wie konsequente Gestaltung, vor allem aber durch ihre ganz außergewöhnliche, originelle Themenwahl.

So beschäftigte sich etwa Heft 2, in der Tradition des großen Kalli- und Typographen Jan Tschichold, mit den „Formenwandlungen der Et-Zeichen”; Heft 4 mit dem „Punkt in der Musik”; Heft 5 mit den „Publikzeichen im realen und medialen öffentlichen Raum”; und Heft 7 war der „Verschriftung der Gebärdensprache” gewidmet. Jedem dieser nur auf den ersten Blick abgelegenen Gegenstände gewinnen die Autoren unter der Herausgeberschaft von Andreas Stötzner und Dr. Uwe Andrich einen überraschenden Erkenntniswert ab. Zudem ist es aber ein besonderes Vergnügen, dass dies auf so unaufdringliche Weise, so unprätentiös und insbesondere höchst anschaulich geschieht.

Mein persönliches Lieblingsheft ist das achte, „Zeichen schreiben”, das die Ergebnisse eines Kurses im Grundstudium Schrift an der Burg Giebichenstein in Halle unter Leitung von Hannelore Heise dokumentiert. „Die Aufgabe bestand im Erarbeiten eines kohärenten und doch in sich spannungsvollen Zeichensatzes – allein aus dem Schreiben heraus, entbunden von allen sonstigen Bezügen wie Tradition, Stilistik, Bedeutung und Konvention.” (Andreas Stötzner: Vorwort zu SIGNA, Heft 8, S. 5.) Hauptsächlich bildet dieses Heft die so unterschiedlichen Ergebnisse des Experiments ab, eins schöner als das andere, allesamt nicht lesbar, nicht entzifferbar, nicht dechiffrierbar im üblichen Sinne einer allgemein verbindlichen Bedeutungskonvention – und gerade deshalb sehr aussagekräftig zu der Frage, in welchen Urgründen denn eigentlich unser graphisches Bezeichnen der Welt und Wirklichkeit wurzelt.

Das (hoffentlich nur vorläufig) letzte Heft der Reihe ist 2006 erschienen, mithin vor nun schon drei Jahren – was zu der Befürchtung Anlass geben muss, dass dieses so hoffnungsvoll begonnene, in jedem einzelnen seiner Ergebnisse beachtenswerte Projekt einer tatsächlich erstaunlichen, zum Sehen und Verstehen einladenden Zeitschrift vor der Zeit auf der Strecke bleibt. Dies würde ich sehr bedauern, denn an noch unbehandelten Themen zur „Signographie” mangelt es ja wahrlich nicht. So erträume ich mir beispielsweise ein SIGNA-Heft über die „Tags” der spraydosenbewaffneten Graffiti-Maler unserer Tage, oder eins über die Gaunerzinken des fahrenden Volkes der Vergangenheit.

Darum hier ausnahmsweise mal Reklame. Bestellen Sie SIGNA, liebe Leser meines Weblogs. Fast alle alten Nummern sind noch lieferbar. Setzen Sie ein Zeichen gegen den Trend, Zeichen zwar tagtäglich zu entziffern, ihr tiefstes Wesen aber nicht verstehen zu wollen!

[Titelbild: Schriftbild von Lei Song; aus: SIGNA 8: Zeichen schreiben, S. 19. – © Verlag Denkmalschmiede Höfgen gGmbH, Edition Wæchterpappel, Grimma 2005.]

Protected: Seligkeiten?

Wednesday, 07. January 2009

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Sehr gut?

Tuesday, 06. January 2009

Gestern besuchte mich mein guter alter Freund Heinrich, mit dem sich immer trefflich über Gott, das Wort streiten lässt. „Streiten” heißt hier zwar in der Regel „aneinander vorbeireden”, aber in dieser beiderseitigen Verfehlung liegen meist mehr Erkenntnismöglichkeiten als im nur vermeintlichen gegenseitigen „Verständnis” jener, die sich, gleich auf welcher Seite des Zauns, mit einem freundlich-toleranten Lächeln auf den Lippen zunicken, wie zum Beispiel im Gespräch über Religion und Vernunft, das Professor Jürgen Habermas und Kardinal Joseph Ratzinger 2004 geführt haben.

Heinrich machte mir ein sehr liebenswürdiges Geschenk, den Kleinen Atheismus-Katechismus, den Gerd Haffmans im vorigen Jahr zusammengestellt und herausgegeben hat (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2008). Auf gerade einmal 170 Seiten versammelt Haffmans einige der schärfsten literarischen Gewürze, mit denen sich das gelegentlich eher fade schmeckende Eintopfgericht nüchternen Unglaubens abschmecken lässt. Neben den Klassikern wie Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer, Karl Marx und Charles Darwin – dem Jubilar dieses neuen Jahres – sind auch meine speziellen Hausunheiligen Fritz Mauthner, Theodor Lessing und Arno Schmidt mit ihren besten Ketzereien vertreten. Das proper fadengeheftete Bändchen kostet reelle 12,90 €, beschert den mitdenkenden Leser überreich mit bitteren Einsichten, sauren Erkenntnissen und scharfen Witzen und verdirbt ihm womöglich auf Lebenszeit den Geschmack für die süßlichen Versprechungen einer besseren Jenseitigkeit via Gottesglaube, Beichte und Frömmelei.

Besonders erfreut haben mich die Aphorismen zur Gotteswissenschaft (S. 101-109) von Ludger Lütkehaus (* 1943), der mir zuerst durch sein handliches Buch über die Onanie („O Wollust, o Hölle”. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag) und dann erneut mit seinem gewichtigen Buch über das Nichts (Frankfurt am Main: Haffmans bei Zweitausendeins, 2000) angenehm aufgefallen war: als sowohl schamlos Fragender wie geistreich Antwortender.

Zwei Kostproben. „Warum erfreut sich das Recycling so großen Zuspruchs? Weil es die realistischere Form der Unsterblichkeit ist. Sublimation der irdischen Abfallwirtschaft mit hinausgeschobenem Verfalldatum.” (Recycling, S. 103.) – Und dann dies hier: „,Siehe, es war alles sehr gut.‘ Der Schöpfer, der sich am Ende seiner Sechstagewoche selber zu seinem Schöpfungswerk gratuliert, liefert nicht nur ein beklagenswertes Beispiel für den Mangel an Realismus. Er ist auch der bei weitem Eitelste in der Gemeinde der Selbstgefälligen. Den Realismus liefert er zwar mit den Folgen des Sündenfalls nach. Sein Schöpfer-Narzissmus aber bleibt ungetrübt. Er rettet sein Bild aus dem Desaster, indem er die Schuld nie bei sich selber sucht. Unter allen Uneinsichtigen ist er der Unbelehrbarste.” (Sehr gut, S. 108.)

Ein passendes Geschenk zu allen christlichen Feiertagen – sowie zur Taufe, Kommunion und Letzten Ölung!

Deckchair

Monday, 05. January 2009

[Heimlich, still und leise, über Nacht.]

Laberfeld

Sunday, 04. January 2009

Bei uns zu Hause stand seit den 1950er-Jahren immer die gute Bärenmarke – „Allgäuer Alpenmilch · ungezuckerte Kondensmilch” – auf dem Frühstückstisch. Bemerkenswert, dass die erste Wortmarke, mit der ich nähere Bekanntschaft schloss, das Wort „Marke” expressis verbis mit sich führte. Die Melodie zum Slogan dieser Büchsenmilch, „Nichts geht über BärenmarkeBärenmarke zum Kaffee”, könnte ich noch immer singen, wenn ich denn singen könnte. Der darin behauptete Alleinstellungsanspruch allerdings war, wie meist in solchen Fällen, reichlich verwegen, denn es gab ja auch noch Glücksklee. 1925 gründete der Kaufmann Otto Lagerfeld (1881-1967) in Hamburg die Glücksklee-Milchgesellschaft zum Vetrieb von Dosenmilch, die rasch expandierte und den Milch-Industriellen zu einem reichen Mann machte, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil das Firmenlogo, ein vierblättriges grünes Kleeblatt auf rot-weißem Grund, sich als Bildmarke mit hohem Wiedererkennungswert erwies und ihm jenseits allen Aberglaubens jenes Glück bescherte, das am Ende nur der Tüchtige hat. Aus dem Glückskleeblatt ließen sich bis in die späten 1970er-Jahre manch zugkräftige Werbesprüche ableiten: „Hauptsache Glücksklee: Milch von glücklichen Kühen” (1961), „Ein Schuß Glück” (1971) und „Jeder braucht ein kleines bißchen Glück” (1978).

Glück hatte auch Ottos Sohn Karl (* 1933), wenngleich zunächst nur dank seiner noblen Abstammung. Außer dem komfortablen Portefeuille scheint Karl aber auch Vater Ottos Instinkt für die Durchschlagskraft von Markenzeichen geerbt zu haben: Fächer, Pferdeschwanz und Sonnenbrille machten den weltberühmten Modeschöpfer und seine Kollektionen für Valentino, Krizia, Chloé, Chanel und Fendi zu einer überaus erfolgreichen, unverwechselbaren Marke. Das ist für einen wie mich, der seinen Kaffee seit vielen Jahren schon schwarz trinkt, kein Grund, neidisch zu werden auf des Schlossherrn 300.000 Bücher und ihn gar zu fragen: „Haben Sie die alle gelesen?” Bärbeißig werde ich aber, wenn ein solcher Schnittmustervirtuose, statt bei Nadel und Faden zu bleiben, zu allem Überfluss und meinem Überdruss den Mund aufmacht und meint, er dürfe ungestraft seine Lebensweisheiten zum Besten geben.

Schon im letzten Stern des vergangenen Jahres hatte die Marke KL bekannt: „Solange wir Fleisch essen, können wir uns nicht über Pelze beschweren.” (Nr. 52 v. 17. Dezember 2008, S. 127; dort wohl aber zit. nach dem Daily Telegraph, der wiederum Radio 4 Today zitierte.) Und gestern stellte der Spiegel diesen markigen Satz des Beinahe-Vegetariers („Ich kann es [Tierfleisch] kaum essen, weil es nicht mehr wie das aussieht, was es war, als es lebte.”) in einen markanten Kontext: „Der deutsche Designer verwies auf die Jäger im Norden, ‚die davon leben und sonst nichts gelernt haben außer der Jagd […] und jene Bestien töten, die uns töten würden, wenn sie es könnten.‘” Solange wir uns mit Strom aus der Steckdose rasieren, können wir uns nicht über Atomkraftwerke beschweren. Solange der überwiegende Teil unserer Wohlstandsbevölkerung an Adipositas krepiert, darf die Anorexie meiner Models kein Thema sein. – Mensch Karlchen, du bist mir mal ‘ne Marke!

