Heute (II)

pflastersteine

Heute sind 617 Tage nach Heute (I) vergangen, rund zwanzig Monate und zweieinhalb Wochen, oder etwas weniger als ein 32stel (schreibt man orthografisch richtig so?) meines bisherigen Lebens. Vor ein paar Tagen hielt ich noch für möglich, dass meine Tage gezählt sein könnten: Blut im Urin! Nach allerlei mehr oder weniger unangenehmen, mehr oder weniger interessanten Inspektionen meines Urogenitaltrakts beim Facharzt weiß ich nun: Meine Nieren sind bis auf ein paar harmlose Zysten ohne Befund, meine Prostata ist für mein Alter eher ungewöhnlich klein, meine Harnblase zeigt nicht die Spur einer gut- oder gar bösartigen Geschwulst. Für das Blut gibt es also keine rechte Erklärung, was ich einerseits beruhigend, aber andererseits doch auch nicht restlos zufriedenstellend finde. Wäre ich ein Tier, würde ich vermutlich an meiner blassrot gefärbten Pisse geschnuppert haben, leicht irritiert, um dann zur Tagesordnung überzugehen, etwas verstört für den Moment, sorglos für den Rest meiner Tage. Da ich aber ein Mensch bin, malte ich mir aus, wie schrecklich meine verbleibende, kurze Zukunft nun werden könnte, nachdem ich die niederschmetternde Diagnose erfahren haben würde: unmittelbar bevorstehendes Nierenversagen oder Prostatitis oder Blasenkrebs oder alles zusammen oder von jedem etwas, jedenfalls nur noch ein stetiges Abwärts ohne Hoffnung. Das ist nun mal die hässliche Kehrseite der Medaille, in deren Vorderseite ich die schöne Welt spiegeln kann, als ein beliebiges Exemplar des ersten vernunft- und phantasiebegabten Hirntiers auf Terra, mit der Begabung zum sprach- und schriftlichen Ausdruck. Pling!

Heute nutzte ich das erstmals frünglingshafte Wetter, das mir im Fall einer bitteren Diagnose sicher wie der blanke Hohn erschienen wäre, nun aber meine ohnedies gute Laune noch um einen weiteren Hub liftete, zu einer kleinen Exkursion mit Lola in den Wald und an den Bach, wo ich zahlreiche Fotos machte und dabei schon im Voraus litt, weil ich wusste, dass es schwer werden würde, mich für eins von ihnen zu entscheiden, als Titelbild für diesen Artikel über heute, den 18. März 2010. Anschließend schoss ich mich aus dem Grünen ins Graue, mitten hinein in die europäische Kulturmetropole des Jahres, die City von Essen, und dort zunächst in die Stadtbibliothek im Gildehofcenter, wo ich Bücher über Joseph Roth und Jan Vermeer zurückgab und jeweils zwei Bände aus der Robert-Walser- bzw. Hermann-Broch-Werkausgabe auslieh; dann in die Buchhandlung proust dicht nahebei, wo ich das vorbestellte und druckfrisch eingetroffene Buch Verirren von Kathrin Passig und Aleks Scholz abholte und mit der geistreichsten Buchhändlerin Westdeutschlands ein Pläuschchen hielt: über die Leipziger Buchmesse, die heute eröffnet; über Lenka Reinerová (1916-2008), die letzte Prager Autorin deutscher Sprache, die im stolzen Alter von 90 Jahren als „Jahrhundert-Zeugin“ neben Johannes Heesters und anderen Urgesteinen 2007 zur Buchmesse in Leipzig aufgetreten war, der einzigen, die Beate Scherzer bisher besucht hat, wobei Reinerová klargestellt habe, dass sie mitnichten die letzte noch lebende Zeitzeugin sei, die Franz Kafka (1883-1924) noch erlebt habe, wie aus den Lebensdaten beider doch unmittelbar erhelle, was so nicht ganz stimmt, denn die achtjährige Reinerová hätte durchaus an den vierzigjährigen Kafka noch eine Erinnerung bewahrt haben können. Knirsch!

Heute überschlugen sich wieder einmal die Ereignisse in meiner weitverzweigten Familie, aber das gehört nun einmal nicht hierher. Wenn ich davon berichten und darüber schreiben dürfte, wäre dieses Weblog vermutlich noch um einiges wertvoller als Zeugnis der Zeit. Klatsch!

Heute meldet die Zeitung vom Tage mir leider nichts, denn sie wurde mir nicht zugestellt. Oder, wenn sie mir zugestellt wurde, dann erreichte sie mich immerhin nicht. Jedenfalls fand ich sie nicht vor im Briefkasten neben der Haustür, noch im zusätzlich angebrachten Briefkasten im Carport der Vermieterin neben dem Haus. Und nachdem ich bei einer stark verschnupften Call-Center-Mitarbeiterin das Ausbleiben meiner Süddeutschen Zeitung reklamiert hatte, die mir deren Nachlieferung fest zusicherte, warte ich jetzt um vier Uhr nachmittags immer noch auf deren Eintreffen. Ob dies nun an der mangelhaften Zustellung liegt oder anderer Erklärungen bedarf, das weiß ich noch nicht, aber ich werde es zweifellos herausbekommen, denn meine Neugier ist ebenso phantasievoll wie hartnäckig. Immerhin versorgt mich die SZ ja auch online mit den wichtigsten Nachrichten vom Tage. Vielleicht sollte ich die monatlichen 43,90 € doch künftig einsparen? Raschel!

Heute werde ich in Robert Walsers Prosa aus der Berliner, Bieler und Berner Zeit stöbern, ein weiteres Mal mit Lola in den Wald gehen, dazu überirdisch schöne Musik hören, mit meinem jüngsten Sohn Tortellini a la Manuele essen und dann … Seufz!

2 Responses to “Heute (II)”

  1. socursu Says:

    Meiner Treu – in mehr als einer Passage klingen Sie, als ob ich es geschrieben hätte; das generell überbordende Wohlbefinden nach aufmunternder Diagnose allerdings kenne ich nur zu gut: Als mir mein Proktologe nach etlichen Litern geschluckter, orangenähnlich schmeckender Spülflüssigkeit versicherte, dass alles, was er mit seinem Endoskop erblicke, sowas von unbedenklich sei, und die empfundenen Liter von Blut, die sich im Sessel, Sitz oder Stuhl fanden, bloss leidlich harmlose H. seien … doch, ich fühlte mich gleich ein wenig leichter (was meine Waage allerdings als blosses Gefühl zurückwies).

  2. Revierflaneur Says:

    Am 23. März 2010 hat Beate Scherzer per E-Mail präzisiert: “Lieber Manuel Hessling, mit Daten war die Buchhändlerin noch nie so geistreich, aber sie meint doch, die 90-jährige [Lenka Reinerová] deutlich sagen zu hören, dass die 8-jährige Kafka nie begegnet sei. Von wegen hätte …”

    Nun brennt mir natürlich der Einwand unter den Nägeln, dass die 90-jährige kaum beweisen kann, als 8-jährige Kafka nicht begegnet zu sein. Vielleicht hat sie ihn ja bloß nicht erkannt. Wer kannte damals schon Kafka? Und erst recht im Alter von acht Jahren? Da hat die kleine Lenka vermutlich Spyris Heidi gelesen und nicht Kafkas In der Strafkolonie.

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