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Dieda (I)

Sunday, 29. June 2008

hand

Ich suche immer, naiv wie ich bin, nach der Wurzel allen menschgemachten Übels auf diesem seltenen Planeten; oder, in biblischer Metaphorik gesprochen, nach dem Wurm im Paradiesapfel. Die Frage, ob nun Ballack heute im Finale gegen die Spanier antreten kann, interessiert mich, ich gestehe es frank und frei, weit weniger als die Frage, warum wir, aufs Ganze gesehen, morgen oder spätestens übermorgen abtreten müssen.

Als Sprachtier fällt mein Augenmerk dabei naturgemäß in diesen Spiegel unseres Daseins. Wäre ich ein Geldtier, hätte ich es bequemer, könnte ich mich doch, aller Sorgen ledig, den Lehren der Herren Marx und Engels anschließen und weiter auf den eschatologisch-paradiesischen Endzustand unserer Geschichte im Kommunismus vertrauen. So naiv bin ich allerdings nun auch wieder nicht.

Wäre ich ein Machttier, dann stellte ich das erste der drei Ideale von 1789 über die Gleichheit und müsste, in Michail Bakunins Fußstapfen, die Freiheit zum Nonplusultra eines humanen Chiliasmus erklären. Ich will nicht leugnen, dass mir die kurzgeschorenen Exegeten in den K-Gruppen weniger sympathisch waren als jene umherschweifenden Haschrebellen, die sehnsuchtsvoll nach dem Strand unterm Pflaster suchten. Herz sticht Hirn!

Tertium datur! Das Lob und Ziel der fraternité bleibt als vielleicht letzte Hoffnung übrig, nachdem in den vergangenen 219 Jahren die beiden anderen Prinzipien einer besseren Zukunft so bitterlich Schiffbruch erlitten. Diese „Geschwisterlichkeit“, wie man das Wort nach dem überfälligen Triumph des Feminismus mittlerweile ins Deutsche übersetzt, könnte das alte Kainsmal unseres Geschlechts vielleicht noch löschen.

Die schillersche Ode an die Freude verhieß uns: „Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt.“ Dass wir dieses Elysium jemals betreten werden, ist aber heute so fraglich wie nie. Denn nicht das „Du“, dem wir den geschwisterlichen Kuss anbieten, beherrscht unsere Welt, sondern das „Dieda“. Die Juden, die Islamisten, die Terroristen, die Amerikaner, die Neonazis, die Türken, die Intellektuellen, die Spießer et cetera ad finitum.

[Fortsetzung: Dieda (II).]