Auch ich, auch du.

Als 75. Band der berühmten expressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tag erschienen 1919 im Verlag Kurt Wolff in Leipzig Hans Siemsens „Aufzeichnungen eines Irren” unter dem Titel Auch ich, auch du. Heinz Schöffler hat 1970 alle 86 Hefte dieser Reihe, mustergültig kommentiert und im Faksimile gedruckt, in zwei dicken Bänden im Scheffler-Verlag neu herausgegeben; 1981 erschien ein Nachdruck in sieben Bänden im Societäts-Verlag (beide in Frankfurt am Main).

Dass das Erstlingswerk des 28-jährigen Siemsen in dieser „Bücherei einer Epoche” erschien, neben den Büchern so bedeutender Dichter und Schriftsteller wie Gottfried Benn, Karel Čapek, Paul Claudel, Iwan Goll, Franz Kafka, Carl Sternheim, Georg Trakl und Franz Werfel, das dürfte der hoffnungsvolle junge Autor sicher als eine starke Ermutigung empfunden haben, künftig das Schreiben zu seinem Hauptberuf zu machen.

Auf den knapp zwanzig Seiten des Bändchens, in diesen „Phantasien eines am Krieg irre gewordenen Frontsoldaten” (Michael Föster), verarbeitet Hans Siemsen seine Kriegserlebnisse als Soldat an der Westfront 1917, die durch Feldpostbriefe an seine Mutter und seine neun Jahre ältere Schwester Anna dokumentiert sind. Im Schützengraben las er die Pensées von Pascal, die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann, Flauberts November, Eckermanns Gespräche mit Goethe, Kasimir Edschmids Novellensammlung Timur (die er „albern” fand), den Hasenroman von Francis Jammes, Professor Unrat von Heinrich Mann, Das grüne Gesicht von Gustav Meyrink (eine „Enttäuschung” nach dessen Golem) sowie Romane von Fielding und Balzac. – Vor allem aber las er, offenbar hingerissen und überwältigt, den Tristram Shandy und urteilte: „Welch ein Buch! Ich bin so stolz darauf, als ob ich es selbst geschrieben hätte. Es ist mein Bißchen Begabung zur Vollendung erhoben – aber wir sind durchaus von derselben Familie – und es ist verdammt ein glorioses Gefühl, solche Verwandte zu haben!” (Undatierter Brief an die Mutter; zit. nach Schriften III. Briefe von und an Hans Siemsen. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 26.)

Jenes „Bißchen Begabung” und die behauptete Familienzugehörigkeit gab zu den gewagtesten Hoffnungen Anlass, die durch Auch ich, auch du dann allerdings leider nicht eingelöst wurden. Vielmehr schmiegt sich Siemsens Prosa an den 1919 schon wieder modischen Stakkato-Ton der Expressionisten an: „Namenlos bin ich genannt. / Namenlos irr ich von Land zu Land. / Namenlos elend. / Namenlos tot. / Einmal hatte ich einen Namen. Wie lange ist das her? / Weiß Gott! Wie oft bin ich seit dem gestorben!” Der junge Poet beginnt seine schriftstellerische Laufbahn als Epigone.

Aber ein solches Urteil, über fast ein Jahrhundert hinweg, ist doch andererseits auch wieder eine Anmaßung. Aus der warmen Stube, nach mehr als sechzig Jahren Frieden zumindest hierorts, lässt sich leicht die Nase rümpfen. Wir wissen ja gar nicht, wie gut es uns geht. Ich habe noch in keinem Schützengraben gelegen. Ich kenne den Wald nicht, von dem Siemsen schreibt: „Ich will lieber in unsern Sterbewald! Da warten auf mich, daß ich komme, die lieben Brüder. Ich habe sie so lieb gehabt. Ich habe sie so von Herzen lieb.” Ich habe keine Brüder. Und ich kenne den Krieg bisher nur vom Hörensagen.

3 Responses to “Auch ich, auch du.”

  1. Günter Landsberger Says:

    “Der junge Poet beginnt seine schriftstellerische Laufbahn als Epigone.”

    Ist das nicht fast die Regel? Beginnen nicht fast alle Schriftsteller … als Epigonen, oft sogar die später ganz großen?

  2. Revierflaneur Says:

    Das mag für die Literaturgeschichte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts seine Gültigkeit haben. Die mit allen Konventionen und Traditionen brechenden literarischen Strömungen des 20. Jahrhunderts – wie Dadaismus, Futurismus, Surrealismus, Konkrete Poesie, Absurdes Theater und eben auch schon der hier in Rede stehende Expressionismus – waren in ihrer Voraussetzungslosigkeit so radikal anders und traten mit einer solchen Unmittelbarkeit in Erscheinung, dass bei ihren “Erfindern” oft keine allmähliche Entwicklung aus älteren Vorbildern erkennbar ist. Hugo Ball oder August Stramm kamen quasi aus dem Nichts mit ihrer provokativen, nie zuvor gehörten Poesie. Und wenn man ein paar Jahre später einen solchen Tonfall und solche Stilmittel bloß aufgreift und dabei noch hinter ihrer Radikalität zurückbleibt, wie Hans Siemsen mit seinem “Auch ich, auch Du”, dann fällt man insofern aus der damals modernen Zeit, als man der Forderung nach einer absoluten Individualität und Originalität nicht gerecht wird. Das war es, was ich zur Bewertung des Siemsenschen Erstlings anmerken wollte. Und bezeichnenderweise hat er sich von dieser Schreibweise, die ihm wesensmäßig völlig fremd war, sehr bald abgewandt.

  3. Günter Landsberger Says:

    Wenn man mit Konventionen bewusst bricht, muss man die Konventionen kennen. Ich glaube nicht so ganz an diese Nullpunkttheorie. Obwohl es Ausnahmen geben wird.

    Das Einfachste wäre es, diese Vorformen unauffindbar zu vernichten, um den absoluten Bruch und Neuanfang zu suggerieren. Bei Rilke wäre es z. B. manchmal besser gewesen, wenn er sein Erstes und Allererstes nicht zugänglich gelassen hätte.

    Schau Dir aber auch die Anfänge der Lyrik Georg Trakls an, der doch auch als Expressionist “eingeordnet” wird.

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