Mehr oder weniger

Dass die Informationsflut in einem durch Landflucht der Intelligenz, Zensur und Papierknappheit ausgedörrten Land als vom Himmel der Demokratie gesandter Segen empfunden wird, das konnten wir im Westen Deutschlands nach 1945 erfahren, und nach 1989 noch einmal in dessen Osten. Dass diese Flut aber auch zu einem Problem werden kann, wenn nämlich jede Übersicht verlorengeht und das ununterscheidbare Einerlei von „Fakten, Fakten, Fakten“ (Helmut Markwort vom Magazin Focus) keinen klaren Gedanken mehr ermöglicht, schon erst recht keine Meinungsbildung zur Vorbereitung einer Handlungsentscheidung, das ist den kritischen Beobachtern der Entwicklung unserer Informationsgesellschaft auch nicht verborgen geblieben.

Mein Bedürfnis als Empfänger und Nutzer von Informationen ist in dieser Situation, mit einem qualitativ hochwertigen Input versorgt zu werden. Er muss mein jeweiliges Erkenntnis- oder Erlebnisinteresse so schnell, so gründlich und so richtig wie möglich befriedigen. (Die Unterscheidung von Erkenntnis und Erlebnis führe ich hier mit Bedacht ein, um bewusst zu halten, dass in den medialen Kanälen ja nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung transportiert wird, wobei beides – Stichwort: Infotainment – ineinander übergehen kann.) Um diesem Anspruch zu genügen, gilt es seitens des Lieferanten eine ganze Reihe hergebrachter Kriterien zu erfüllen, von denen einige präzise bestimmt sind (zum Beispiel die Rechtschreibung oder die Überprüfbarkeit von Tatsachenbehauptungen durch nachvollziehbare Quellenangaben), andere immerhin noch mit Vorbehalt von Ermessensspielräumen einigermaßen verbindlich bewertet werden können (wie etwa ein dem Thema adäquater Stil oder eine transparente Struktur des Textes). Als Leser habe ich mit der Zeit verschiedene Methoden zur schnellen Abschätzung der Qualität von Texten entwickelt. So weiß ich, dass ich einer Nachricht in der Süddeutschen Zeitung eher vertrauen kann als einer in BILD. Ich weiß, dass mein persönliches Unterhaltungsbedürfnis im Deutschlandfunk besser befriedigt wird als bei Radio Essen. Und im Internet vertraue ich einem Artikel in Wikipedia eher als einer anonymen Meinung in einem Webforum.

Und jetzt wird’s langsam spannend. Denn in den beiden ersten Fällen (Presse und Rundfunk) leite ich meine Einschätzung aus einer allgemeinen Bewertung der jeweiligen Quelle ab. Das funktioniert im Internet noch bei Wikipedia, wo mich fachkundige Urteile und eigene Erfahrungen mittlerweile dazu gebracht haben, auf die Nutzung meiner Printlexika nahezu ganz zu verzichten. Aber die große bunte Welt der Foren ist so unübersichtlich und unspezifisch, dass eine Orientierung auf gewohnte Weise unmöglich ist. Hier muss ich mich auf mein eigenes, notwendig flüchtiges Urteil verlassen, indem ich beispielsweise schon aus der Artikulationsfähigkeit eines Autors darauf schließe, wes Geistes Kind er ist. Dass sich hier Fehlbewertungen einschleichen können, sei unbenommen. Aber man wird sehr viel Zeit (und möglicherweise sogar Geld) verlieren, wenn man jedem sekundären Analphabeten vertraut, der im Schutze seiner Anonymität Unsinn stammelt, etwa ein todsicheres Lottosystem zu verkaufen sucht. Solche kriminellen Angebote sollten im Internet sogar ganz unterbunden werden, wenn es denn irgend möglich ist, denn die Meinungsfreiheit findet eben genau da Grenzen, wo sie zu verbrecherischen Zwecken missbraucht wird.

