Archive for March 20th, 2010

Findling (II)

Saturday, 20. March 2010

platz2

Mein Bekenntnis zum Leben in dieser Unstadt namens „Revier“ gilt unverbrüchlich, trotz aller Anfeindungen selbst von Teilen meiner Nachkommenschaft, die mir verübeln, ihnen solch einen vermeintlich gesichts- und geschichtslosen Siedlungsraum zur Kulisse ihrer Kindheit und frühen Jugend aufgenötigt zu haben. Ich selbst fand es immer eher zweckdienlich, aus der Lokalität meiner Herkunft gerade keinen Stolz ableiten zu können. Die Städte, die hier zu einem großen Klumpatsch auf die hügelige Wald- und Wiesenlandschaft geschüttet wurden, gehen ineinander über und haben insofern nicht einmal eine Grenze. Wenn ich mit meinen Eltern Mitte der 1960er-Jahre aus dem Urlaub von der holländischen Nordseeküste heimkehrend in dieses Revier unter den grauen Himmel von Marxloh und Sterkrade abtauchte, dann wusste ich nie genau, ob ich nun noch in Oberhausen oder schon in Mülheim war.

So knüpfte sich mein Heimatgefühl immer schon einzig an den unmittelbaren Umkreis meiner jeweiligen Wohnstätten, Arbeitsplätze und Einkaufsgelegenheiten. Ich denke, man könnte mich in jede beliebige Stadt der Welt versetzen, ich würde es nirgends anders halten und mich nach einer Gewöhnungszeit von etwa einem halben Jahr dort heimisch fühlen. Und wozu soll denn übrigens auch sonst eine Stadtlandschaft gut sein, wenn nicht zur möglichst bequemen, möglichst unauffälligen Bereitstellung der fundamentalen Lebensgrundlagen? So wie ich im Traum nicht daran denke, meinen Schlafplatz in einem Museumssaal einzurichten, so wenig verlangt es mich danach, inmitten von Sehenswürdigkeiten beheimatet zu sein, die ohne Unterbrechung von einer Meute knipsender und juchzender Touristen heimgesucht werden. Venedig kann sehr kalt sein? Venedig markiert vielmehr schon lange den absoluten Minuspunkt sozialer Thermik.

Der Wartberg-Verlag in Gudensberg-Gleichen hat zwei erfolgreiche Buchreihen aufgelegt, die dem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen, sich im gleichförmigen Strom der Zeit und im konturlosen Einerlei ihrer lokalen Herkunft doch in einer individuellen Besonderheit wiedererkennen zu können. Auf dass ich mich in meinem zufällig vor bald 54 Jahren begonnenen irdischen Dasein nicht ganz so einsam fühle, bietet mir der Wartberg-Verlag den Band Wir vom Jahrgang 1956 – Kindheit und Jugend an. Und damit ich weiß, dass ich als Kind und Jugendlicher in meiner Heimatstadt nicht ganz so einsam war, wie ich mich zeitweise fühlte, gibt es aus dem gleichen Verlag das Büchlein Aufgewachsen in Essen in den 60er und 70er Jahren. In diesen beiden reich illustrierten Bänden wird mir zum Gesamtpreis von 25,80 € das lauwarme Gefühl einer Gemeinschaftlichkeit angetragen, die sich allerdings bei näherer Einlassung eher als Wechselbad erweist. Vielleicht rührt diese Ambivalenz ja aber auch bloß daher, dass ich eben kein „waschechter Essener“ bin wie Walter Wandtke, der Journalist und Autor letztbesagten Büchleins, der laut Klappentext seit 20 Jahren das Essener Stadtgeschehen beobachtet und mich mitnehmen will „auf eine authentische Reise durch die Kindheit und Jugend der 60er und 70er Jahre“ in meiner Vaterstadt.

Wenn die persönliche Ursprungsstätte schon so gar nichts an außergewöhnlichen Besonderheiten aufzuweisen hat, dann müssen eben wohlfeile Wiedererkennungswerte über den Frust hinwegtrösten, aus einer Gegend zu stammen, die im internationalen Vergleich eher als No-Name-Produkt durchs Raster anspruchsvollerer Provenienzwettbewerbe fällt. „Essen – Die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt!“ So verspricht es uns Essenern der Wartberg-Verlag auf der Rückseite seines „Aufgewachsen-in-Essen“-Buchs. Aber der gleiche Slogan steht mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auch auf den übrigen Büchern der Reihe: „Aachen, Aschaffenburg, Bamberg, Bielefeld, Bochum, Bonn, Braunschweig, Bremen, Celle, Chemnitz, Darmstadt, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Freiburg, Fürth, Gelsenkirchen, Gera, Gießen, Göttingen, Halle, Hamburg, Hamm, Hannover, Heilbronn, Ingolstadt, Jena, Kaiserslautern, Karl-Marx-Stadt, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Koblenz, Köln, Krefeld, Leipzig, Lübeck, Ludwigshafen, Lüneburg, Mainz, Mannheim, München, Münster, Neuss, Nürnberg, Ost-Berlin, Paderborn, Pforzheim, Regensburg, Rostock, Schwerin, Solingen, Ulm, Velbert, West-Berlin, Wiesbaden, Wolfenbüttel, Wuppertal und Würzburg – die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist so ganz anders als alle Städte dieser Welt.“

