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Qual der Wahl

Sunday, 27. July 2008

polgarfliege

Vorbereitungen zur CIII. Literarischen Soiree: Alfred Polgar. – Ich werde mich, das steht schon lange fest, auf Kostproben aus den Kleinen Schriften (Band 1 bis 3) beschränken, die Ulrich Weinzierl unter dem Patronat von Marcel Reich-Ranicki 1982 bis 1984 im Rowohlt-Verlag herausgegeben hat. Aus den insgesamt 424 Feuilletons des Meisters der „Kleinen Form“ gilt es nun, ein bis zwei Dutzend auszuwählen, die für den mündlichen Vortrag geeignet sind und ein wenn schon nicht vollständiges, so doch möglichst facettenreiches Bild seiner großen Sprachkunst ergeben.

Der Zufall will es, dass sich die insgesamt 1.272 Textseiten dieser drei Bände ohne Rest durch 424 teilen lassen. Demnach ist ein durchschnittliches Polgar-Feuilleton exakt drei Seiten lang. Drei Seiten dieser Ausgabe – ich hab’s gerade mit der Stoppuhr in der Hand an dem Text Ein stolzes Mädchen ausprobiert, der genau diesen Umfang hat – lese ich „ohne Not“ in sechs Minuten, was heißen soll: mit einer komfortablen Reserve für bedeutungsschwere Atempausen. Nach meinen langjährigen Erfahrungen als Vorleser muss das Äußerste, was man an Geduld und Aufmerksamkeit einer geneigten und gebildeten Zuhörerschaft abverlangen soll und kann und darf, sich mit einem Zeitrahmen von einer Stunde und dreißig Minuten bescheiden.

Dass es folglich bei der Zusammenstellung meines literarischen Menüs auf genau fünfzehn Gänge hinauslaufen wird, ist nicht mehr als das schlichte Ergebnis einer Rechenaufgabe für die zweite Klasse. Aus dem überreichen Repertoire der Polgar’schen Delikatessen gerade die für eine solche Tafelrunde am besten geeigneten herauszufischen und sie sodann noch in einer idealen Abfolge zu servieren – dazu bedarf es mehr als einer mit Auszeichnung bestandenen Matura des routinierten Küchenchefs.

Ich würde es mir jedenfalls zu leicht machen, folgte ich dem bekannten Rezept des Theaterdirektors im Vorspiel zu Goethes Faust: „Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, / Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. / Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; / Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ (Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 3. München: C. H. Beck, 1986, S. 11.) Schon eher hilfreich ist dieser Aphorismus von Polgar selbst: „Erfahrung lehrt, daß es beim Dichten wie beim Pistolenschießen immer ein wenig die Hand verreißt. Meist nach unten. Man muß höher zielen, als man treffen will.“ (Kleine Schriften. Bd. 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984, S. 409.)

Ich stehe vor der paradoxen Aufgabe, als Maître de Plaisir und Küchenchef ausschließlich Amuse-Gueules reichen zu dürfen, von denen jedes einzelne jedoch schon Völlegefühle erzeugte, wenn der wahre Genießer es sich langsam und bedächtig auf der Zunge zergehen ließe – und zugleich meine Gäste beschwingt und leichten Herzens in die hoffentlich laue Sommernacht des 1. August entlassen zu wollen. Wie soll das gehen? Aber schließlich ist wahre Kunst ja immer die Bewerkstelligung von etwas Unmöglichem.