Übrigens bereitet dem wohlbestallten Kondensmilcherben auch die Weltwirtschaftskrise keinen sonderlichen Kummer. „Das ganze System sei ,ohnehin verrottet‘ gewesen. Die Rezession sei eine Art Großreinemachen.” Und zudem sei seine Branche, die Luxusindustrie, „von der Finanzkrise wenig betroffen: ,Zum Glück gibt es heute Vermögen auf der Welt, die es bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 noch nicht gab – chinesische, indische, arabische, russische. Wenn die Krise vorbei ist, werden Europa und Amerika endgültig die schöne alte Welt sein, und die neue Welt wird repräsentiert von Indien, China und den Golfstaaten‘, so Lagerfeld.” Das ist doch mal ein gänzlich unsentimentaler Businessman im sonst oft so nostalgischen Modegeschäft! Wenn er zurückblickt, dann im Zorn. Warum hat er sein Haus an der Hamburger Elbchaussee verkauft? „Ich hatte das Gefühl, die Elbe schneidet mich ab von meinem eigenen Wesen und versetzt mich zurück an meinen Ausgangspunkt, und das will ich nicht.” Geschichtslosigkeit als Lebensprinzip.

Die Bärenmarke hat kürzlich den Bären, der seinen Nachwuchs in sanften Schlummer wiegt [siehe Titelbild], aus seiner gut eingeführten Bildmarke entfernt. Solche marketing-strategischen Anbiederungen an die aktuelle political correctness und an schmusige Massenhysterien à la „Braunbär Bruno” und „Eisbär Knut” sind mir durchaus suspekt. Aber ein labernder Kondensmilcherbe, der uns seine bestialischen Werbesprüche für seine aktuelle Fendi-Kollektion damit schmackhaft machen will, dass doch schließlich jeder lieber einen toten Pelz trägt, als von seinem lebendigen Inhalt gefressen zu werden – der ist einfach nur degoutant.

Protected: Grobpepita

Saturday, 03. January 2009

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Protected: Raymond Martin (I)

Saturday, 03. January 2009

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Dreidel

Thursday, 01. January 2009

Als ich in den Zeitungen las, dass die Israelis ihre Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen „Gegossenes Blei” genannt haben, da dachte ich zunächst an den uralten Sylvesterbrauch des Bleigießens. Dabei wird bekanntlich Blei auf einem Löffel erhitzt und dann flüssig in kaltes Wasser geschüttet, sodass es zu einer vom Zufall oder vom Schicksal betimmten Form erstarrt. Die Gestalt dieses Bleiklümpchens wird anschließend gedeutet. Sieht es etwa aus wie ein Dolch? Dann bedeutet das: „Du wirst siegreich sein.” Oder erinnert es eher an eine Pfeife? „Achtung! Gefahr zieht auf.”

Ich wollte es aber genauer wissen und habe darum ein wenig recherchiert. Es verhält sich anders als von mir vermutet. Der Name der Offensive bezieht sich nicht aufs Bleigießen, sondern auf eine Verszeile des israelischen Nationaldichters Hayyim Nahman Bialik (1873-1934) aus seinem Gedicht Für Chanukka, in dem sich ein Kind über die vier Geschenke freut, die es der Tradition gemäß zum jüdischen Lichterfest erhalten hat. Der Vater zündete ihm die Kerzen (am neunarmigen Chanukka-Leuchter) an, der Schamasch (die “Dienerkerze”, mit der die übrigen acht Kerzen entzündet werden) leuchtete wie eine Fackel; die Mutter buk ihm Pfannkuchen, heiß und süß und mit Zucker bestreut; der Onkel schenkte ihm einen alten Penny; und der Lehrer hatte einen großen, allerfeinsten Dreidel für das Kind gekauft, aus gediegenem (gegossenem) Blei.

Ein Dreidel [siehe Titelbild] ist ein Kreisel mit vier Seiten, auf denen die vier hebräischen Buchstaben נ (Nun), ג (Gimel), ה (He), ש (Schin) zu lesen sind. Sie stehen für die Worte Nes gadol haja scham, die soviel bedeuten wie „Ein großes Wunder ist dort geschehen.” Dies bezieht sich auf den Sieg der gläubigen Juden im Makkabäeraufstand (164 v. Chr.) über makedonische Syrer und hellenisierte Juden und die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem. Das Dreidelspiel der jüdischen Kinder zu Chanukka ist aber wesentlich jüngeren Ursprungs und stammt ursprünglich aus Deutschland. Je nachdem, welchen der vier Buchstaben der kleine Kreisel zeigt, wenn er umgefallen ist, gewinnt der Spieler nichts, den ganzen oder halben Einsatz im Pott, oder er muss zwei Stücke, meist Süßigkeiten, hineintun. Wer das nicht kann, fliegt raus.

Chanukka ist ein bewegliches Fest und dauert acht Tage. In diesem Jahr begann es am Vorabend des 22. Dezember. Vielleicht gehörte es zur Strategie des israelischen Militärs, dass das Ende der Feierlichkeiten nicht abgewartet wurde, um den Feind zu überraschen – jedenfalls begann die Offensive bereits am 27. Dezember. Doch auch ein solcher „Tabubruch” folgt ja einer alten Tradition. Sowohl in den beiden „christlichen” Weltkriegen als auch im „islamischen” Krieg zwischen Iran und Irak wurde die gebotene und vom Feind eingehaltene Waffenruhe zu Weihnachten bzw. im Ramadan für Überraschungsangriffe missbraucht.

Der Dreidel kreist, die Bomben fallen. Kein gutes Omen zu Neujahr. Wann fällt der Dreidel auf die Seite? Auf welche Seite wird er fallen? Wir Menschen sind schon sonderbar. (Konrad Döbling)

Das Letzte

Wednesday, 31. December 2008

[The white flag. – Vgl. auch hier.]

Totenträume

Tuesday, 30. December 2008

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden ungezählte Deutsche, die sich leichtsinnigerweise Anfang August noch in Frankreich aufhielten, unter dem Vorwand der feindlichen Spionage verhaftet. Ich vermute, dass mit den Franzosen im Deutschen Reich nicht viel anders verfahren wurde. Krieg folgt ja im Großen und Ganzen, aber auch in allen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten der alttestamentarischen Regel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” (Ex 21, 24) – und bedeutet somit den sündhaften Verstoß gegen die radikale Forderung des Mannes aus Nazareth (Mt 5, 39), stattdessen die andere Wange hinzuhalten.

Einer dieser harmlosen Zivilisten, die es zu Kriegsbeginn eiskalt erwischt, ist der begnadete Feuilletonist Victor Auburtin (1870-1928), der als Auslandskorrespondent des Berliner Tageblatts von September 1911 bis Ende Juli 1914 in Paris weilt. Dem genussfreudigen Bonvivant wird zum Verhängnis, dass er sich bei der Flucht in die Schweiz auf der Zwischenstation in Dijon von einer herrlichen Aalpastete, einem prachtvollen Rehrücken und zwei Flaschen moussierenden Burgunderweines zum Bleiben verführen lässt – „denn so unvernünftig die Welt auch geworden sein mag, bleibe ich doch besonnen genug, um mich zu erinnern, daß man in Dijon gut ißt.” (Zit. nach Victor Auburtin: Was ich in Frankreich erlebte und die Literarischen Korrespondenzen aus Paris 1911-1914. Werkausgabe, Bd. 3. Berlin: Verlag Das Arsenal, 1995, S. 369.)

Zwei Tage später sitzt der allzu optimistische Gourmet als politischer Häftling in Zelle 11 des Gefängnisses von Besançon, das er erst am 21. Januar 1915 wieder verlassen wird – aber nur, um für die kommenden zwei Jahre, sieben Monate und 18 Tage mit hunderten deutscher Leidensgefährten in einem Internierungslager auf Korsika „verwahrt” zu werden. Über die nutzlos verschwendeten Jahre seiner Gefangenschaft hat Auburtin in seinem bereits Anfang 1918 in Genf erschienenen Carnet d’un boche en France berichtet, das noch im gleichen Jahr in der deutschsprachigen Originalfassung unter dem Titel Was ich in Frankreich erlebte im Verlag Mosse in Berlin erschien und in der erwähnten Werkausgabe (S. 355-441) erfreulicherweise wieder – oder soll man schon sagen und warnen: „noch”? – greifbar ist.

Über die Traumwelt des Gefangenen schreibt der Traumtänzer Auburtin: „Ich bedenke die Träume, die man als Gefangener hat. Sie sind bedeutend und eindringlich und ganz anders als die Träume der Menschen in der Freiheit. Oft träume ich – und meine Mitgefangenen ebenso – von den toten Freunden und Verwandten, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe; sie erscheinen mir freundlich, sehen mich gütig an, und ich wohne mit ihnen in engen, traulich erhellten Zimmern. Seitdem mein Vater während meiner Gefangenschaft gestorben ist, träume ich stets von ihm, und sein besorgter Geist kommt zu mir durch die öde Sturmnacht des entlegenen Meeres. Neben diesen düsteren Totenträumen sind Phantasmen von leuchtender Helligkeit: weiße Pferde, sattellose, galoppieren marmorgepflasterte Straßen entlang; ein unermeßlich breiter Strom fließt spiegelnd; ich sitze im strahlend hellen Theater in der Tiefe einer Loge und sehe ein Gewühl wunderbarer Frauen, die schwere Perlenketten um die Schultern tragen.” (S. 444 f.)

Wenn das wache Leben zum öden Albtraum wird, treibt die Traumwelt umso farbigere Blüten.

[Titelbild: Ausschnitt aus Le rêve von Henri Rousseau, 1910.]


TV mortal

Monday, 29. December 2008

“A four-year-old girl died on Christmas Day following an accident at her home, it has been disclosed. It is understood she was injured when a television fell on her at home in Coedpoeth, Wrexham, on Christmas Eve. North Wales Police were called at 1820 GMT, but doctors at Liverpool’s Alder Hey Children’s Hospital were unable to save her and she died the next day. Police said the family of the little girl, whose name has not been released, were ‘distraught’. A spokeswoman for North Wales Police said: ‘[…] The family are understandably very distraught by this tragic accident and police are making a plea for the privacy of the family to be respected at this incredibly difficult time.’ She added that the North East Wales coroner’s office has taken over the investigation.” (BBC News online v. 28. Dezember 2008.)

