Plastiktütenplattitüden (I)

mondueberstahlbruecke

Freitag, 8. Februar 2008. – Kein Niederschlag, schwacher Wind aus Süd-Südost, Temperaturen zwischen 1 °C und 9 °C. Punkt acht Uhr geht die Sonne auf, bis kurz nach halb sechs wird sie diesen Tag erhellen. In vielen Büros der Republik gehen die Beschäftigten gemäß gelockertem Dress-Code ihrer Beschäftigung nach: Casual Friday. Oder sie tun mindestens so, als ob sie, völlig unbeeindruckt von den bevorstehenden Wochenendfreuden, nichts anderes im Sinn hätten als am kleinen Rad in der großen Maschine ihres Arbeitgebers mit gut gespielter Emsigkeit zu drehen. Aber auch in Rollkragenpullover und Stone-washed-Jeans sind sie ,immer in innerer Alarmbereitschaft‘ (Wolfgang Neuss). Schließlich wollen sie sich ersparen, bald als Zeitungsverkäufer alle Tage der Woche gemäß gelockertem Dress-Code an der nächsten Straßenecke zu stehen: „Darf ich ihnen eine Obdachlosenzeitung anbieten?“

Wobei mir immer schon das gegen jedes Risiko abgesicherte, von der Geburt bis zum Tod plangemäß sich abspulende Leben weitaus schrecklicher erschien als noch der herbste Absturz. Philip Roth hat in seinem Roman Exit Ghost, dem zehnten Band seines Zuckerman-Zyklus, diesem Typ des selbstzufriedenen Kontrollfreaks in der Figur des Versicherungsanwalts Larry Hollis ein trauriges Denkmal gesetzt. Nachdem der kleine Larry mit zehn Jahren Vollwaise wurde, „entwarf er in seinem Tagebuch einen detaillierten Plan für die Zukunft, an den er sich für den Rest seines Lebens buchstabengetreu hielt; von da an war alles, was er tat, äußerst zielgerichtet.“ (Philip Roth: Exit Ghost. A. d. Am. v. Dirk van Gunsteren. München: Carl Hanser Verlag, 2008, S. 14.) – Brrr! Wie schauderhaft! Jener Larry Hollis, den Nathan Zuckerman als aufdringlich-hilfsbereiten Nachbarn ertragen muss, nervt den alternden Schriftsteller mit den ,abgedroschensten Fragen über das Schreiben‘. Roth lässt eine sehr amüsante Liste folgen, die ich, sollte ich je auf Lesereise gehen, vor jeder Veranstaltung im Publikum verteilen ließe, unter der Überschrift: ,Fragen, die Sie mir in der anschließenden Diskussion nicht stellen dürfen‘: 1. Woher kriegen Sie Ihre Ideen? – 2. Woher wissen Sie, ob eine Idee gut oder schlecht ist? – 3. Woher wissen Sie, ob Sie einen Dialog einsetzen oder eine Situation ohne Dialog beschreiben wollen? – 4. Woher wissen Sie, wann ein Buch fertig ist? – 5. Wonach wählen Sie den ersten Satz aus? – 6. Wonach wählen Sie den Titel aus? – 7. Wonach wählen Sie den letzten Satz aus? – 8. Welches Buch ist Ihr bestes? – 9. Welches Buch ist Ihr schlechtestes? – 10. Mögen Sie Ihre Protagonisten? – 11. Haben Sie je einen Protagonisten umgebracht? – 12. Im Fernsehen hab ich einen Schriftsteller sagen hören, dass die Personen in dem Buch die Führung übernehmen und es selbst schreiben. Stimmt das?‘ (Ebd., S. 15 f.)

Anfang 2008  hat Felicitas von Lovenberg anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung von Exit Ghost dessen Autor im New Yorker Büro seines Agenten Andrew Wylie interviewt. War sie bloß etwas zerstreut, oder hatte sie sich schlecht vorbereitet, jedenfalls stellte sie prompt die leicht abgewandelte Frage 8 aus der Tabuliste: „Haben Sie Lieblingsbücher unter Ihren Büchern?“ Roth war so gnädig, über diesen schlimmen Fauxpas hinwegzusehen, und antwortete völlig unbeeindruckt: „Nein. Wenn ich ein Buch fertiggestellt habe, bin ich durch damit. Auch den Ghostwriter habe ich nicht noch einmal gelesen, nur hineingeschaut, als Exit Ghost fertig war, um sicherzugehen, dass ich die Fakten noch richtig im Kopf hatte. Mein Lieblingsbuch ist insofern immer das, an dem ich gerade sitze.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 28 v. 2. Februar 2008, S. Z6.) Das ist, nebenbei bemerkt, auch die abgdroschenste Antwort, die man auf diese Frage geben kann. – Wie peinlich für Frau von Lovenberg! Müssen wir fürchten, sie demnächst Ecke Avenue B und 18th Street im unfreiwilligen Dauerfreitagsoutfit anzutreffen, ein New Yorker Homeless-Magazine feilbietend? Ach was, die Zeiten sind längst vorbei, in denen man ein Buch noch aufmerksam lesen musste, um sich auf ein solches Interview vorzubereiten.