Mit gleichem Recht könnte man etwa auch sagen: Nichts ist gleichförmiger als die vermeintliche Differenz! Oder noch allgemeiner: Nichts ist trivialer als des Menschen sterbliches Streben nach Originalität.

[Titelbild: © Stadtbildstelle Essen, hier als Ausschnitt gescannt von dem besprochenen Band © Wartberg-Verlag.]

Aus der Mitte (II)

Saturday, 20. March 2010

bloodygolfballs

Marcus von Hochstengel schätzt diese verregneten Wochenenden im Spätwinter nicht sehr, wenn er einerseits die Schnauze voll hat vom Indoorgolfen, andererseits aber die Trainingsbedingungen unter freiem Himmel an Kneippsches Wassertreten erinnern und der Trolley alle nasenlang im Morast steckenbleibt. Zudem hat er schlecht geschlafen wegen dieser schwelenden Steuersache, die noch längst nicht ausgestanden ist. Jetzt ist schon von tausendeinhundert Verdächtigen die Rede, die die Fahnder einen nach dem anderen unter die Lupe nehmen wollen. Eigentlich vertraut er ja dem Rat seines in fiskalischen Angelegenheiten wesentlich beschlageneren Bruders. Max meint, dass er sich notfalls auf seine tragisch verunglückte Frau zurückziehen soll. Aber dass er so eine Strafe vermutlich abwehren kann, ist ja nur die eine Seite der Medaille und auch eine saftige Steuernachzahlung kein Zuckerschlecken.

Immerhin steigt von Hochstengels Laune, wenn ihm wieder einfällt, dass er die bald sechsjährige Tochter nun endlich in einer Privatschule bei Luzern hat unterbringen können. Das verwöhnte Blag hat ihm in den vergangenen Wochen wahrlich den allerletzten Nerv geraubt. Gerade jetzt wieder vernimmt sein feines Ohr, dass Naomi beim BattlefieldSpielen im Salon auf ihrem Laptop reihenweise Heckenschützen des Vietcong eliminiert.

Aber die pinkfarbenen Koffer seines halbverwaisten Töchterchens stehen gepackt in der Empfangshalle. Spätestens in einer Stunde müsste Kurt mit dem Wagen zurück von der Waschanlage kommen und ihn erlösen. Dann bräche der Chaffeur mit Naomi Richtung Schweiz auf. Marcus von Hochstengel konnte noch nie so recht glauben, dass sich Karoline diesen Wechselbalg tatsächlich bei ihm eingefangen hatte. Weder die Segelohren noch die engstehenden Augen kamen bei seinen gräflichen Ahnen vor. Und schon gar nicht hatte Naomi diese hässlichen Ausrutscher ihrer Physiognomie von ihrer unseligen Mutter geerbt. Deren tadelloses, nahezu berückend schönes Äußeres war ja schließlich der einzige Grund gewesen, warum er Karoline Dorffmann vor den Traualtar geführt hatte.

Von Hochstengel beschließt, sich die Zeit bis zu Kurts Rückkehr mit einer Trainingsstunde in seiner Fitnesshalle zu vertreiben. Hinter seiner Tischtennisplatte ist eine Ballwurfmaschine aufgebaut, die wahlweise Konterbälle, Unterschnittbälle, hohe Abwehrbälle und Topspins servieren kann, von soft bis superhart. Marcus geht in Abwehrstellung und legt den Schalter um. Er hat diesmal nicht den Hauch einer Chance.

Dass es Naomis Idee gewesen sein sollte, das Magazin der Wurfmaschine zur Abwechslung mal mit Golfbällen zu befüllen, das konnte sich der herbeigerufene Hausarzt „eigentlich nicht vorstellen“. Die Reise nach Luzern wurde angesichts dieses tragischen Unglücksfalls zunächst einmal abgesagt.