In der Tat ein tragisches Missgeschick, dazu noch an Heiligabend! Um dies vorsorglich vorauszuschicken: Mein aufrichtiges Mitgefühl gilt den unglücklichen Eltern des kleinen Mädchens, die sich nun für den Rest ihres Lebens den Vorwurf machen müssen, dass sie für keinen sicheren Stand des schwergewichtigen Flimmerkastens gesorgt haben. Vermutlich war’s ein 37-Zoll-Gerät. Dabei hatten doch noch vor wenigen Wochen offizielle Stellen in Großbritannien vor Unfällen dieser Art gewarnt, nachdem der gerade mal ein Jahr alte Riyaz Ghaazi Mohamed im walisischen Swansea von einem 33 Kilo schweren Fernseher erschlagen worden war: “I would urge parents of young children to check the stability of furniture in their home, especially when heavy objects are placed on lightweight furniture, because this is a tragedy which could easily happen again.” So der ermittelnde Coroner Philip Rogers.

Gleich anschließend muss ich allerdings zu bedenken geben, dass selbst diese merkwürdige Duplizität zweier tragischer Todesfälle durch TV-Absturz in keinem Verhältnis zu dem Schaden steht, den abermillionen standsicher platzierte Fernsehgeräte in den Seelen von Kindern aller Altersstufen tagtäglich anrichten, ohne dass vor diesem Zerstörungswerk auf den Panorama-Seiten unserer Tageszeitungen jemals gewarnt würde.

Die permanente „Verkleisterung der Gehirne” (Oswald Wiener) vollzieht sich eben ganz unblutig, wenig spektakulär, aber ungleich wirkungsvoller und folgenreicher als der Schädelbasisbruch durch die mechanische Einwirkung einer umstürzenden Glotze.

Wenn zwei kleine Kinder von wacklig aufgestellten Fernsehgeräten erschlagen werden, dann weckt dies unser Mitleid. Wenn aber Millionen Kinder in aller Welt tagtäglich von dem Höllenbrodem aus tausend Kanälen „erschlagen” werden, dann nehmen wir dies als eine Selbstverständlichkeit klag- und mitleidslos hin.

Narratorium

Sunday, 28. December 2008

Ulrich Holbein (* 1953), der Eremit im Knüllgebirge, hat in den vergangenen zwanzig Jahren gut zwei Dutzend Bücher geschrieben, die allesamt auf ebenso eigenwillige wie eindringliche Weise Zeugnis von seiner exzentrischen Belesenheit ablegen. Nun hat er uns zu Weihnachten mit einem fast zwei Kilo wiegenden Personenlexikon besch(w)ert: Narratorium. Abenteurer · Blödelbarden · Clowns · Diven · Einsiedler · Fischprediger · Gottessöhne · Huren · Ikonen · Joker · Kratzbürsten · Lustmolche · Menschenfischer · Nobody · Oberbonzen · Psychonauten · Querulanten · Rattenfänger · Scharlatane · Theosophinnen · Urmütter · Verlierer · Wortführer · Yogis · Zuchthäusler. (Zürich: Ammann Verlag, 2008.)

Fast jedes dieser „255 Lebensbilder” folgt einem strengen lexikalischen Muster. Auf den Namen des Narren (z. B. Jiddu Krishnamurti) folgen: eine Aufzählung seiner Spezifikationen resp. Qualifikationen resp. Professionen (hier: „Quasimessias, Weisheitsdozent, Weltlehrer, Vortragsdenker, Seelenretter, Guruismuskritiker, Edelguru”), die Lebensdaten (in diesem Falle 1895-1986); eine sehr ausführliche und sehr subjektive Nacherzählung von allem, was im Lebenslauf, in den Taten und Lehren des Porträtierten vom Mittelmaß und gesunden Menschenverstand abweicht; Worte des jeweiligen Narren (hier beispielsweise: „Meiner Ansicht nach haben Glaubensinhalte, Religionen, Dogmen und Überzeugungen nichts mit Leben zu tun und somit auch nichts mit Wahrheit”); Worte des Narren über sich selbst („Ich bin wie die Blume, die ihren Duft der Morgenluft weiht”); und schließlich Worte anderer über ihn: „Die Unbeteiligten spotteten darüber, daß der neue Weltheiland in einem Hotel ersten Ranges wohne, moderne Anzüge trage und Tennis spiele.” Das soll ein Rudolf Olten 1932 gesagt haben, auf genauere Quellenangaben und Zitatnachweise verzichtet das bequemerweise (aus Sicht des Autors und seines Verlages), unbequemerweise (aus Sicht des Lesers) bei allem Fleiß reichlich hemdsärmelig daherkommende Nachschlagewerk leider ganz. So muss man dann schon zufällig wissen und kombinieren können, dass hier wohl Rudolf Olden (1885-1940) gemeint und das Zitat offenbar aus dessen Sammlung Propheten in deutscher Krise (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1932) entnommen ist.

Als ich vor ein paar Wochen auf diese Schwarte aufmerksam gemacht wurde, schwankte ich für kurze Zeit zwischen Hoffen und Bangen, ob sie mein gerade erst gestartetes Projekt „Eccentrics” durch zahlreiche Übereinstimmungen bestätigen oder ihm gar den Rang abgelaufen haben könnte. Mitnichten! Weder Siemsen noch Baggesen, weder der liquidierte Dodo noch der selbsttrepanierte Bart Huges, weder der Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, Oskar Panizza, Alexandre „Marius” Jacob oder Helmut Salzinger ganz zu schweigen, kommen bei Holbein vor. Einzig den „Auswanderer, Sonnenanbeter, Gemüseverneiner, Extrem-Vegetarier, Kokosnußprediger, Kokovorist, Welterlöser” August Engelhardt (S. 284 f.) haben wir bislang gemeinsam auf unserer Liste. (Zugegeben: Ich las diesen Artikel mit höchstem Vergnügen!)

Der Grund liegt auf der Hand. Ulrich Holbein erntet hauptsächlich die verzückten Gottgläubigen ab, während ich deren sehr spezielles Spinnertum, Godzillas abstruse Geisteskindschaften, keiner eingehenderen Betrachtung für würdig erachte. Irritiert hat mich allerdings, dass er auch Günther Anders (S. 38 ff.) in seinem chaotischen Heiligenlexikon kanonisiert. Aber da dort auch (S. 151 f.) ein mir bisher gänzlich unbekannter Dieter Bohlen auftaucht, schreibe ich diesen Ausreißer gnädig einer willkürlich waltenden Beliebigkeit zu.

Abschließend sei immerhin, als eine Art Versöhnungsangebot, noch angemerkt, dass das dicke Buch von Ulrich Holbein mit allerlei beeindruckenden Bildcollagen des Autors verziert ist, von denen mir die im Titelbild gezeigte, Theodor Lessing hinter Truthahn und Silbermops, besonders gut gefallen hat.

[Mit Dank an Bernd Berke für den Hinweis auf Holbeins Buch.]

Superkali… usw.

Saturday, 27. December 2008

Kann man ein Unsinnswort („Quirkel“) von einer Sprache in eine andere übersetzen? Man kann es immerhin versuchen. Das Quirkel „Supercalifragilisticexpialidocious” aus dem Musicalfilm Mary Poppins (1964), nach dem dreißig Jahre zuvor erschienenen, gleichnamigen Roman der Australierin P. L Travers (1899-1996), wurde in der deutschen Synchronisation zu dem nicht minder quirkeligen Wort „Superkalifragilistischexpialigetisch”.

Der englische Schlagersänger Chris Howland, der es hierzulande als „Mr. Pumpernickel” in den 1950er-Jahren zu beträchtlicher Popularität gebracht hatte, erfreute seine Fans im gleichen Jahr 1964 mit einer Single unter dem Titel Superkalifragilistisch Expiallegorisch, was bis heute unter den radebrechenden Nachplapperern dieses bandwurmlangen Zauberspruchs zu Verwirrung und heftigen Diskussionen führt. Wie heißt es denn nun richtig: „-getisch” oder „-gorisch”?

So marschierte Hugo Balls Karawane aus dem Jahr 1917 munter weiter – und der Dadaismus der Zürcher Avantgarde feierte in den gagaphonen Refrains biederster Singspiele ein wunderliches Comeback.

Je länger die Phantasiewörter, desto vielfältiger ihre Anagramme. So kann man aus dem Quirkel „Superkalifragilistischexpialigetisch” per Mausklick wunderbarerweise bequem 151.300 mehr oder weniger sinnvolle Sätze formen lassen, wie z. B. „Fix lag Pipi: Gitarre – Ausschliesslichkeit!”

Die grandiose Asketin Unica Zürn, die ihr großes Talent über solchen Buchstabenumstellungsspielen verschliss, wird schon gewusst haben, warum sie sich am 19. Oktober 1970, lange vor der Mechanisierung der anagrammatischen Poeterei, aus dem Fenster schmiss. Die damals wohl schon vorhersehbare Niederlage des charmant aus Menschengrips gefertigten Changierens der 26 Lettern, zwischen Sinn und Unsinn, angesichts der unmittelbar bevorstehenden, gnadenlos-unausweichlichen Perfektion der Computer, wollte sie sich wohl ersparen.

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Friday, 26. December 2008

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Einschwörer (I)

Thursday, 25. December 2008

In den Wochen vor dem Übergang zum Jahr 2009 grassiert in der Berichterstattung über die Statements von hochrangigen Politikern und Topleuten der Wirtschaft zur globalen Finanzkrise eine neue Redewendung, die aufhorchen lässt: Die Krisenmanager beschwören unseren Durchhaltewillen, appellieren an unsere Leidensfähigkeit, bereiten uns rhetorisch auf ein hartes Jahr vor; kurz: sie „schwören uns ein”. Und offenbar haben sich alle Kommentatoren dieses erpressten Treuegelübdes verschworen, gerade diese – wie ich zeigen werde – vollkommen unsinnige Phrase zu gebrauchen.