Die erwähnte Straßenecke beschreibt übrigens kein Geringerer als der nahezu vergessene E. I. Lonoff in einer seiner Kurzgeschichten: „Der ruppige Wind eines zu frühen Herbstes trieb welkes Laub und wild scheppernde Cola-Dosen vor sich her und sammelte die abgenutzten Reste eines zum Tode verurteilte Jahres in den schmutzigen Winkeln dieser Straßenkreuzung. Verloren wartete Boldan auf eine Eingebung, auf das unwahrscheinliche Aufglimmen eines Hoffungsschimmers – und betrachtete dabei eine knisternde hellgrüne Plastiktüte, die sich an einer defekten Neonreklame verfangen hatte.“ (E. I. Lonoff: Short Storys. Vol. IV. New York 1953, S. 23.)

Wie der Zufall will, hat sich vor ein paar Tagen eine solche Plastiktüte im Rotdorn hinter unserem Haus verkrallt. Ein unschöner Anblick. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen durch den ganzen kommenden Frühling und Sommer mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fällt, ist nicht eben erfreulich. Wenn unser Crataegus laevigata, auch ,Paul’s Scarlet‘ genannt, Ende Mai bis Anfang Juni in voller rosafarbener Blüte steht, wird die Tüte besonders unangenehm ins Auge fallen. Hat vielleicht jemand leihweise ein dressiertes Äffchen anzubieten, das uns von diesem blassgrünen Plagegeist befreit? Ich würde mich mit einem signierten Exemplar von Roths The Ghostwriter (1979) revanchieren, Band zwei des Zuckerman-Zyklus, in bester Erhaltung.

[Dieses Posting erschien zuerst am 8. Februar 2008 bei Westropolis als XI. Folge meiner Serie Jourmal intime unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008. Es wurde für die Neuaufnahme in mein Revierflaneur-Blog geringfügig überarbeitet, ergänzt, gekürzt und korrigiert.]

2 Responses to “Plastiktütenplattitüden (I)”

  1. Kelli N. Charles Says:

    Doch bevor Sie mit Ihrer Recherche beginnen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um folgende Frage zu beantworten: Auf wessen Rat würden Sie hören? Es gibt drei Typen von “Autoren zum Thema”: jene, die nie etwas damit zu tun hatten; jene, die damit zu tun hatten und gescheitert sind; und jene, die damit zu tun hatten und erfolgreich damit waren oder sind. (Anmerkung: Ich benutze das Wort “Autor” sowohl in Bezug auf gesprochene wie auch geschriebene Kommunikation.) Dieses Problem vervielfacht sich, wenn ein Autor einfach wiederholt, was er aus den Medien bereits gehört hat; weil ein Teil des Gegenstands ein komplettes Mysterium für den Autor bleibt und er sich unzulänglich fühlt.

  2. Revierflaneur Says:

    Ich weiß nicht, welchem Zufallsgenerator zu verdanken ist, dass dieser Kommentar ausgerechnet zu jenem Posting abgegeben wurde. Einen direkten Bezug zu meiner Story mit Philip Roth, Nathan Zuckerman, Felicitas von Lovenberg, einem Rotdorn und einer grünen Plastiktüte kann ich jedenfalls nicht ausmachen. Einige Eigenheiten im Originalkommentar von Kelli N. Charles wie z. B. fehlende Umlaut-Zeichen weisen darauf hin, dass der Autor aus dem englischsprachigen Raum stammt. Die Verlinkung unter seinem Namen führt zum Weblog des dubiosen Klimaskeptikers Dave Middleton, das den regen Zuspruch jener Unbelehrbaren findet, die immer für alle Scheinargumente zugänglich sind, wenn sie ihnen nur gestatten, unerträgliche Wahrheiten mit viel Fleiß in Irrtümer umzudeuten, damit sie wieder ruhig schlafen können und ihre Lebensweise nicht infrage stellen müssen. – Vielleicht hat bloß das Wörtchen “Plastiktüte” diesen Irrgeist angezogen?

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