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Eccentrics (VIII)

Friday, 17. October 2008

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Neben dem „Pferdenarren” war viele Jahre lang der „zwitschernde Leierkastenmann” in Essen ein stadtbekanntes Original. Das kleine Männlein saß mit Zylinder und im schwarzen Ledermantel sommers wie winters an der Kettwiger Straße, der ältesten Fußgängerzone Deutschlands. Sein Stammplatz in der kalten Jahreszeit war zwischen zwei Schaufenstern an der Ostseite des Eick-Hauses, im Schutze des Vordaches von Peek & Cloppenburg (heute Ansons). Bei schönem Wetter fand man ihn auch an anderen Stellen der „Kettwiger”, vor Lederwaren Langhardt am Baedeker-Haus etwa oder am Glockenspiel von Uhren Deiter.

Sein treuer Begleiter war ein frecher kleiner Yorkshire-Terrier. Die Musik aus seiner Drehorgel begleitete er mit Gezwitscher, das er durch Vogl-Pfeiferl erzeugte, jene halbmondförmigen Plättchen, die zwischen Zunge und Gaumen gelegt und durch geschickte Atemtechnik in Vibration versetzt werden.

Böse Stimmen behaupteten, jener Herbert Oberländer – so hieß der Mann – sei durch seine Orgelei und Zwitscherei mittlerweile längst zum Millionär geworden. Man wollte beobachtet haben, wie er nach getaner Arbeit, also nach Ladenschluss um halb sieben, sein Musikinstrument in einen Mercedes Kombi einlud, den er im nahe gelegenen Bankenviertel parke, um anschließend mit quietschenden Reifen davonzupreschen.

Irgendwann Ende der 1990er-Jahre war er dann plötzlich verschwunden. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt [siehe Titelbild], nämlich in einem jüngst erschienenen opulenten Bildband zur Geschichte meiner Heimatstadt. (Herbert Westphalen: Essener Bilderbogen 1880-2007. Die Stadt Essen und ihre Geschichte in mehr als 1.200 Ansichtskarten und Fotos. Essen: Klartext Verlag, 2008, S. 118.) Dort erfährt man auch, dass Oberländer 1998 im Alter von 82 Jahren verstorben ist.

Bei dieser Gelegenheit kann ich mir ein paar kritische Bemerkungen zu diesem Buch nicht verkneifen. Erstens ist es leider, was die Bildunterschriften betrifft, sehr schlampig lektoriert; noch deutlicher: Es strotzt vor sprachlichen Fehlern aller Art. Zweitens folgt die Anordnung des Bildmaterials keinem wirklich einleuchtenden Prinzip. Drittens vermisse ich umso mehr ein Register, das wenigstens so die Orientierung in diesem Durcheinander erleichtern würde. Aber alle diese Mängel werden mehr als wettgemacht durch die sensationelle Vielfalt und Originalität der hier überwiegend erstmals, und dazu in tadelloser Druckqualität, veröffentlichten Bilder. Man kann, was das betrifft, durchaus auf mein fachmännisches Urteil vertrauen, denn ich habe zur Bildgeschichte dieser Stadt so ziemlich alles gesammelt, was in den vergangenen Jahrzehnten im Buchhandel erschienen ist. Speziell was das Baedeker-Haus und das Hansa-Haus betrifft, dachte ich eigentlich, alle verfügbaren historischen Bildquellen zu kennen – und wurde durch Westphalens Buch erfreulicherweise eines Besseren belehrt. Wenngleich nicht unbedingt ein ungetrübtes Lesevergnügen, so bietet es somit doch immerhin einen wahren Augenschmaus für jeden am Gestaltwandel dieser Großstadt interessierten Essener.