Den Anfang machte am 18. Dezember 2008 Volkswagen-Chef Martin Winterkorn, der seinen Konzern, will sagen: dessen Topmanagement, auf harte Zeiten für die Autobranche einschwor. Noch am selben Tag schwor dann die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ministerpräsidenten der Bundesländer auf das zweite Konjunkturpaket ein, um zwei Tage später dann gleich das ganze deutsche Volk auf ein schwieriges neues Jahr einzuschwören. Bereits zu Heiligabend wird die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Horst Köhler bekannt, der die Deutschen auf einen Kraftakt einschwört. Und selbst der designierte US-Präsident Barack Obama schwört zum Fest der Liebe seine Landsleute auf einen harten Kampf gegen die Wirtschaftskrise ein.

Leider bleibt bei dieser inflationären Einschwörerei völlig unklar, welchen Eid die Leidtragenden des vorhersehbaren Zusammenbruchs unseres Weltfinanzluftschlosses denn nun eigentlich leisten sollen. Etwa diesen? „Ich schwöre, dass ich mich nicht beschweren werde, wenn ich im kommenden Jahr 2009 meinen Arbeitsplatz verliere. Ich schwöre, dass ich Einbußen in meinem Lebensstandard klaglos hinnehme. Ich schwöre, dass ich die Schuld an diesem Desaster bei niemandem suchen werde, und am allerwenigsten bei den Spekulanten, den Börsenzockern, Konzernchefs und Bankern, denn diese armen Irren haben ja längst schon den Überblick verloren und können auch nichts dafür. Ich schwöre, dass ich mich angesichts dieser trüben Zukunftsaussichten bescheiden in mein kaltes Kämmerlein zurückziehen werde und dem Herrgott danke, dass ich überhaupt noch ein Kämmerlein habe. Ich schwöre, auch weiterhin keinen Anstoß daran zu nehmen, dass eine immer kleiner werdende Zahl von Supermilliardären ihren Reichtum auf Kosten des immer größer werdenden Rests der Menschheit schamlos weiter vermehrt. Ich schwöre, dass ich nicht aufmucke, wenn die entfesselte Raffgier dieser anscheinend unersättlichen Oligarchie ihre Allmacht mit Krediten und Zukunftshypotheken festigt, unter denen noch die Kindeskinder meiner Kindeskinder zu leiden haben werden.”

Als der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels [siehe Titelbild] am 18. Februar 1943, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad, das deutsche Volk, repräsentiert durch eine handverlesene Schar fanatisierter Parteigenossen, auf den weiter zu beschreitenden Weg in den Abgrund einschwor, stellte er immerhin noch eine Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?” Und aus dem Berliner Sportpalast scholl ihm ein begeistertes „Ja!” der verblendeten Meute entgegen.

Die leidenschaftslosen Einschwörer von heute stellen aber erst gar keine Fragen mehr, weil sie es offenbar nicht mehr nötig haben. Die normative Kraft des Faktischen macht ihnen ihr trauriges Geschäft sehr leicht. Wir Deutschen sind die Eingeschworenen von Mikronesien und müssen uns mit unserer Marginaliserung wohl oder übel abfinden. – Frohe Weihnachten!

[Fortsetzung hier.]

Heiliger Zylinder!

Wednesday, 24. December 2008

[Ohne Worte.]

Dingwelt (VII)

Tuesday, 23. December 2008

Seit frühester Kindheit litt ich unter zwei körperlichen Beeinträchtigungen: unter Migräneanfällen und deformierten Füßen. Ich war sozusagen von Kopf bis Fuß auf Leiden eingestellt. Seit meinem virilen Klimakterium haben sich die Kopfschmerzattacken verabschiedet, die Füße hingegen belästigen mich nach wie vor auf Schritt und Tritt. Weil die Orthopädie in den 1960er-Jahren gegen Hohlfüße kein anderes Mittel als das Messer des Chirurgen kannte, wurde ich im Essener Klinikum zwei wenig erfolgreichen Operationen unterzogen. Seither trage ich orthopädische Maßschuhe, in denen ich mich leidlich schmerzfrei durch die hart gepflasterte Stadtlandschaft meiner Heimat bewegen kann.

Am 20. Februar des nun zu Ende gehenden Jahres erkühnte ich mich, das Foto eines meiner nackten Füße als stummes Merkmal über einen Beitrag zu stellen, den ich damals noch im Kulturblog der WAZ-Mediengruppe, bei Westropolis, veröffentlichte. Shocking! Die empörten Kommentare zu diesem Tabubruch in einer geleckten und geschniegelten Öffentlichkeit, in der die traurige Wahrheit kranker Füße keine Chance hat gegen den falschen Schein adretter Hutmoden – diese Kommentare lassen noch heute mein Herz hüpfen und machen mich stolz, hier offenbar eine Grenze überschritten zu haben.

„Schuster, bleib bei deinen Leisten!” – Im Internet gibt es einen Streit darüber, ob es nun „deinen” oder „deinem” heißen muss. So kann nur fragen, wer nicht weiß, was ein Leisten eigentlich ist. Schusterleisten sind Formstücke aus Holz, Kunststoff oder Metall, die zum Bau eines Schuhpaars verwendet werden, mithin möglichst originalgetreue Nachbildungen der beiden Füße, für die und um die die zwei Schuhe gebaut werden sollen. Da aber gewöhnliche Menschen üblicherweise zwei Füße haben und somit zwei Schuhe benötigen, kann nur der Plural richtig sein. Ich habe meinem orthopädischen Schuhmacher seit nun mehr als fünfunddreißig Jahren die Treue gehalten, weil er „meine” Leisten, die Abbilder meiner verkrüppelten Füße, in seinem Leistenlager aufbewahrt.

Was es für einen Fußkranken wie mich jeweils bedeutet, aus den ausgelatschten Schuhen der vergangenen Jahre, links im Bild, in die neu gebauten zu wechseln, rechts im Bild – diesen überaus schmerzvollen Vorgang kann vermutlich nur ein Leidensgefährte nachvollziehen, so es denn einen solchen hier überhaupt gibt. Und was diese körperliche Beeinträchtigung im Laufe einer jugendlichen Biographie bedeutet, wenn man beim Hundertmeterlauf regelmäßig als Letzter auf der Strecke bleibt, das steht ohnehin in den Sternen. Aber ich will mich ja nicht beklagen.

Meine vermeintlichen Defizite sind schon immer meine tatsächlichen Vorzüge gewesen.

Walkability

Monday, 22. December 2008

Wohin die Autolosigkeit im Land der unbegrenzten Automobilität schlimmstenfalls bisher führen konnte, das hat uns wohl zuerst Günther Anders (1902-1992) in einer Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1941 nahezubringen versucht, die er in den ersten Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen aufnahm (München: C. H. Beck, 1956). Anders erzählt dort (S. 172 ff.), was ihm widerfuhr, als er weit außerhalb von Los Angeles einen Highway entlangwanderte und als verdächtiges Subjekt von einem motorisierten Cop gestoppt wurde. Dieser pflichtbewusste Polizist findet in seinem Weltbild nur zwei plausible Erklärungen für die befremdliche Tatsache, dass ein menschliches Wesen sich am Rande der Schnellstraße statt auf ihr und auf andere als die übliche Weise fortbewegt, nämlich vorsintflutlich per pedes. Entweder muss dieser „Sunnyboy”, wie der Polizist den Philosophen gönnerhaft nennt, sein Auto verkauft und noch kein neues erworben haben; oder das Auto dieses spät geborenen Peripatetikers muss sich in Reparatur befinden. Als Anders bekennt, er habe nie ein Auto besessen, fällt dem misstrauischen Gesetzeshüter die Kinnlade runter: „Sie haben nie?”

Gerade einmal 67 Jahre später haben wir nun den globalen Schlamassel namens „Finanzkrise” – und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die ewiggestrigen „Sunnyboys” sich zu Pionieren einer lange verschmähten Fortbewegungsart mausern werden. Zwar ist, verstehe es wer kann, das Benzin vorübergehend noch mal billig wie nie geworden, aber den Autobauern in Detroit, Stuttgart, Wolfsburg, Chūō (Tokio), Toyota und anderswo steht das Wasser bis zum Hals wie sonst nur noch den Banken.

Heute berichtet meine Tageszeitung, dass die Amerikaner neuerdings gern wieder zu Fuß gehen und sich aus den Suburbs zurück in die Zentren ihrer Städte sehnen. (Viola Schenz: Das Gute liegt so nah; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 297 v. 22. Dezember 2008, S. 9.) Dort kann man nachlesen, was man immer schon befürchtete: dass 41 Prozent aller Autofahrten in den USA unter zwei Meilen liegen und dass sich gerade einmal fünf bis zehn Prozent der amerikanischen Wohngebäude in einer städtischen Umgebung befinden, die sich „walkable” nennen kann: für ihre Bewohner in Nähe zu ihren Arbeitsplätzen, Einkaufszentren, Kulturstätten und Erholungsgebieten, die sie auf sicheren Verkehrswegen fußläufig erreichen können.

Der unvermeidlich bevorstehende Mangel, nicht die bessere Einsicht vor der Zeit, bringt schließlich den Fortschritt in Gang. So war es vermutlich schon immer. Es musste erst ganz schlimm mit uns kommen, damit es wieder besser werden konnte mit uns. Dabei war doch nur zu offenkundig, dass dieser Weg, so komfortabel er immer gewesen sein mochte, notwendig in eine Sackgasse münden musste. Oder?

Jetzt bleibt bloß noch zu hoffen, dass wir es nicht längst zu weit getrieben haben und der Autofriedhof des 20. Jahrhunderts uns im 21. nicht mit sich und unter sich begraben wird.

Der Tod!?

Sunday, 21. December 2008

Ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern gewesen, an jenen Augenblick, da mir, im Alter von vielleicht drei oder vier Jahren, plötzlich bewusst wurde, dass auch ich nicht ewig leben würde. Ich lag in meinem Bett im Kinderzimmer und konnte nicht einschlafen, weil mich dieser Gedanke völlig aus der Fassung brachte. Als mein Vater den Kopf zur Tür hereinsteckte, um mir eine gute Nacht zu wünschen, fragte ich ihn rundheraus, ob ich denn tatsächlich unbedingt irgendwann einmal sterben müsse. Gab es da wirklich keine Ausnahme? Der liebe Mann war offenbar erschrocken über diese direkte Frage seines kleinen Sohnes, gab sich aber redlich Mühe, mich in meiner tiefen Verstörung zu besänftigen, indem er mich mit dem Versprechen zu trösten suchte, dass es bis dahin ja noch eine sehr, sehr lange Zeit sei. Ich erinnere mich auch daran, dass dieser Trost mein Entsetzen nicht mildern konnte und ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von meinem Vater enttäuscht wurde, den ich doch bis dahin als einen allmächtigen Beschützer erlebt hatte, stark genug, alles Übel von mir fernzuhalten. An diesem Abend versagte er und ließ mich mit meiner Angst allein.

