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Eccentrics (VII)

Monday, 23. June 2008

pferd

Etwa bis Mitte der 1970er-Jahre gab es in meiner Heimatstadt Essen ein ortsbekanntes Original, einen großen, dünnen Mann in schäbiger Kleidung, der schnellen Schrittes durch die Straßen lief und mit lauter Stimme den immer gleichen Satz deklamierte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Nie habe ich aus seinem Munde andere als diese fünf Worte gehört. Auf Vorhaltungen – „Schreien Sie doch nicht so!“ – und Fragen – „Ja, und?“ – reagierte er grundsätzlich nicht. Er wirkte völlig entrückt, wie ein fanatischer Missionar, der nur das eine Ziel hatte, öffentlich den Verlust des Pferdes zu beklagen.

Da von dem Exklamator selbst keine Auskünfte über seine Beweggründe erlangt werden konnten, waren hierüber unter den Bürgern der Stadt zahllose Theorien im Umlauf. Manche meinten, er habe in seiner Kindheit von einem Droschkengaul einen Hufschlag vor den Kopf erhalten. Andere waren überzeugt, dass er in seiner Jugend Stallbursche bei Krupp auf Villa Hügel gewesen sei und nach dem Krieg seinen Arbeitsplatz verloren habe. Ich gehörte eher zu jener Fraktion seiner Interpreten, die aus dem Satz einen allgemeinen Protest gegen die zunehmende Automobilisierung der Stadt herausdeuten wollten.

Immer spiegelte sich in den Reaktionen der teils erschreckten, teils belustigten, teils empörten Passanten auf den stereotypen Satz die ganze Vielfalt ihrer Meinungen und Haltungen wider, von freundlichem Mitleid über verstörtes Unverständnis bis hin zu aggressiver Intoleranz. Wer den „Pferdenarren“, wie er auch genannt wurde, schon kannte und von fern heraneilen sah, achtete nicht mehr auf ihn, sondern auf die Nichtsahnenden ringsum und ihr so unterschiedliches Verhalten, wenn er plötzlich losplärrte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Irgendwann verschwand er auf Nimmerwiedersehen. So wenig man über seine Herkunft, sein Leben und den Grund seines exzentrischen Auftretens gewusst hatte, so wenig erfuhr man nun über seinen Verbleib. Ob er gestorben war, um die weite Reise in den Pferdehimmel anzutreten? Immer wieder hatte ich von entrüsteten Zeitgenossen den Satz gehört: „Dass man so was noch nicht weggeschlossen hat!“ Vielleicht hatte man also den harmlosen Mann endlich für den Rest seiner Tage weggeschlossen, wer weiß? Damit es irgendwann zur Beruhigung der Normalen hierzulande heißen kann: „Deutschland hat keine Exzentriker mehr!“