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Genieprofil

Wednesday, 11. June 2008

dali

Neulich habe ich mich gefragt, was eigentlich die Prominenz von genialen Menschen ausmacht. Ihre eigentliche himmelstürmende Leistung – oder doch eher die zufälligen Merkwürdigkeiten ihres privaten Erdenlebens? Würden die Auktionshäuser Christie’s und Sotheby’s einen van Gogh zum gleichen Preis anbieten können, wenn sich der Maler nicht sein Ohr abgeschnitten hätte? Dürfte Rainald Goetz die Leser seines Weblogs bei Vanity Fair weiterhin anöden, wenn er sich nicht 1983 in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen mit einer Rasierklinge die Denkerstirn geschlitzt hätte?

Was wäre die Relativitätstheorie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, gleich ob allgemein oder speziell, ohne die weit herausgestreckte Zunge ihres Schöpfers? Und wo bliebe Beuys ohne die Putzfrau, die seine Fettecke in der Düsseldorfer Akademie wegwischend zum Schmutzfleck erklärte? Ist es nicht ein französisches Kleingebäck aus Rührteig, in Tee getunkt, dem allein Marcel Proust die blasse Erinnerung an seine Lebensleistung verdankt? Und imponiert an Franz Kafka irgendetwas mehr als seine testamentarische Verfügung, alle seine unveröffentlichten Werke nach seinem Tod zu vernichten?

Salvador Dalí mochte mit feinstem Pinsel noch so akribische Bilder auf die Leinwand zaubern, hyperrealistisch und zugleich surreal; hätte er nicht sein sehr spezielles Oberlippenbärtchen pomadisiert, wäre er vermutlich nur noch als Epigone des Surrealismus im Gespräch. Und was wüssten die Klassikfans von Glenn Gould, hätte der kanadische Pianist bei seinen Konzertauftritten nicht regelmäßig eine Show mit seinem Klavierstuhl veranstaltet, um sich schließlich – Gipfel spektakulärer Selbstinszenierung – dem Showgeschäft des Konzertrummels vorzeitig konsequent zu verweigern?

Hätte sich Sartre in jungen Jahren die Augen richten lassen, dann hätten ihm vermutlich auch die Ablehnung des Nobelpreises und der Besuch in Stammheim wenig genützt, er wäre heute nur noch bei Insidern der neueren Philosophiegeschichte bekannt. Und hätte Nabokov seinen Skandalroman Lolita nicht geschrieben, dann wäre sein restliches Gesamtwerk kaum weniger lesenswert, sein Bekanntheitsgrad aber vergleichsweise gering, Schmetterlingsfängerei hin oder her.

Immer sehr wirkungsvoll für den langfristigen Bestand in der öffentlichen Wahrnehmung ist ein dramatisches Ende. Rolf Dieter Brinkmanns Unachtsamkeit beim Überqueren einer Straße in London, Jörg Fausers gedankenloser Spaziergang längs der Autobahn, die Doppelselbstmorde der Ehepaare Zweig und Koestler, das einsame Verlöschen des Uwe Johnson in Sheerness on Sea auf der Isle of Sheppey – wenige Beispiele für viele Fälle, wo der selbstdestruktive Exit zum kreativen Input der Marketingabteilungen in den jeweiligen Verlagen wurde. Ich bin zynisch? Ach was, die Verhältnisse sind zynisch. Soll ich mich, beispielsweise, selbst vor laufender Kamera mit der Schlagbohrmaschine trepanieren, damit ihr mein Format erkennt? Ich werde euch was husten. Ihr könnt mich getrost vergessen.