Das Trostpflästerchen, das mein Vater auf die Wunde geklebt hatte, die mir diese frühe Einsicht in meine Vergänglichkeit schlug, erwies sich als wenig beständig. Die Folge einer Fernsehserie von Prof. Heinz Haber in den 1960er-Jahren war dem Thema „Zeit” gewidmet. Dort lernte ich, dass für das subjektive Zeitempfinden des Menschen seine innere Uhr mit 18 Jahren bereits zur Hälfte abgelaufen ist, selbst wenn er ein gesegnetes Lebensalter von 80 Jahren erreicht.

Trost spendete mir später schon eher das bekannte Wort von Bazon Brock, in der Tradition des schwarzen Humors der Surrealisten: „Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen lässt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlass des Todes […] ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, lässt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen. […] Der Tod ist ein Skandal, eine viehische Schweinerei! […] Lasst euch nicht darauf ein, versteht: Der Tod [ist] ein ungeheuerlicher Skandal, gegen den ich protestiere.” (Bazon Brock / Karla Fohrbeck: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont Verlag, 1977, S. 796 f.)

Und dann gab es da noch die plausible Einsicht, schon bei den Vorsokratikern, dass ich mich doch wohl nicht um ein posthumes Nichtsein bekümmern muss, da mich mein pränatales Nichtsein ebensowenig je beunruhigt hat.

Schließlich und letzten Endes, als Fußnote zur Kopffrage, lauert der populäre Einwand, dass die Angst vorm Tod bei genauerer Betrachtung vielleicht bloß eine Angst vorm Sterben sein könnte: die Qualen des Übergangs, die doch angesichts der Ewigkeit eine gertenschlanke Nichtigkeit ausmachen. Immerhin ist das Thema Tod wohl wert, in den täglichen Notaten eines Sterblichen seinen vergänglichen Platz zu bestreiten.

Das Leben

Friday, 19. December 2008

„Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt verstreichen zu lassen.

Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er im Badeort, so beschloß er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könnte.

Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den langsamen Wein des Gottes Dionysos hastig hinuntergoß, dachte er, daß bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.

So hat er niemals etwas getan, sondern immer nur ein nächstes vorbereitet. Er war nie einer ganzen und gesunden Minute Herr, und das war gewiß ein merkwürdiger Mann, wie du, lieber Leser, nie einen gesehen hast.

Und als er auf dem Sterbebette lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei.”

[Ausnahmsweise in hektischen Zeiten mal „nur” ein Zitat. Das Feuilleton Das Leben von Victor Auburtin (1870-1928) erschien 1911 in der Sammlung Die Onyxschale im Verlag von Albert Langen in München. – In neuerer Zeit hat sich der Berliner Verleger Peter Moses-Krause um die Wiederentdeckung dieses vergessenen Meisters der Kleinen Form verdient gemacht. In seinem Verlag Das Arsenal erscheint seit 1994 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe Auburtins, mustergültig ediert und in herzerfrischend schöner Ausstattung. Deren zweitem Band, Die Onyxschale und Die goldene Kette sowie andere Kleine Prosa aus dem Simplicissimus bis 1911, entnehme ich (von Seite 149) frecherweise diesen wundersamen Text und auch das Titelbild, in der Hoffnung, den einen oder anderen kennerischen Leser so auf ein verkanntes Genie der Kurzprosa aufmerksam machen zu können.]

High & Down

Friday, 19. December 2008

Mein Rechner hat vor ein paar Tagen Psilocybin eingeworfen und ist seither völlig von der Rolle.

Ich selbst bin infolgedessen, obwohl absolut nüchtern, ebenfalls neben der Spur. Wenn durch das Versagen eines solchen unentbehrlich gewordenen Arbeitsmittels die tägliche Routine außer Tritt gerät, dann spürt man schmerzhaft, wie abhängig man von dieser komplizierten und hochsensiblen Technik geworden ist.

Hinzu kommt die Panik, dass totaler Datenverlust dräuen könnte. Gerade noch rechtzeitig habe ich alle wichtigen Dateien auf meiner externen Festplatte sichern können. Aber auch die Perspektive, den Rechner komplett neu „aufsetzen” zu müssen, ist wenig angenehm – dazu noch vor den Weihnachtstagen, an denen meine Helfer sicher andere Pläne für ihre Freizeitgestaltung haben.

Diese kurze Schadensmeldung kommt mit einem Tag Verspätung, denn gestern ließ sich der berauschte Rechner überhaupt nicht mehr hochfahren. Dank der Intervention meines jüngsten Sohnes, der einen kleinen Trick erfolgreich zur Anwendung brachte, kann ich jetzt immerhin das Versäumte noch im vertretbaren Zeitrahmen nachholen. Schließlich habe ich im Impressum versprochen: „Täglich erscheint ein Beitrag mit jeweils fünf Absätzen, in seltenen Fällen erfolgt die Publikation eines Beitrags mit einem Tag Verzögerung.” Bislang konnte ich zu meinem Wort stehen. Dass nun eine Sendepause von zwei oder mehr Tagen drohte, hat mich an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Nachdem nun immerhin eine provisorische Überbrückung das Schlimmste verhindert hat, kann ich dennoch der Frage nicht ausweichen: Was mache ich hier eigentlich? Vielleicht sollte ich doch besser zu Papier und Bleistift zurückkehren.

Wilhelms Brief

Wednesday, 17. December 2008

Meine Urgroßmutter Anna Maria Heßling, geb. Kappen (* 16. November 1858 in Niederzissen / Kreis Ahrweiler) soll dem Vernehmen nach eine sehr strenge Frau gewesen sein. Mit meinem Großvater, dem Dentisten Johannes Heinrich Heßling (* 23. März 1894 in Essen), einem ihrer sechs Kinder, zerstritt sie sich heillos. Ihr Sohn Wilhelm galt als verschollen, nachdem er in jungen Jahren bei Nacht und Nebel das elterliche Haus im Streit verlassen hatte und nie mehr gesehen ward. Aus dem Nachlass meiner Großmutter väterlicherseits ist Wilhelms Abschiedsbrief [siehe Titelbild] auf mich gekommen. Wilhelm schreibt:

„Ich muß Euch nur mitteilen dass ich | mich in Emmerich in den Rhein | gestürzt habe; den[n] ich war es | endlich müde[,] so braucht Ihr nicht | mehr für mich zu sorgen. | Mit den paar Zeilen Ende ich. | So lebt den[n] wohl auch[,] Wilhelm [?]. || Freut Euch des Lebens. | Grüße an Alle! | Wilhelm. || † + †. || Ärgert Euch nicht um meinet|wegen. Denn jetzt braucht Ihr mich | keinen Anzug zu kaufen. | Grüßt mich Auch Emma Sauer | denn die trägt die Schuld.”

Bilde ich’s mir nur ein, oder hat mir meine Großmutter Katharina Heßling, geb. Kamps (* 9. Juni 1895 in Essen) tatsächlich zu diesem Brief die Geschichte erzählt, dass ihr verschollener Schwager sich beim nächtlichen Einstieg ins Zimmer seiner Geliebten Emma die nagelneue Hose zerrissen und deshalb einen verhängnisvollen Familienstreit vom Zaun gebrochen habe?

Ganz sicher bin ich mir aber, dass die Pessimisten der Familie befürchteten, Wilhelm könnte eins der Opfer des Massenmörders Fritz Haarmann geworden sein, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover sein Unwesen trieb.

Die Optimisten hingegen waren sich sicher, dass Wilhelm sich weder im Rhein ertränkt habe noch Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, sondern stattdessen nach Amerika ausgewandert sei, wo er es gewiss vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht haben müsste. Doch auf den unverhofften Geldsegen von Seiten meines verschollenen Großonkels warte ich leider noch immer vergeblich.

Kappores!

Tuesday, 16. December 2008

Gläserne Glotzer?

Monday, 15. December 2008

Wenn ich die Leute frage, wie sie’s so mit dem Fernsehen halten, dann bekomme ich regelmäßig Antworten wie diese: „Ach, ich stelle die Kiste immer seltener an. Das Programm hat ja in letzter Zeit auch sehr nachgelassen. Und die viele Werbung! Die Tagesschau, das schon. Man muss ja schließlich auf dem Laufenden bleiben. Und den Tatort am Sonntag im Ersten, den lasse ich mir selten entgehen. Hin und wieder mal ein schöner alter Hollywood-Film. Aber sonst? – Na ja, manchmal bin ich nach dem Stress im Büro so geschafft, dann lasse ich mich einfach berieseln und zappe von Sender zu Sender. Muss auch mal sein. Aber im Urlaub, da kann ich problemlos drei Wochen ganz auf die Glotze verzichten.”

Offenbar kenne ich nur Leute, deren Konsumverhalten ausgesprochen untypisch für den Durchschnitt der Bevölkerung ist, denn die regelmäßig von Demoskopen ermittelten Zahlen zum Fernsehverhalten der Deutschen zeichnen ein anderes Bild: „Die durchschnittliche Fernsehdauer der Personen ab 14 Jahren ist im Zeitraum von 1988 bis 2002 um eine Stunde gestiegen. So lag sie 1988 noch bei 2,5 Stunden, bis 2002 stieg der tägliche Fernsehkonsum kontinuierlich auf durchschnittlich 3,5 Stunden. […] Ein Drittel der Fernsehzuschauer gehört mit einer durchschnittlichen täglichen Fernsehdauer von 6,5 Stunden zu der Gruppe der Vielseher, die hauptsächlich aus Personen über 50 besteht.” (Informationsdienst Wissenschaft; zit. nach www.uniprotokolle.de v. 21. November 2005.)

Die Umfrageergebnisse legen auch nahe, dass es ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle bei der täglichen Fernsehnutzungsdauer gibt. Je größer der Wohlstand und die Bildung der Menschen ist, desto weniger Zeit verbringen sie vor ihrem Apparat. „In Sachsen-Anhalt, wo die Arbeitslosenquote 2004 im Schnitt bei 20,3 Prozent lag, saßen die Bürger […] 275 Minuten lang vor flimmernden Bildschirmen. 275 Minuten – das bedeutet 1673 Stunden im Jahr oder 70 Tage oder rund 2,3 Monate Fernsehen nonstop.” (Melanie Mühl: Siebzig Tage im Jahr vor dem Schirm; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 16 v. 20. Januar 2005, S. 38.)

