Jacob

In gewissen Kreisen des individualistischen Anarchismus wird er in seinem Heimatland Frankreich noch heute als Held verehrt, hierzulande ist er hingegen nahezu unbekannt: Alexandre „Marius” Jacob (1879-1954), der „anarchistische Meisterdieb”, der angeblich Maurice Leblanc als Vorbild für seinen berühmten Gentleman-Einbrecher Arsène Lupin gedient haben soll.

Als der 17-jährige Alexandre Jacob, an einem rätselhaften Virus erkrankt, seine erste Berufstätigkeit als Matrose aufgeben muss, hat er schon viel von der Welt gesehen. Im zarten Alter von elf Jahren hatte er als Schiffsjunge angeheuert, überquerte mehrmals den Atlantik, lernte die Südsee kennen – und die rauen Sitten an Bord, wo er sich den sexuellen Nachstellungen älterer Seefahrer ausgesetzt sah und schließlich auf einem Piratenschiff landete. Angewidert von den Metzeleien auf den gekaperten Handelsschiffen, an denen sich zu beteiligen er gezwungen wurde, desertierte er und wurde bei seiner Rückkehr in Frankreich wegen dieses Vergehens vor Gericht gestellt, allerdings freigesprochen. Seine Bilanz dieser frühen Jahre als Abenteurer auf den Weltmeeren offenbart seine Ernüchterung und sollte sein weiteres Leben bestimmen: „Ich habe die Welt gesehen, sie war nicht schön. Überall eine Handvoll Verbrecher, die Millionen Unglückliche ausbeuten.”

Durch einen zufälligen Bekannten wird er in die Gedankenwelt des Anarchismus eingeführt, liest die theoretischen Schriften von Michail Bakunin, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – und nimmt sich besonders den berühmten Satz von Pierre Joseph Proudhon zu Herzen: « La propriété c’est le vol! » – Eigentum ist Diebstahl!

Nun beginnt eine große Karriere als illegalistischer Streiter für soziale Gerechtigkeit, als Robin Hood der Moderne, bei der Jacob bemerkenswertes handwerkliches Geschick, Organisationstalent, Kaltblütigkeit und eine geradezu geniale Erfindungsgabe an den Tag legt. Er umgibt sich mit einer Bande hochspezialisierter „Fachleute” und betreibt das Einbruchsgeschäft in die Villen der Reichen in schon fast „industriell” zu nennendem Maßstab. Bis zu tausend Diebeszüge werden allein für die Zeit von 1901 bis 1903 auf das Konto dieser politisch motivierten „Expropriateure der Expropriateure” gerechnet, wobei ein fester Anteil der Beute stets der anarchistischen Bewegung und den Armen zufließt.

Doch hat dieses Handwerk, bei aller Perfektion, nur vorübergehend goldenen Boden, und bald bewahrheitet sich die andere Redensart, dass sich Verbrechen am Ende nicht lohne. Jacob wird mit seinen Komplizen verhaftet, vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in der „Hölle von Guyana” verurteilt. Die Jahre von 1905 bis 1925 verbringt Jacob auf der berüchtigten Sträflingsinsel Île Saint-Joseph – und unternimmt in dieser Zeit 17 Fluchtversuche, die allesamt scheitern. Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich muss er noch zwei Jahre Zuchthaus absitzen, erst am 30. Dezember 1928 wird er endlich in die Freiheit entlassen. Ohne seine anarchistischen Überzeugungen aufzugeben, tritt „Marius”, wie er sich nun nennt, doch etwas kürzer. Zwar versucht er zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs (1936-39) noch, die anarchistischen Truppen von Buenaventura Durruti mit Maschinengewehren zu beliefern, doch als dies scheitert, zieht er sich endgültig aufs Altenteil zurück. Er fährt als fliegender Händler in Konfektionswaren mit einem Wohnwagen über Land und setzt sich schließlich in einem kleinen Häuschen in Reuilly (Indre) zur Ruhe. Nachdem seine körperlichen Gebrechen, Folgen der langen Haftzeit, ihm das Leben zur Qual machen, beendet er sein Dasein durch eine Überdosis Morphium, nachdem er zuvor eine Reihe von Abschiedsbriefen an seine zahlreichen Freunde zur Post gebracht hat. Bevor ihm die Sinne schwinden, kritzelt er noch auf einen Zettel: „Wäsche gewaschen, gespült, getrocknet, aber nicht gebügelt. War zu faul. Tut mir leid. Ihr findet zwei Liter Rosé neben dem Brotschrank. Auf euer Wohl!”