Dies alles rufe ich in Erinnerung, weil ich in den letzten Tagen gleich zweimal über vermutlich gut gemeinte Freiheitskredos gestolpert bin, deren Naivität mich zu energischem Widerspruch reizt. So schreibt ein unbekannter Freund von Wiki-Waste im Kommentar zu meinem Beitrag über das Relevanz-Gebot bei Wikipedia: „Selbst der primitivste Artikel bei Wiki-Waste ist besser als der Artikel, den es gar nicht gibt. Jeder Wiki-Waste-Artikel ist der beste Wiki-Waste-Artikel zum jeweiligen Thema. Und zwar so lange, bis dieser Artikel von jemandem noch besser gemacht wird. (So ähnlich wie Persil.)“ Wenn dies so wäre, könnte man auch sagen: ,Jede Aussage zu etwas ist besser als keine Aussage. Auch eine falsche Aussage ist besser als keine. Und zwar deshalb, weil sie ja berichtigt werden kann.‘ Wenn das so ist, dann würde ich in einem Wiki-Artikel über Arsen erläutern, dass es sich beim Giftverdacht gegen diese Substanz um ein reines Vorurteil handelt. Die bis zur Korrektur des Artikels angefallenen Leichen hätte dann unser anonymer Freiheitskämpfer zu verantworten. Prinzipell und ernsthaft will ich zu der gegenwärtigen Relevanz-Diskussion um Wikipedia aber noch sagen, dass dieses Schmuckstück im Internet seine mühsam errungene Reputation und Glaubwürdigkeit augenblicklich wieder verlieren würde, wenn es Artikel wie die in Wiki-Waste aufbewahrten zuließe.

Ich hätte hierüber nicht erneut geschrieben, wenn mir nicht eine zweite Textstelle zum gleichen Thema, diesmal aus vermeintlich seriöserer Quelle, den Anlass dazu gegeben hätte. Dort heißt es: „Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information. – Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen – sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Nachzulesen ist dieser historische Beweis für die Legitimation zur massenhaften Erzeugung und weltweiten Verbreitung von Datenmüll in einem Internet-Manifest, das 15 Webautoren Anfang September in einem neuen Netzpolitikwiki online gestellt haben. Ich kann auch solch holzschnittartige Argumentationen bloß mit gleicher Münze heimzahlen, zu mehr gebricht es mir an Zeit und guter Laune. Darum dies hier: Mundus vult decipi, „die Welt will betrogen sein“, wie schon der Kardinal Carlo Caraffa Mitte des 16. Jahrhunderts treffend bemerkte. In dieser nicht allzu fernen Zeit besorgten die Betrügerei noch die Mächtigen, heuer hat man es aller Welt selbst überlassen, sich gegenseitig zu betrügen und sich in den Netzen der Unübersichtlichkeit zu verfangen, im World Wide Web. Daran hat sich also doch etwas geändert. (Bezeichnend übrigens, dass einer der wenigen beredten Kritiker des Manifests ein Blogger ist, der sich das Ringen um klare und verständliche Sprache zur Aufgabe gemacht hat.)

2 Responses to “Mehr oder weniger”

  1. Anthoney Says:

    Typischerweise sollten Einträge in einem Artikel korrekt sein. Wenn es bekannt ist, dass sie falsch sind, so wäre es unverantwortlich sie stehen zu lassen.

    Ferner glaube ich zunächst mal an das Gute im Menschen.
    Ich glaube kaum, dass das Gros der Autoren die Leser in die Irre führen möchte.

    Nicht jeder Artikel bei Wiki-Waste hat seinen Platz bei der Wikipedia. Das ist zweifelsohne so und das bestreitet auch keiner.
    Und wäre es so hätte Wiki-Waste überhaupt keine Daseinsberechtigung.

    So gibt es den Aspekt, dass sich ein jeder eine Meinung bilden kann: Was stand in dem “irrelevanten” Artikel überhaupt drin.

    http://www.wiki-waste.de/index.php/Kategorie:Wikipedia_Blamage enthält eben genau solche Artikel, die grenzwertig sind oder nicht hätten gelöscht werden dürfen.

  2. Revierflaneur Says:

    Das ist mir ja mal eine sehr sympathische Nachteule, die sich da zu so früher Stunde in einer gewiss nicht ganz irrelevanten Frage zu Worte meldet.

    Machen wir uns nichts vor, es ist doch immer die gleiche Bredouille, in der wir mit der Fußspitze an der Bahnsteigkante stehen und sagen müssen: Daumen rauf oder runter? Die Wikipedia ist so relevant, dass selbst die irrelevantesten Artikel-Versuche an den allerletzten Ausläufern ihres Rocksaums noch ein Relevanz-Bröckelchen abbekommen können, und sei’s nur darum, um eben das zu beweisen.

    Einen unüberbrückbaren Dissenz haben wir, liebe Anthoney, bei aller harmonieseligen Übereinkunft aber doch: Ich glaube, dass das Gros der Autoren die Leser in die Irre führt. (Allerdings unwillentlich.)

    Aber das nur nebenbei. Gute Nacht!

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