Und die willfährigsten Opfer dieser Zeitvernichtungsmaschine sind neben den Arbeitslosen und Alten die Kinder: In Deutschland sitzen um 22:00 Uhr noch 800.000 Kinder im Vorschulalter vor dem Fernseher, um 23:00 Uhr sind es noch immer 200.000. (Vgl. Christian Thiel: Fernsehkonsum bestimmt den späteren Bildungsgrad; in: Die Welt v. 3. November 2005; zit. nach www.geburtskanal.de.) Was will man auch anderes erwarten, wenn selbst die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt, Kinder von 0 bis 2 Jahren täglich 20 Minuten vor den Fernseher zu setzen – oder wohl richtiger: bäuchlings davorzulegen.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht, und die ist brandaktuell. Dank dem seit Jahren zunehmenden Internetkonsum „sinkt nach Jahren des Anstiegs erstmals die Zeit, die vor dem Fernseher verbracht wird. Schalteten die Deutschen im Jahr 2006 ihre TV-Geräte jeden Tag für durchschnittlich 212 Minuten an, waren es 2007 nur noch 208 Minuten.” (Presseinformation des Bundesverbandes Informationswirtschaft Telekommunikation und neue Medien v. 12. Oktober 2008.) Die Frage bleibt allerdings, was meine Landsleute mit den so gewonnenen vier Minuten anfangen. Meine Vermutung: Rechner runterfahren, Fernseher einschalten!

Die Lüneburg-Variante

Sunday, 14. December 2008

Den entscheidenden Hinweis auf diesen Schach-Roman erhielt ich auf denkwürdige Weise. Ich kam unter Umständen, die hier nichts zur Sache tun, mit einem mir völlig fremden Berufs-Schachspieler ins Gespräch, der seine Jugend in der DDR verbracht hatte. Er vertrat die interessante Auffassung, die Überlegenheit der Schachspieler aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks rühre daher, dass dieser Denksport dort lange Zeit eines der wenigen politisch unverdächtigen Betätigungsfelder für einen freiheitsdurstigen Geist gewesen sei. In dem Roman des Italieners Paolo Maurensig (* 1943) geht es um genau dieses Thema: das Schachspiel als Freiraum des Denkens in ideologisch verkrusteten Zwangssystemen – und zugleich als Modellfall für den erbarmungslosen Kampf ums Überleben.

Die beiden Antagonisten: Dieter Fritsch, ein ehemaliger SS-Mann und Aufseher im Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide, der nach dem Krieg seiner Bestrafung entging und danach als Unternehmer zu Reichtum und Ansehen gelangte; und der jüdische KZ-Häftling Tabori, der dem Tod im Lager nur mit knapper Not entging. Was diese beiden extrem gegensätzlichen Menschen eint, ist ihre obsessive Liebe zum Schachspiel. Um seinen früheren Foltermeister Fritsch vierzig Jahre nach den infernalischen Ereignissen in Bergen-Belsen seiner gerechten Strafe zuzuführen, bildet Tabori einen begabten Schüler, Hans Mayer, auf den 64 Feldern zum Werkzeug seines Racheplans aus.

Dieses Motiv erinnert auf den ersten Blick vielleicht etwas zu aufdringlich an Stefan Zweigs berühmte Schachnovelle (1942), seine Ausführung auf den zweiten Blick, und mit größerer Berechtigung, an Dürrenmatts Kurzroman Der Verdacht (1951), in dem es freilich nicht ums Schachspiel geht. Dass einige Großmeister des königlichen Spiels, wie Savielly Tartakower und Efim Bogoljubow, in den 1920er-Jahren als Gäste in Taboris Münchener Elternhaus verkehrten und im Roman treffend charakterisiert werden, wird die schachkundigen Leser freuen – und mich persönlich hat das Porträt entzückt, das Maurensig von meinem Lieblingsspieler Akiba Rubinstein zeichnet. Dennoch taugen diese womöglich gut recherchierten Details nicht zur ästhetischen Beurteilung eines solchen Romans.

Was das angeht, muss ich – der Wahrheit die Ehre zu geben – diese Lüneburg-Variante bedauerlicherweise mit einem Doppelschach und anschließendem Damenverlust beantworten. Es hapert dem Roman zugleich an emotionaler Einfühlung in seine Protagonisten und an Glaubwürdigkeit, was den ganz äußerlichen Verlauf des Geschehens angeht. Und dass diese Variante so ganz ohne Damen auskommt, die bekanntlich stärksten Figuren auf dem Brett, macht sie für mich endgültig zu einem eher ephemeren Werk der neueren Romanliteratur mit diesem Sujet.

Einen starken Satz habe ich mir dennoch angestrichen: „Denn auch jenseits dieser Zäune würden wir immer noch in ihrer Gewalt bleiben, und selbst angenommen, wir wären über diese Grenzen gekommen und noch einmal tausend Jahre am Leben geblieben, niemand, weder wir noch unsere Henker, würde sich aus dieser Niedrigkeit, in die das Menschengeschlecht gestürzt war, je wieder erheben können.” (Paolo Maurensig: Die Lüneburg-Variante. A. d. Ital. v. Irmela Arnsperger. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1994, S. 176.)

Vier Frühwerke

Saturday, 13. December 2008

Buchstaben lernte ich lange vor Beginn der Schulzeit kennen, lesen und schreiben. Mein Vater hatte mir eine Tabelle gemalt, in der das Abece durch kleine Piktogramme erklärt war: ein Apfel für das A, eine Banane für das B, eine Citrone für das C usw. Als ich fünf Jahre alt war, überraschte uns ein Herr Kroll aus dem Parterre des Hauses, in dem wir damals wohnten, mit einem großzügigen Geschenk: einer Schreibmaschine, die in seiner Firma ausrangiert worden war. Ich lernte, wie man ein Blatt einspannt, und begriff bald die Funktion der Hochstelltaste. Im Jahr 1961 schrieb ich diese vier Texte humoristischer Kurzprosa. Wann immer ich sie wieder lese, schwanke ich zwischen Bewunderung und blankem Entsetzen. Was muss ich damals schon für ein Enfant terrible gewesen sein!

[1] Im Uhrlaub – Im Urlaub ist es sehr schön. Man kann schwimen. Man kann sich erholen. Man kann Braun werden. Ja Uhrlaub ist ein fergnügen, oder? Für manche nicht! Zumbeischpiel, für die die drei oder vier Kinder haben. Die Frauen, Morgens erger, Vormitags erger, Mitags erger, nachmittags erger, abents erger. Nachts erholung. Die Mäner, morgens bedinung, bis Abents bedinung,

[2] Im Wintersport – Man setzt sich auf eine Bank. Man ziet sich Schier an, und kracks, Die Sier brechen durch. Man hat einen schnupfen. man get in eine wirtschaft. Man bestelt sich ein bir, und noch eins und noch eins Und man ist besübelt. Man get nach hause. man wiert ausgeschimft.

[3] Ein neues Auto – Man will in die Stadt. Man muss 2dm Karne bezalen. Darum willman sich ein Auto kaufen. Man geht ins Autogescheft. Man Kauft sich kurtzerhand einen Aston Martin DB 5. Macht damit eine reise nach Juguslawien. Gleich nach 30 km färt man in einen strasengraben Herein. Und benzi Gelt, gleich 50-80dm Monat. Dan eine Reife[n]panne. Dreisich bis firzich dm schaden. Man ferkaut den Wagen für 20 dm an den schrotthäntlerund kauft sich dafür einenstapel karnes.

[4] Ein neuer Beruf – Man kündigt seinen Ärtztlichen Beruf weil man den Beruf Strasenfeger Sönerund ferkauft seine praksis an einen Strasenfeger und kigt dafür einen Handfeger und eine Drekschüppe. Dan geht man zum ersten male strasen fegen. Man nimt den besen. Fergist jedoch die Drekschüppe. Unterdesen komen immer neue menschen. Sie werfen auch gehorsam immer neue Bananenschalen Fort. So hatt der mister strasenfeger immer fil zutun. Nuntauscht er sich die

Zahlen

Friday, 12. December 2008

48 Zeichentasten hat meine Tastatur. Davon entfallen 29 auf die 26 Buchstaben des Alphabets und die drei Umlaute in Klein- und Großschreibung. Drei Tasten sind Interpunktionszeichen vorbehalten. Die verbleibenden 16 Tasten, genau ein Drittel, sind mit Zahl- und sonstigen Zeichen belegt: für die Ziffern von 0 bis 9, für acht weitere Satzzeichen, häufig benötigte Sonderzeichen wie §, %, & oder # und das Eszett, meinen Lieblingsbuchstaben. – Auch die Evolution der Tastaturbelegung seit Erfindung der Skrivekugle lässt Rückschlüsse auf den Bewusstseinswandel in den seither vergangenen 143 Jahren zu. Meine erste mechanische Schreibmaschine hatte noch das Zeichen für die englische Währungseinheit Pfund im Angebot; heute muss ich mir das ₤ umständlich aus dem Sonderzeichen-Vorrat heraussuchen, während der $ nach wie vor auf der Tastatur präsent ist und dort längst auch der € seinen festen Platz neben dem E gefunden hat. Die zackigen SS-Runen hingegen, die auf den Tastaturen der Fabrikate reichsdeutscher Schreibmaschinen-Hersteller – wie Adler, Olympia oder Triumph – zwischen 1933 und 1945 obligatorisch waren, sind heute selbst in den entlegensten Zeichensätzen nicht mehr aufzufinden. Hin und wieder, wenngleich nicht eben häufig, zeigt der Fortschritt doch auch einmal ein freundliches Gesicht, und sei’s durch eine „Leerstelle”.

