Dieda (II)

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Die fatalen Generalisierungen – die Spießer, die Großkopferten, die Proleten, die Türken, die Glatzen, die Amis, die Muchels, die Männer, die Juden, die Ärzte etc. ad lib. et inf. – waren Angriffspunkt und Zweifelsfall meiner Zeitkritik im Juni 2008, als ich nur halb im Scherz auf der Suche nach der Wurzel allen Übels die gleichmacherische Begriffsbildung als möglichen Hauptübeltäter dingfest machen wollte. Wer mit vager Geste am gemütlichen Biertisch meint, „Dieda!“ in einen Topf werfen zu dürfen, der ist unter ungemütlicheren Umständen auch bereit, „Dieda!“ mit präzisem Fingerzeig ins Gas zu schicken [s. Titelbild, Selektion an der Rampe in Birkenau].

Dass dergleichen schreckliche Vereinfachungen und Vereinheitlichungen im Umgang mit den Mitmenschen überhaupt in Betracht kommen können, um dann eine für viele verführerisch bequeme Denkgewohnheit zu werden, setzt eine Hypertrophie der menschlichen Gemeinwesen voraus, ist eine Folge der Verstädterung. Wo man sich nicht mehr mit Namen kennt; wo man das passierende Gegenüber nurmehr im Ausnahmefall grüßt; wo das Erscheinungsbild der anderen im öffentlichen Raum das von anonymen Fremden ist – da bedarf es zur Orientierung eben solch grobschlächtiger Zusammenfassungen der wimmelnden Individuen unter beliebiges Akzidentia.

Der Begriff der Masse drängt sich hier in den Vordergrund. Wann immer ich mich diesem Begriff nähere, beschleicht mich das schlechte Gewissen, Elias Canettis theoretisches Hauptwerk Masse und Macht (1960) immer noch nicht gelesen zu haben. Seit fast dreißig Jahren steht dieses Buch in meinem Regal, sogar in einem vom Autor im Oktober 1973 signierten Exemplar. Vermutlich hat mir Canetti mit den Ausführungen über dessen Entstehungsgeschichte in seiner Autobiographie so viel Respekt eingeflößt, dass ich mich an diesen spröden Brocken nicht mehr wohlgemut herantraue. Zudem wären ja auch die anderen Klassiker zum Thema „Masse“ – von Gustave Le Bon (1895), Siegfried Kracauer (1927), José Ortega y Gasset (1930), Hermann Broch (1948) und David Riesman (1950) – noch einmal vorzunehmen und im Hinblick darauf abzuklopfen, ob sie für meine Fragestellung etwas hergeben: „In welchem Verhältnis steht das neuzeitliche Phänomen der Masse und dessen Wahrnehmung durch das Individuum zu des letzteren Bereitschaft, andere Individuen ihrer Einzigartigkeit zu entledigen und sie anonymisierend, typisierend und schließlich generalisierend diffusen Gruppen zuzuschlagen?“

Was für ein vertracktes Wort „Masse“ im Sprachgebrauch über das Soziale ist, das hat mir jüngst noch H. G. Adler deutlich gemacht, bei dem ich las: „Der Nationalsozialismus verwandelte den Menschen aus einer zur Autonomie berufenen und berufbaren Persönlichkeit bedenkenlos in einen behandelten Gegenstand. Darin war die nationalsozialistische Herrscherklasse unbedingte Anhängerin ihrer materialistisch denkenden und empfindenden Zeit, die schon vorher und auch außerhalb dieses Machtbereiches von Menschen und Völkern mit einem pseudokollektivistischen Ausdruck als von ,Masse‘ zu reden wagte. Das Phänomen ,Masse‘ als eine beliebige Vielzahl von Menschen psychologisch zu untersuchen, müssen wir uns versagen, aber wir weisen darauf hin, daß in dem Augenblick, wenn man von Menschen als ,Masse‘ zu reden beginnt, das menschliche Bewußtsein gestört ist, mag auch der aktuelle Zustand des Menschen zulassen, sich als ,Masse‘ bezeichnen und behandeln zu lassen, während die gleichen Menschen gegen den viel weniger beleidigenden Ausdruck ,Vieh‘ sich sofort verwahren würden.“ (Das geistige Antlitz der Zwangsgemeinschaft; in: H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 121.) – Erstaunlich übrigens, dass im aktuellen Wikipedia-Artikel über „Masse (Soziologie)“ Wilhelm Reichs The Mass Psychology of Fascism (1933) keine Erwähnung findet.

Dass sich im Rassenwahn meiner Vorfahren die distanzierte „Zusammenfassung“ von Mitmenschen zum Zwecke ihrer Auslöschung vollzogen hat, also mit einer Konsequenz, die an Schrecklichkeit bisher nicht übertroffen wurde, nämlich bis zur Konzentration der Enteigneten im Lager und bis zum Hineinpressen der Entkleideten in die Kammern, das hat den Blick auf die dürftigen, scheinbar harmlosen Ursprünge des generalisierenden Taxierens leider nicht geschärft. Im Gegenteil! Wenn ich zwischen dem Holocaust und der Gleichmacherei der Rhetorik über die Hartz-IV-Empfänger, die Kinderlosen oder die Steuerbetrüger ad lib. et inf. einen Zusammenhang herstelle, dann ziehe ich mir leicht den Vorwurf zu, die Banalisierung des Bösen zu betreiben. Nichts liegt mir ferner.