[Viele Informationen zu diesem Beitrag verdanke ich der kleinen Broschüre von Michael Halfbrodt: Alexandré Marius Jacob – Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes. Moers: Syndikat-A Medienvertrieb, 1994 – und deren schwierige Beschaffung meiner Freundin Michaela.]

7 Responses to “Jacob”

  1. Matta Schimanski Says:

    Ich habe was Interessantes dazu gefunden – kennst du das schon?

    http://deu.anarchopedia.org/Hauptseite

  2. Revierflaneur Says:

    Nein, diese Wiki-Site kannte ich noch nicht. Sie ist nach meinem allerersten Eindruck noch reichlich chaotisch, konfus und rudimentär. Ein paar Stichproben ergaben, das Wesentliches fehlt. (Ein Beispiel: Die wichtigen “Schwarzen Protokolle” aus den 68ern kommen gar nicht vor.) Sympathisch andererseits, dass “Günther Anders” immerhin schon mal als Person gelistet ist, wenngleich der Artikel nichts hergibt. Ganz daneben ist der Artikel über den verdienstvollen Berliner Verleger Bernd Kramer, den offenbar einer seiner privaten Feinde genutzt bzw. missbraucht hat, sein Mütchen zu kühlen. Sowas sollte ganz schnell gelöscht werden. Federführend scheint Horst Stowasser zu sein, dessen im vergangenen Jahr erschienenes Buch “Anarchie!” mich etwas enttäuscht hat (z. B. keine Zeile über den “Haymarket Riot” in Chicago, Du weißt schon: Pynchon!). Na, eben reichlich anarchisch, das Ganze. – Trotzdem danke für den Tipp!

  3. Matta Schimanski Says:

    Es ist keine Wiki-Site im eigentlichen Sinne, nur auf der Wiki-Software basierend, deshalb sieht es auch so aus.

    Ist im Aufbau begriffen, deshalb auch noch so lückenhaft. Es wird im Laufe der Zeit immer umfassender werden (hoffentlich!). Und anarchisch: So soll ‘s ja sein!

  4. Revierflaneur Says:

    Natürlich ist das eine Wiki-Seite – eine von vielen tausend, die es inzwischen gibt. Hier zum Beispiel eine, die Dich von Berufs wegen interessieren könnte:

    http://wiki.bildungsserver.de/index.php/Hauptseite

    Beides sind Wikis, und zwar “im eigentlichen Sinn”, nämlich insofern, als sie im Aufbau, in der Syntax, der freien Zugänglichkeit für die Autoren, in der Handhabung und im Bekenntnis zur Gemeinnützigkeit den formalen und ethischen Regeln von Wiki folgt. “Im Aufbau begriffen” sind streng genommen ja alle Wikis, weil sie nie fertig werden. Auch die Wikipedia wächst und verändert sich ja von Tag zu Tag. Aber das Anarcho-Wiki steckt – das wollte ich sagen – doch noch sehr in den Kinderschuhen, besser: kommt barfuß daher und mit schmutzigen Füßchen. Das mag anarchisch sein und ist insofern einerseits ja auch ganz sympathisch; aber andererseits bringt es dem interessierten Leser (noch?) verhältnismäßig wenig Nutzen.

  5. Revierflaneur Says:

    Sehr lesenswert übrigens auch dieses Wiki:

    http://www.stupidedia.org/stupi/Hauptseite

  6. Matta Schimanski Says:

    OK, ich war mir über den “eigentlichen Sinn” des Begriffes “Wiki” nicht im Klaren. Bitte um Vergebung.

  7. Revierflaneur» Blogarchiv » Sonntag, 28. Dezember 2008: Narratorium Says:

    […] Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, Oskar Panizza, Alexandre „Marius” Jacob oder Helmut Salzinger ganz zu schweigen, kommen bei Holbein vor. Einzig den „Auswanderer, […]

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