Ich bin ein ausgesprochener Buchstaben- und alles andere als ein Zahlenmensch. Das würde ein Sherlock Holmes unserer Tage mit seinem wachen Blick und seiner Kombinationsgabe vermutlich schon von meiner Computer-Tastatur ablesen können, sind dort doch die Ziffern-Tasten die schmutzigsten, weil der Staub auf ihnen ausreichend Gelegenheit findet, sich dauerhaft niederzulassen und festzusetzen. Schon zu Schulzeiten sprach mich Deutsch mehr an als Mathe – mit einer Ausnahme: Den Geometrie-Unterricht habe ich geliebt und war dort vorübergehend sogar Klassenbester. Aber sobald es darum ging, die euklidischen Dreiecksbeweise – nur mit Zirkel und Lineal! – in trigonometrische Zahlenverhältnisse umzusetzen und Kosinus und Tangens auf den Plan traten, war ich abgemeldet. Und dass ich es in meinem späteren Lehrberuf als Buchhändler überhaupt so weit gebracht habe, erscheint mir im Rückblick noch immer als ein kleines Wunder, da ich doch den rechnerischen Fächern wie Buchhaltung, Kalkulation oder Betriebswirtschaft so gar nichts abgewinnen konnte. Deshalb verbindet mich mit der Welt der Zahlen seit jeher eine innige Hassliebe. Aber auch solche „gemischten Gefühle” entwickeln ja oftmals staunenswerte Produktivkräfte, weshalb mich das hier vorgestellte Lexikon der Zahlen noch immer gelegentlich in seinen Bann zieht.

Die Zahlen also, von 0 bis 3↑↑3 usw. usw. Dies ist ein Nachschlagewerk der besonderen Art, schon allein durch die Anordnung seiner Artikel, die nicht, wie bei Wörterbüchern üblich, alphabetisch von A bis Z erfolgt, sondern numerisch aufsteigend. Was David Wells darin aus Hunderten von Büchern und Zeitschriften über ihre merkwürdigen und interessanten Eigenschaften zusammengetragen hat, kann selbst einen arithmetisch Minderbemittelten wie mich stets aufs Neue in Verzückung versetzen. Ob es sich nun um natürliche, ganze, irrationale, imaginäre oder hyperreelle Zahlen handelt – immer wieder stellt sich die spannende Frage, welche geheimen Gesetzmäßigkeiten diesem abstrakten Ordnungssystem zugrunde liegen. Und immer wieder bin ich erstaunt, auf wie viele Fragen der menschliche Geist bis heute noch keine Antwort gefunden hat und vielleicht (z. B. in Fragen der Primzahlenverteilung) niemals finden wird. Dies mag zu einem Teil daran liegen, dass uns der metaphysische Begriff der Unendlichkeit auf diesem Feld in so konkreter und streng logischer Gestalt begegnet, ohne uns auf diesem Wege seinem Verständnis wirklich näher zu bringen. Mir als ungeübtem Laien auf allen Gebieten der höheren Mathematik ist jedenfalls der Ausspruch des Mathematikers Leopold Kronecker (1823-91) sehr sympathisch, der bei einem Vortrag 1886 in Berlin gesagt hat: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.”

Wann immer ich dieses Buch aufschlage, entdecke ich in den unermesslichen Tiefen des Zahlen-Ozeans neue Wunder, die sich oft genug in ganz unscheinbare Sätze kleiden. So lese ich im Artikel unter 0,5 bzw. ½: „Es gibt zwölf Möglichkeiten, mit allen Zahlen zwischen 1 und 9 einen Bruch zu bilden, dessen Wert gerade gleich ½ ist.” (David Wells: Das Lexikon der Zahlen. A. d. Engl. v. Klaus Völkert. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, S. 25.) Warum aber, in drei Teufels Namen, sind es genau zwölf? „So ist es eben”, erwidert der gewöhnliche Faktenhuber, der keinen Blick hat für die Abgründe, die sich unter der Oberfläche des Selbstverständlichen, Allzuselbstverständlichen allenthalben auftun für jeden, der das naive Fragen des Kindes noch nicht ganz verlernt hat.

Auch Faktenhuber mögen an diesem Zahlen-Verzeichnis durchaus Gefallen finden. Sein eigentlicher Zauber jedoch erschließt sich vermutlich nur Menschen wie mir, die immer noch die Neunerreihe im kleinen Einmaleins durchbuchstabieren müssen, bis sie auf das Ergebnis 72 kommen. (72 ist übrigens die kleinste Zahl, deren fünfte Potenz sich als Summe von fünf fünften Potenzen schreiben lässt.)

Voynich

Thursday, 11. December 2008

Kennedy und Churchill haben gemeinsam ein Buch darüber geschrieben; ein Dutzend ehrgeiziger Kryptoanalytiker ist in den vergangenen hundert Jahren an dem Versuch gescheitert, es zu entschlüsseln; seine Provenienz ist nur lückenhaft rekonstruierbar; und bis heute streiten sich die Gelehrten, ob es sich um das Werk eines Wahnsinnigen, eines Fälschers oder eines genialen Geistes handelt – das Voynich-Manuskript, eines der rätselhaftesten Schriftstücke der Literaturgeschichte, das heute unter der Katalognummer MS 408 in der „Beinecke Rare Book and Manuscript Library” der Yale University in New Haven (CT) aufbewahrt wird.

Als der Londoner Antiquar Wilfrid Michael Voynich (1865-1930) dieses äußerlich unscheinbare Buch 1912 in einer Sammlung kostbar illuminierter Handschriften in der Villa Mondragone bei Rom entdeckte, hatte er nach eigenem Bekenntnis spontan den Eindruck, auf etwas ganz Außergewöhnliches gestoßen zu sein: „Es war ein so hässliches Entlein, verglichen mit den anderen, mit Gold und Farben reich verzierten Manuskripten, dass meine Neugier sogleich erregt war.” (A Preliminary Sketch of the History of the Roger Bacon Cipher Manuscript; in: Transactions of the College of Physicians of Philadelphia. Serie 3. Baltimore 43.1916, S. 415; dt. Übers. nach Wikipedia.)

Das in Pergament eingebundene Werk trägt weder einen Titel noch einen Autorenvermerk. Auf über hundert Seiten sind kolorierte Federzeichnungen von Pflanzen, Tieren, Menschen und astronomischen Konstellationen zu sehen, kommentiert in einer völlig unbekannten und bis heute nicht entzifferten, nirgends sonst woher vertrauten Schrift [siehe Titelbild].

Selbst die Entstehungszeit des Manuskripts ist nach wie vor umstritten. Während ein Expertenteam das Konvolut jüngst aufgrund von Material und Schreibstil auf etwa 1500 n. Chr. datierte, trauen andere Forscher dem namengebenden „Entdecker” Voynich zu, das nur vorgeblich uralte Dokument höchstpersönlich gefälscht zu haben. Unwillkürlich musste ich bei solchen weitgespannten Spekulationen an Arno Schmidts Radio-Essay über Das Buch Mormon (1961) denken.

Spätestens seit der lange unmöglich scheinenden – und schließlich doch dem Franzosen Jean-François Champollion (1790-1828) dank dem „Stein von Rosetta” 1822 geglückten – Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen üben unverständliche Schriftzeichen eine magische Wirkung auf uns aus. Je länger die geheimnisvollen Symbole unserer forschenden Neugier widerstehen, desto mehr ziehen sie uns in ihren Bann. – Leider ist das umfassendste Buch zum Voynich-Manuskript in deutscher Sprache zurzeit weder regulär noch antiquarisch lieferbar. (Gerry Kennedy und Rob Churchill: Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Berlin: Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 2005.)

Weltenesche

Wednesday, 10. December 2008

Ich bin geboren und lebe an einem Ort, der seinen Namen von der Esche (Fraxinus) herleitet. Auf dem langen Weg von Astnithi über Astnide, Astnidum, Astanidum, Asbidi, Asnid, Assinde, Asnida, Assindia, Essendia, Esnede, Essende und Essend entstand im Verlaufe von 1150 Jahren der heutige Stadtname: Essen.

Der Zufall will es, dass hinter dem Haus, in dem ich seit vier Jahren wohne, zwischen anderen Bäumen auch eine Esche wächst [siehe Titelbild]. Von meinem Arbeitsplatz aus, an dem ich dies schreibe, sehe ich sie täglich. Die Beobachtung der langsamen Veränderungen ihres Erscheinungsbildes im Wechsel der Jahreszeiten hat eine beruhigende Wirkung auf mich.

Zweimal im Jahr beschleunigen sich diese Veränderungen: im späten Frühjahr, wenn sie als letzte unter ihren Nachbarn ihr Laub austreibt; und im Herbst, wenn der Blattfall einsetzt. Extreme Wetterverhältnisse wie der Orkan Kyrill, der am 18. und 19. Januar vorigen Jahres in Mitteleuropa große Verwüstungen anrichtete, hat auch „meiner” Esche arg zugesetzt und einige kräftige Äste abgebrochen, deren Stümpfe noch heute an dieses Ereignis erinnern.

Dass der Baum Yggdrasil der nordischen Mythologie, der in seiner Riesenhaftigkeit das gesamte Weltgebäude darstellen soll, ebenfalls eine Esche war, könnte meiner nüchternen Kontemplation bei Betrachtung dieses Baumes noch ein spirituelles Element hinzufügen, wenn ich für dergleichen aufgeschlossen wäre. Immerhin berührt mich aber die symbolische Dreigliederung der Weltenesche, deren Baumkrone, Stamm und Wurzeln Himmel, Erde und Unterwelt darstellen.

Regelmäßig fotografiere ich die Esche hinterm Haus, immer vom gleichen Standort aus. Wenn ich die vielen hundert Fotos per Mausklick über meinen Monitor rauschen lasse, dann ergibt sich daraus eine Art Film, der den Lebenswandel des Baums im Zeitraffer erfahrbar macht. Ein Stummfilm übrigens, was dem Baum gerecht wird, denn die Geräusche, die von ihm ausgehen, das Rauschen der Blätter und das Knarzen der Äste, sind ja nicht eigentlich seine, sondern die des Windes, der sie hervorruft; und zumal der Baum sie selbst ja nicht hören kann.

[This posting is dedicated to Stan Brakhage (1933-2003), ingenious master of independence film.]

Whoa, whoa!

