Glück und Pech

Heute las ich zum zweiten Mal bei „Generationen betrachten“ in Oberhausen. Knapp zwanzig Zuhörer, darunter nur drei oder vier Männer. Die Kundenzahlen in den Buchhandlungen, wo zwei Drittel der Romanleser Leserinnen sind, weisen in die gleiche Richtung: Die kulturelle Schwindsucht breitet sich vom maskulinen Rand des Humanen her aus. Auch insofern bin ich mal wieder eine der Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Etwas mulmig ist mir dabei schon vor diesen Damenkränzchen.

Immerhin freut mich, dass ich es offenbar nicht allen recht machen konnte, sonst hätte ich an mir selbst zweifeln müssen: Vier Besucherinnen verabschiedeten sich unter vernehmbaren Missfallenskundgebungen in der Pause. Ich würde zu viel reden und zu wenig lesen, sowas stelle man sich doch nicht unter „Vorleseabend“ vor. Und dafür acht Euro Eintritt! Das passte nun allerdings so zauberhaft zu Johann Peter Hebels Kalendergeschichte vom Seltsamen Spazierritt, die ich eingangs zum Besten gegeben hatte, dass ich mit einem Schmunzeln zur Tagesordnung übergehen und meinen letzten Programmpunkt, Hans Carl Artmanns zotige Geschichte How much, schatzi?, vom Leder ziehen konnte.

Ich hatte die Veranstaltung unter den Titel „Glück im Unglück“ gestellt, als mir noch kein Schimmer aufgegangen war, was ich lesen würde. Tatsächlich verlegte ich mich bei der Textauswahl dann auf meine brandaktuellen Favoriten respektive Neuentdeckungen: Emmanuel Bove (durch Harald Wiesers Vermittlung in Menschen und Masken), Gisela Elsners Schrauben-Text (leicht gekürzt) und Was ist denn? von Raymond Carver. Gern hätte ich auch aus dem Krimi der Bovenschen gelesen, aber welches der fünfzig kurzen Kapitelchen hätte ich da auswählen sollen? Nein, dieser Roman wirkt nur als ein Ganzes. Immerhin habe ich die distinguierte Dame ausführlich vorgestellt und hoffe, dass es mir gelungen ist, die eine oder andere Zuhörerin für Silvia Bovenschen in toto zu interessieren.

Auf der Hinfahrt mit Bus und Bahn kämpfte ich immer noch gegen eine hartnäckige Art von Kopfschmerz, die mich schon seit zwei Tagen belästigte, vermutlich witterungsbedingt, denn nach ein paar winterlich kalten Tagen hatte es sich plötzlich wieder erwärmt. Nachdem ich mein Gepäck im Veranstaltungsraum an der Goebenstraße abgeladen hatte, blieb noch etwas Zeit und ich ging an die frische Luft. Nur wenige Schritte entfernt entdeckte ich den Altmarkt mit seiner Siegessäule. In stiller Zwiesprache mit der freundlichen Nike über mir [s. Titelbild] löste sich mein Kopfgrimmen in Rauch auf und verschwand mit den vorbeiziehenden Wolken hinterm Horizont.

Wie üblich trug mich dann mein frei assoziiertes Geplauder durch den Abend wie ein gut aufgepumptes Schlauchboot. Anschließend auf der ungemütlichen Heimfahrt, mit Besoffenen und streitlustigen Raufbolden in einem Abteil, graue Melancholie. Auch das wie üblich. Alles Sinnen und Trachten liegt ja dazwischen: hier der goldene Kranz der Siegesgöttin weit über unseren wehen Häupten, dort das lakritzig-klebrige Pech, von Aasvögeln erbrochen, in der Gosse zu unseren wunden Füßen.