Der Unverschollene

verbindungen

Ich würde ja gern über K. schreiben. Übermorgen wird er hundertfünfundzwanzig, zur Freude der Verleger, zur Erleichterung der schlechten und zum Verdruss der guten Kritiker und Rezensenten. Erstere sind froh, dass sie ein paar Spalten füllen können mit Gemeinplätzen, zu K. fällt ja jedem etwas ein, und nur den K.-Lesern fällt auf, dass es immer die gleichen Gemeinplätze sind, und K.-Leser gibt es zum Glück der schlechten Kritiker und Rezensenten, von denen es viele gibt, nur sehr wenige; dafür aber sehr viele K.-Kenner, die nämlich von K. nur die gebetsmühlenhaft wiederholten Gemeinplätze kennen und immer wieder wissend mit ihren hohlen Häuptern nicken, wenn sie sich derart als K.-Kenner bestätigt finden.

Als ich fünfzehn Jahre alt war, fiel mir zufällig mein erster K. in die Hände. Pro Woche bekam ich drei Mark Taschengeld, und da ich ein jugendlicher Asket war, keine Freundin hatte, nicht rauchte und nicht in Kneipen ging und wenig Sinn darin sah zu sparen, weil ich nicht beabsichtigte, noch lange zu leben, kaufte ich mir von meinem Taschengeld wöchentlich ein Taschenbuch, denn die schmalen Bände kosteten damals zwei Mark und achtzig Pfennige. Die restlichen zwanzig Pfennige warf ich einem Bettler in den Hut, der dann immer murmelte, ohne den Blick zu heben: „Vergelt ’s Gott.“ Mein Taschengeld erhielt ich montags, ich dosierte die Lektüre so, dass ich jedes Buch pünktlich am darauffolgenden Sonntagabend ausgelesen hatte.

Meine Auswahl traf ich nach den Prospekten der Taschenbuchverlage, meine Anregungen entnahm ich dem Radio. Nebenher hörte ich Hörspiele, die gelegentlich von kundigen Kommentaren gesäumt waren. Ich bin einigermaßen sicher, dass mich ein solcher Kommentar nach Günter Eichs Hörspiel Träume dazu verführte, an einem Montag im Mai des Jahres 1972 K.s Amerika zu kaufen. Seit Carlo Collodis Pinocchio, den ich mit sieben Jahren las, hatte mich kein Buch annähernd stark ergriffen. Ich werde es jetzt nicht überprüfen, ich bin auch so sicher, dass ich schon damals nicht der Erste war, dem die Ähnlichkeit auffiel zwischen diesen beiden Büchern: Pinocchio und Der Verschollene, wie Amerika heute heißt. Was K. angeht, kann man mit keiner auch noch so geringfügigen, nebensächlichen Erkenntnis mehr der Erste sein. Ja, man kann auf diesem ausgelaugten Felde noch nicht einmal mit einem Irrtum der Erste sein. Hier wächst und gedeiht nichts mehr.

Und darum bereitet den guten Kritikern und Rezensenten K.s hundertfünfundzwanzigster Geburtstag so großen Verdruss. Sie wissen nämlich, dass es unterm Licht dieser schwarzen Sonne nichts Neues mehr gibt, für alle Zeit. Sie befinden sich in der gleichen Verlegenheit wie die geladenen Gratulanten vor der Geburtstagsfeier eines Nabob: Was schenkt man jemandem, der schon alles hat? Der naheliegende Ausweg, dass man ihm vielleicht neue, zumal junge Leser zuführen könnte, unter Verzicht auf die ohnehin hoffnungslose Bemühung, etwas Neues zu K. zu sagen, erweist sich bei näherer Betrachtung leider auch als unbegehbar, aber weniger, weil dies kaum glückte, sondern deshalb, weil es ein Misserfolg wäre, wenn es wider Erwarten in diesem oder jenem Falle doch gelänge. Es würde den jungen Leuten ja nur schaden auf ihrem weiteren Lebensweg.

So gern ich über K. schreiben würde, fällt mir vorläufig zu ihm nicht mehr ein als einem anderen K., der schrieb, dass ihm zu H. nichts mehr einfiele. Aber noch bleiben mir ja zwei Tage Bedenkzeit, eine letzte Gnadenfrist. Und ansonsten spende ich immerhin diese zwei Groschen für ein „Vergelt ’s Gott!“