Tuesday, 09. December 2008

Aus dem Weißen Rauschen, mit dem die Massenmedien uns Tag für Tag taub machen für die wirklich wichtigen Nachrichten, habe ich auf weitläufigen Umwegen eine schwache Andeutung auf das herausgefiltert, was uns binnen Kurzem bevorstehen könnte. Als sich Mitte Oktober abzuzeichnen begann, dass sich der demokratische US-Präsidentschaftsbewerber Barack Obama gegen seinen Widersacher John McCain bei der Wahl am 4. November durchsetzen würde, hielt sein designierter Vize Joe Biden – im Schatten der spektakulären Blamagen seines republikanischen Pendants Sarah Palin – vor einem exklusiven Kreis renommierter Zuhörer in Seattle anlässlich einer Spenden-Gala eine aufschlussreiche Rede. Biden, dessen bekanntermaßen „loses Mundwerk” ihn schon früher gelegentlich in arge Bedrängnis gebracht hatte, erkannte auch an jenem 19. Oktober zu spät, dass die Intimität dieser Veranstaltung durch die Anwesenheit einiger Pressevertreter in dem kleinen Versammlungsraum verletzt wurde: “I probably shouldn’t have said all this because it dawned on me that the press is here.”

Tags drauf konnte man bei ABC News den Bericht von Matthew Jaffe über Bidens prophetische Brandrede nachlesen, gespickt mit Originalzitaten: „Merken Sie sich meine Worte. In nicht einmal sechs Monaten wird die Welt Barack Obama auf eine harte Probe stellen, genauso wie damals John Kennedy. […] Seien Sie auf der Hut, wir werden eine internationale Krise erleben, eine künstlich geschaffene Krise, in der getestet wird, was in diesem Kerl steckt. Ich kann Ihnen mindestens vier oder fünf Szenarios nennen, wo diese Krise ihren Anfang nehmen könnte. […] Gürtet Eure Lenden! Wir werden mit Eurer Hilfe gewinnen, so Gott will, wir werden gewinnen – aber es wird nicht leicht. Dieser Präsident, der nächste Präsident, wird vor der wichtigsten Aufgabe stehen. Mann, das ist wie das Ausmisten des Augiasstalls. Dies ist mehr als nur, dies ist mehr als – denken Sie darüber nach, wirklich, denken Sie darüber nach – dies ist mehr als nur eine Finanzkrise, es geht um mehr als nur um Märkte. Es ist ein systemisches Problem, das wir hier mit unserer Wirtschaft haben. […] Aber dieser Kerl [Obama] hat’s in sich. Doch er wird Ihre Hilfe brauchen. Denn ich verspreche Ihnen, Sie alle werden in einem Jahr dasitzen und sich fragen: ,O Gott, warum steht die Regierung in den Umfragen so weit unten? Warum steht sie so schlecht da? Warum ist das alles so schwer?‘ Wir werden in den ersten zwei Jahren einige unglaublich harte Entscheidungen fällen müssen. Also bitte ich Sie schon jetzt – ich bitte sie schon jetzt: Halten Sie zu uns! Vergessen Sie nicht, dass Sie jetzt an uns geglaubt haben, denn Sie werden uns stärken müssen. Viele von Ihnen werden dann nämlich eher geneigt sein zu sagen: ,Hey Mann, halt mal die Luft an, hey, hey, also diese Entscheidung – ich weiß nicht.‘ [Im Original: ‘Whoa, wait a minute, yo, whoa, whoa, I don’t know about that decision.’] Denn wenn Sie denken, die Entscheidungen seien fundiert, wenn sie gefällt werden – und davon gehe ich aus, dass Sie so denken, wenn diese Entscheidungen getroffen werden -, dann sind sie wahrscheinlich nicht so populär, wie sie vernünftig sind. Denn wenn sie populär sind, dann sind sie wahrscheinlich nicht vernünftig.” [Kursivsetzungen von mir.]

Wie „damals John F. Kennedy”? Wer dächte da nicht an die Kuba-Krise von 1962, als die Welt 13 Tage lang am Rande des atomaren Overkills schwebte und um ein Haar noch einmal davongekommen ist? Und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Hans Rühle in einem Essay in der Welt spekuliert, mit diesen orakelnden Worten des Senators von Delaware könne eigentlich nur ein militärisches Eingreifen gegen die schon sehr weit gediehenen Vorbereitungen des Iran gemeint sein, als zweiter islamischer Staat (nach Pakistan) in die Liga der Atommächte vorzustoßen. Wie weit der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, als Satrap des Mullah-Regimes unter Seyyed Ali Chamenei, bereits gelangt ist, trotz der hilflosen Bemühungen der IAEA unter Mohammed el-Baradei, das kann man in Rühles glaubwürdigem Essay nachlesen. Insofern ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die schlimmsten Prophezeiungen des endzeitlichen Philosophen Günther Anders Wirklichkeit werden.

Ende September fand in Irans Hauptstadt Teheran zur Erinnerung an den Krieg gegen den benachbarten Irak (1980 bis 1988) eine Militärparade statt, bei der eine Shihab-3-Rakete mit dem Schlachtruf bemalt war: “Israel must be wiped off the map.” Whoa, whoa! Auf solch große Sprüche folgen nach aller historischen Erfahrung schreckliche Taten. Beim Lesen von Bidens Rede musste ich unwillkürlich an die bekannten Churchill-Worte in seiner ebenso knappen wie prägnanten „Blood, toil, tears and sweat”-Ansprache aus dem Kriegsjahr 1940 denken – in deren Folge ein zivilisiertes, aber ideologisch verblendetes Land, mein Vaterland, durch die „fliegenden Festungen” von „Bomber” Arthur Harris in Schutt und Asche gelegt wurde.

Der Stall des Augias wird also demnächst, spätestens in einem halben Jahr, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften modernster Waffentechnik ausgefegt? Dann können wir nur noch hoffen, dass immerhin ein paar Insekten dieses Großreinemachen überstehen – und in geschätzten zwanzig Millionen Jahren eine Kultur begründen, die größere Ergebnisse hervorbringt als die Musik von Bach, die Philosophie von Platon, die Kunst von Leonardo, Akiba Rubinsteins beste Schachpartien und die Geistesblitze eines Lichtenberg.

Überschwemmung

Monday, 08. December 2008

Die tägliche Nachrichtenflut aus den Massenmedien ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits gibt es kaum noch „weiße Flecken” auf der aktuellen Landkarte des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Tagesgeschehens. Durch die globale Vernetzung der Informationskanäle bleibt kein noch so unbedeutendes „Ereignis” dem, der es zur Kenntnis nehmen will, verborgen. Wenn mich beispielsweise interessiert, wie ein spezielles Cricket-Match in Neuseeland ausgegangen ist, dann bin ich darüber via Internet binnen kürzester Zeit auf dem Laufenden. So weit, so gut.

Andererseits führt diese permanente Überflutung unserer Sinne mit Informationen in Bild, Ton und Text aber dazu, dass sich die Nachrichten in unserem Bewusstsein gegenseitig neutralisieren. Was wirklich wichtig ist für mich als freies Individuum und wesentlich für die Spezies, der ich angehöre, geht im reißenden Strom der Banalitäten unter. Hinzu kommt, dass in den Medien – und insbesondere im TV, das trotz Internet immer noch das weltweit meistgenutzte Informationsmittel ist – die Grenzen zwischen Fiktion und Realität ebenso verwischt sind wie die zwischen Nachricht und Werbung. Wenn man Augen und Ohren ohne Zwischenschaltung eines sehr feinen Filters aufsperrt, dann bleibt von der Message der Medien nicht mehr als ein Weißes Rauschen. Aber wer schafft es schon, die wenigen Weizenkörner aus den Bergen von Spreu auszusieben?

Und noch eine dritte Wahrnehmungstrübung verhindert, dass wir trotz der Unbegrenztheit, Zeitnähe und Totalität der uns zur Verfügung stehenden Informationen zu keinem zutreffenden Bild von der gegenwärtigen Welt gelangen: Wir wollen nicht wahrhaben, wie schlecht es uns tatsächlich geht. Der Atheist Günther Anders (1902-1992) hat diese Verweigerung schmerzvoller Erkenntnis „Apokalypse-Blindheit” genannt – und dabei ist ihm noch erspart geblieben, die jüngsten Verblendungen religiöser Eiferer zur Kenntnis nehmen und kommentieren zu müssen, die offenbar ihren Ergeiz darein gesetzt haben, den mittelfristig drohenden Zusammenbrüchen der globalen Ökosphäre und der Weltwirtschaft mit einer bellizistischen Apokalypse zuvorzukommen.

Gestern brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ein Interview mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer (*1958), der am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) eine Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis” leitet und sich zuletzt mit der Klimakatastrophe und den daraus notwendig folgenden kriegerischen Konflikten in einem zu wenig beachteten Buch auseinandergesetzt hat. Anlass des Gesprächs, das Nils Minkmar mit dem klarsichtigen Professor führte, war die aktuelle weltweite Finanzkrise. Welzer bringt die aussichtslose Lage, in der wir uns befinden, unverblümt auf den Punkt. Sowohl das vom Menschen blindlings aus der Balance gebrachte Klimageschehen auf unserem Planeten als auch die nach der Globalisierung vollkommen unberechenbar gewordene, nicht mehr zu steuernde Weltwirtschaft überfordern die besten Fachleute in Ökologie und Ökonomie so offenkundig, dass jede „Heilung” dieser beiden tödlichen Wunden durch rationale Entscheidungen, selbst auf „höchster Ebene”, ausgeschlossen ist. Hier haben sich zwei hyperkomplexe Prozesse so weit verselbstständigt, dass sie durch kein noch so hochgelahrtes Spezialistentum mehr umzukehren, aufzuhalten oder auch nur zu bremsen sind. Die Aufgabe, unsere Zukunft und die unserer Kinder und Kindeskinder zu sichern, ist uns endgültig über den Kopf gewachsen.

Solch unfrohe Botschaft muss dem Interviewer natürlich als unzumutbar erscheinen, weshalb er auf geradezu rührende Weise seinen Gesprächspartner um hoffnungsvolle Zugeständnisse an den Geschmack der Leser seiner Sonntagszeitung anbettelt: „Herr Welzer, wo bleibt denn das Positive? […] Nicht noch mehr Pessimismus bitte.” (Nils Minkmar: Warum keiner mehr durchblickt; in: FAS Nr. 49 v. 7. Dezember 2008, S. 29.) Da beißt sich Kassandra auf die Zunge und quält sich ein Zugeständnis an eine immer noch mögliche Zukunft ab, die es schon längst nicht mehr gibt, auf dass dem – trotz aller Turbulenzen an den Börsen noch immer auf ein einigermaßen reguläres Geschäftsleben vertrauenden und dank dem unspektakulären Wetterbericht den Schlaf des Gerechten schlafenden – Sonntagszeitungsleser das Frühstücksei nicht im Hals stecken bleibe.