Duftnote

Eine Zeit ohne Wörter heißt ein frühes Buch des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker (*1932), eins der ersten Bücher überhaupt, die ich mir als fünfzehnjähriger Schüler von meinem Taschengeld gekauft habe. Wer will das wissen? Ich wüsste gern, wie ich damals dazu gekommen bin, mir von meinen paar Groschen ausgerechnet dieses Bilderbuch zu kaufen. (Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1971.)

Auf ungefähr 200 unpaginierten Seiten enthält Beckers Buch Schwarzweißfotos des Autors von Straßen und Häusern, Wiesen und Wäldern, Schienen und Mauern, Spiegelungen und Schatten. Menschen kommen vor, aber sozusagen nur am Rande. Ganz auf Wörter verzichtet das Buch nicht, auf einigen verstreuten durchnummerierten fotolosen Seiten erscheinen wenige Wörter, die wie Ankündigungen oder Titel der nachfolgenden Bilder gelesen werden können und vielleicht wollen: „Der letzte Satz in den Umgebungen.” „Dreißig Minuten in der alten Umgebung.” „Die näherkommende Katastrophe des Autobahnzubringerbaus” usw. bis „Gegenstand in der Dellbrücker Landschaft. Für meinen Vater und seine Familien.

Beckers Fotos sind nicht brillant, nicht professionell, keine Kunst. Vielleicht könnte man sie dokumentarisch nennen. Beim oberflächlichen Durchblättern baut sich vorübergehend diese oder jene Erwartung auf, wie das Ganze zu verstehen sein könnte, die aber an anderer Stelle und durch andere Fotos bald schon wieder enttäuscht wird. Das macht das Bilderbuch, ganz wie man es nimmt, zu einem frustrierenden oder gerade interessanten Coffee Table Book.

Die Tristesse, die von der überwiegenden Mehrzahl der Aufnahmen ausgeht, erschien mir seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, wie beißender Spott; eine Anklage gegen unsere bundesrepublikanische, eben beginnende Siebzigerjahrewelt, die ihre Zukunft schon damals hinter sich zu haben schien. Erst jetzt, in der vielbeschworenen „Krise”, wird diese vorzeitige Überlebtheit offenkundig, die feine Nasen frühzeitig erschnupperten. Insofern könnte man Beckers stilles Buch prophetisch nennen, wenn es denn eine Botschaft hätte.

Ich frage mich, ob man heute noch oder wieder solch ein Fotobuch machen könnte. Ob ich es könnte. Mit meinen Snapshots hatte ich ganz ursprünglich vielleicht so etwas vor. Ich bin vermutlich davon abgekommen, weil es mich zu sehr deprimierte, als meine Stimmung ohnehin nicht die beste war. Jetzt, da ich gelegentlich wieder lächle, kann ich in sparsamer Dosierung ein Trauerbild dieser Art einstellen. Wer’s nicht mag und nicht erträgt, möge die Augen niederschlagen.

2 Responses to “Duftnote”

  1. Matta Schimanski Says:

    Auch wenn es seltsam klingt – ich mag solche Photos!

    Und ich bewundere, wenn jemand ein Auge für diese Tristesse (oder auch Absurdität) unserer alltäglichen Wirklichkeit hat und sie mit der Kamera einzufangen weiß.

    Die meisten Menschen verschließen ja gerne die Augen vor der Wahrheit.

  2. Günter Landsberger Says:

    Jürgen Beckers “Ränder” war das erste Buch, das ich von ihm las. Die anderen folgten: “Felder” etc.

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